Zwei Sachbücher über globale Auswirkungen des Technologiewandels
Digital ist besser?

Hand an Computermaus
Clickworking ist eine sehr belastende Tätigkeit. Oft wird sie in Länder des "Globalen Südens" ausgelagert. | Foto (Detail): © picture alliance / Godong | Philippe Lissac

Alle sprechen derzeit über das transformative Potenzial digitaler Technologien. Auch die Jury des Deutschen Sachbuch-Preises 2025 hatte zwei Titel nominiert, die sich mit dem Einfluss des technologischen Wandels auf unsere Gesellschaft befassen. Beide offenbaren Schattenseiten sowie Hoffnungsschimmer.

Von Hendrik Nolde

Ist die Rede von der „digitalen Revolution“, werden in den Medien seit Jahrzehnten oft die gleichen stereotypen Erfolgsgeschichten bemüht: Geniale junge Männer tüfteln in der elterlichen Garage an der nächsten millionenschweren Idee, oder junge Menschen sitzen in hypermodernen Büros auf Sitzsäcken und lassen ihrer Kreativität freien Lauf. Ingo Dachwitz und Sven Hilbig wollten diese eurozentrischen Klischees über die Wirkungsweisen der modernen Tech-Industrie in Frage stellen. In Digitaler Kolonialismus erzählen sie von den Schattenseiten des Geschäfts mit der Digitalisierung. Sie machen darauf aufmerksam, wie globale Abhängigkeitsverhältnisse aus der Kolonialzeit in der Ära von Künstlicher Intelligenz und Quantencomputing weiterwirken.

Im Mittelpunkt des Buches mit dem dystopischen Untertitel „Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“, steht der sogenannte „Globale Süden“ und dessen Rolle in der Wertschöpfungskette der Digitalindustrie. Millionen von Menschen in Afrika, Lateinamerika und Teilen Asiens sorgen mit ihrer manuellen Arbeitskraft täglich dafür, dass moderne Technologien funktionieren. Die meisten von ihnen leben in äußerst prekären Verhältnissen; ihr Alltag ist geprägt von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, schlechter Bezahlung und permanenter Unsicherheit aufgrund fehlender Krankenversicherung und Altersvorsorge. Diese „unsichtbare Armee der Datenarbeiter*innen“ ist für große Tech-Konzerne unverzichtbar. Ihre Rolle wird jedoch verleugnet, indem der öffentliche Blick zumeist auf westliche Firmensitze wie das kalifornische Silicon Valley gelenkt wird.

Cover Dachwitz Hilbig © C.H. Beck Verlag

Maßnahmen gegen die Dauerbelastung

Dachwitz und Hilbig haben mit den Personen gesprochen, deren „Geisterarbeit“ die Fortschrittserzählung der Digitalunternehmen überhaupt erst ermöglicht. Eindringlich berichten Protagonisten wie William aus Nairobi von den traumatisierenden Tätigkeiten, die notwendig sind, um KI-Systeme zu trainieren oder Social Media-Plattformen zu moderieren. Die psychische Belastung ist enorm: Alltäglich sind „Clickworker*innen“ mit den größten Schrecken des Internets konfrontiert. Im Sekundentakt müssen sie aufgrund straffer Quotenvorgaben digitale Inhalte bewerten, darunter Hassrede, Pornografie und Gewaltdarstellungen. „Zwischenzeitlich habe ich meinen Glauben an die Menschheit verloren“, berichtet William im Interview. Dennoch hat sich der junge Kenianer dazu entschlossen, die Initiative zu ergreifen und sich gemeinsam mit Kolleg*innen zu organisieren. Der Bericht über den im Entstehen begriffenen Arbeitskampf und die damit verbundene, weltweite Solidarität gehören zu den wenigen Hoffnungsschimmern der Erzählung.

Ein leiser Hauch von Hoffnung

Denn auch bei weiteren Themen des Buches handelt es sich nicht um leichte Kost. Es geht um den Datenreichtum der Großkonzerne, der diesen eine ungeahnte Macht verleiht, und um die ungleiche Ausbeutung von Ressourcen, die insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent koloniale Züge trägt. Kobalt und Lithium sind für die Digitalindustrie unabdingbar, doch rohstoffreiche Länder wie die Demokratische Republik Kongo profitieren kaum von ihrem Abbau. Stattdessen leidet die Bevölkerung unter den sozialen und umweltlichen Folgen der Schwerindustrie, während große Profite anderswo erzielt werden. Auch die Gefahren von Zensur, Überwachung und staatlicher Kontrolle mit Hilfe digitaler Technologien werden thematisiert, ebenso wie die ambivalente Rolle Europas. Das inszeniert sich gerne als Schützer von Menschenrechten im digitalen Raum, kann sich den moralisch fragwürdigen Zwängen im globalen Wettlauf um digitale Hegemonie jedoch nicht entziehen.

