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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Ein Haibun oder das Herzzerreißende der Dinge

Illustration: Eine Person mit weit geöffnetem Mund, von dort eine gewundene Linie an deren Ende sich eine Hand mit gestrecktem Zeigefinger befindet
Haiku-Kissen, die zu besingenden Orte | © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Während seiner Japanreise lernt Jan Snela nicht nur faszinierende Orte kennen, sondern auch spezielle Literaturformen. Eine Sprachkolumnenfolge über die Anziehungskraft von Haiku-Kissen und die Fluffigkeit von Haibuns.

Von Jan Snela

„Ein Haibun.“ „Ein bitte was?“ „Ein Haibun.“ Wie oft hab ich diese Gattung in letzter Zeit definiert! West-östlicher Diwan mit Flecken von Kippen und Bier. Mit gedehnten „Okees“ parierte, nerdige Reden. Als referierte ich Orchideen oder pitchte die wunderlichen Eigenschaften der Schlundsackschnecke Elysia Marginata  ins Partywummern. Aber wenn man mich nun einmal fragt.

Ein nahezu kahler Baum vor einer Wand Orte zum Besingen – Tokio | Foto: Jan Snela Wie vor einer Sekunde erst, im Krankenhaus, wo ich gerade liege, die Narkoseschwester.  Sie hat Haare auf den Zähnen aber ein goldenes Herz. Sie macht ein klein wenig einen auf Todesengel, aber die Kanüle setzt sie mir nur fürs freundliche Gift. „Schriftsteller? Ah, na dann! Haben Sie ja jetzt was zu erzählen.“ Während sie mich wie eine einzuschläfernde Kuh für den Veterinär bereit macht, fragt sie mich, woran ich gerade schreibe. „Ach! Ein Haibun!“ Genau. Das sind – hier endlich die Erklärung – wirklich kurze, super dichte und trotzdem fluffige Texte von Haiku-Dichter*innen. Haikus, das sind japanische Kurzgedichte. „Kennen Sie Bashō?“ Der Azubi im Aufwachraum schüttelt den Kopf. „Könnten Sie mir mit bitte mein iPad bringen? Ich habe zu arbeiten.“ Here we go.

Bashōs Reiseprosa

Detailaufnahme, von Kabelstücken umwunden, mit einem Fetzen Markisenstoff Orte zum Besingen – Nara | Foto: Jan Snela Dass ich während meiner Japanreise in Begleitung eines zu großen und schweren Koffers nicht eben auf schmalen Pfaden ins Hinterland unterwegs war, habe ich beim letzten Mal bereits angedeutet. Aber noch nicht, dass Bashō unter diesem Abenteuer versprechenden Titel (japanisch: 奥の細道 – Oku no Hosomichi) eine Sammlung von Haibun notiert hat. (Haibun = dichte, fluffige Prosa von Haiku-Dichtern*innen. Aber jetzt wissen Sie ja schon Bescheid!)

Grabsteine unter einem kahlen Baum, im Hintergrund Hochhäuser Orte zum Besingen – Friedhof in Aoyama | Foto: Jan Snela In dieser Sammlung von Reiseberichten beschreibt der Vater des Haiku seine Wege zu den diversen „Haiku-Kissen“ – das sind Orte, die das Besingen lohnen. Entweder, weil andere (Saigyō & co) sie schon besungen haben, oder weil sich dort, wenn ich mich richtig erinnere, eine Dämonin in einen weinenden Stein verwandeln musste – im Dienst der Mythologie. In seinen diversen Haibun beschreibt Bashō die Wanderungen mit seinem Haiku-Dichterfreund Sora von Ort zu Ort. Und die flüchtigen Aufenthalte. Ein Haiku beschließt jeweils den resonant kurzen Haibun, zu dem es sich meistens ein wenig verhält wie die Perle zur Muschel. Im Beat der Gezeiten zwischen Stille und Wort. Bashō hat die Haikus auf die Jahrhunderte ihres Bestehens als Form mit einem Sinn für den Augenblick ausgestattet. Für die Vergänglichkeit und das – ob dieser Vergänglichkeit – „Herzzerreißende der Dinge“ („Mono no aware“ – 物の哀れ). Und mit Humor.

Lobgesang für spezielle Orte

Handgeschriebene Zahlen und Worte Notizen im Postamt | Foto: Jan Snela Ich selbst fand meine „Haiku-Kissen“, also die Orte, die nach Beschreibung schrieen, inmitten von Tokios Gewirr. Im Postamt nahe der Shimbashi Station, von wo aus ich einen Brief per Einschreiben verschicken musste. Faszinierend: die Übersetzungs-Gadgets, die gegenderte Hierarchie, ablesbar an den bienenfleißigen Sachbearbeiterinnen in erster Reihe und den dahinter an Schreibtischen postierter, bei Fragen zu konsultierender Herren.

verschiedene Produkte auf einem Tisch, schreibende Hände Star-Wars-Puppen und Cracker | Foto: Jan Snela Erhellend: die Widerlegung des so geronnenen Bilds in einem anderen Postamt. Dort assistierte mir ein liebenswürdiger, älterer Mann anderthalb Stunden (!) lang ohne Mucken und Murren bei der Versendung einiger Tüten Cracker & Co und zweier in einem Laden im Hipsterviertel Daikanyamachō gekaufter Star-Wars-Puppen. (Japanische Websites weisen zwar in der Regel einen Button für eine „English Version“ auf, werfen eine*n aber bei deren ersten Betätigung oft gnadenlos zurück ins Flimmern der japanischen Schriften Kanji und Kana.)

Ich fand meine Haiku-Kissen an Touristenhotspots wie der Aussichtsplattform des Rathauses von Shinyuku (45th floor) oder auf dem Friedhof in Aoyama. Überm suspekten Gedärm einer mich mit ihren delikatessendeftigen Preisen erstaunenden Suppenküche, als deren einziger europäischer Gast.

Von Kyoto ins Krankenzimmer

Blick aus größerer Höhe durch ein Fenster auf eine endlos wirkende Stadtlandschaft, im Vordergrund ein Plüschtier (Muas oder Ratte?) von hinten Aussichtsplatform des Rathauses von Shinyoku | Foto: Jan Snela Gereist bin ich letztlich auch. Zwar nicht wie Bashō „auf schmalen Pfaden“ und in die Hinterwälder des hohen Nordens. Mit schwerem Koffer jedoch. Ins San'un Zendo, dem Hauptsitz der Zen-Schule  Sanbôzen in Kamakura. Ins so prunkvolle wie abgehalfterte Städtchen Nara. Zu Junya und Kumiko in die Präfektur Kochi. Nach Kyoto, natürlich, mit seinen Kimono-Kids und Sakura – japanische Kirschblüte in aller Fülle. In Hiroshimas zerreißendes Herz.

Much stuff to be told. Aber hier in Zimmer 30 auf Station 4B, in das ich inzwischen geschoben wurde, gibt es jetzt erst einmal Abendessen. Der Azubi bringt mir Käse und Brot. Beide wirken irgendwie herzzerreißend. O wie schmeckt mir der Tee!
 

Sprechstunde – Die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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