Dachwitz und Hilbing präsentieren mit ihrem Buch eine „Analyse und Anklage des digitalen Kolonialismus, keine Anleitung zum Widerstand“. Dennoch erhoffen sich die Autoren von der Lektüre einen Denkanstoß zum Hinterfragen eigener Verhaltensweisen im digitalen Raum, der Leser*innen eine „Grundlage für informiertes Handeln“ bieten soll. Im Nachwort der guatemaltekischen Digitalaktivistin Renata Ávila Pinto schimmert schließlich ein Hauch von Utopie durch. Es steht unter dem Motto „Eine Zukunft ohne Big Tech liegt näher als wir denken“ und zeichnet ein Bild des Jahres 2050, das von Solidarität, Kreativität und Menschlichkeit im digitalen Raum geprägt ist.

Harmonie ist eine Utopie

Mit Zukunftsvorstellungen beschäftigt sich auch Martina Heßler in Sisyphos im Maschinenraum. Allerdings geht es der Autorin primär darum, den jahrhundertealten Mythos der Unfehlbarkeit von Technologie in Frage zu stellen. Dieser wird insbesondere von Tech-Milliardären in jüngster Vergangenheit gerne aufgegriffen, um ihre Produkte bestmöglich zu platzieren. Die Vielzahl „gegenwärtig kolportierter KI-Versprechen“ steht dabei nicht im Zentrum der Erzählung, bildet aber eine allgegenwärtige Folie, vor der Heßler eine ausführliche Geschichte der Doppelfigur aus perfekter Maschine und fehlerhaftem Menschen ausbreitet, die sich bis zur Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Angetrieben von Effizienzdenken und Fortschrittsglauben, geriet die Vorstellung der Überlegenheit von Maschinen über die Jahrhunderte „zu einer Selbstverständlichkeit, die unbedacht reproduziert und vervielfältigt und damit enorm wirkmächtig wurde“.

Die Autorin beleuchtet das Verhältnis zwischen Menschen und verschiedenen Maschinen: von der Fabrik über das Automobil bis hin zu Lügendetektor und Computer. Für die moderne Welt stellt sie eine „Endlosspirale der Technisierung“ fest, da Menschen immer komplexere Technologien entwickeln, die sie wie Sisyphos in der antiken Mythologie vor eine niemals endende Aufgabe stellen: die Wartung und Weiterentwicklung von Maschinen. Der moderne Maschinenraum, in dem wir alle dank der permanenten Anwesenheit von Technologie in unserem Alltag leben, hat dabei endgültig mit der Vorstellung aufgeräumt, dass der Mensch der vermeintlichen Perfektion der Maschine unterlegen ist. „Neue Technik lässt, zugespitzt ausgedrückt, die Menschen erst einmal dumm aussehen“, in der Regel lernen sie aber dazu und sind den Maschinen in ihrer Fehlerhaftigkeit gar nicht so unähnlich wie man vermuten könnte. Fehler entstehen in der Interaktion von Menschen und Maschinen – folglich werden sie Teil jeglicher, noch so technisierter Zukunft bleiben.

Cover Heßler © C.H. Beck Verlag

 

Pure Vernunft darf niemals siegen

Die Stärke von Heßlers Buch, das den Untertitel „Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ trägt, ist seine historische Tiefe. Dennoch sind im Diskurs um die Fehlbarkeit von KI die tagesaktuellen Passagen von besonderer Bedeutung. Wie im Vorbeigehen liefert die Autorin zunächst verständliche Erklärungen der Funktionsweise von Chatbots und Sprachmodellen, um im Anschluss auf die mannigfaltigen Unzulänglichkeiten einzugehen, die diesen immer noch anhaften. Themenkomplexe wie KI und Bias, halluzinierende KI und die Entgleisungen von bösartigen Chatbots werden thematisiert. Am wichtigsten ist jedoch die Erkenntnis, dass die zuweilen hysterisch geführte Debatte um den Einfluss von KI auf unser Zusammenleben im Kern auf das alte Phänomen vom Glauben an die Perfektionierung der Welt durch Maschinen zurückzuführen ist. „Immer wieder überfrachten Menschen die Maschinen mit ihren Erwartungen, so auch heute die KI, die diesen Erwartungen nicht gerecht werden kann.“

Am Ende kommt Heßler zu einem versöhnlichen, weil pragmatischen Fazit: „Weder Mensch noch Maschine sind perfekt, aber gemeinsam bewältigen sie die komplexe Welt, sodass es, so könnte man sagen ‚okay‘ ist.“ Wir müssen uns Sisyphos folglich als einen Menschen vorstellen, der damit leben kann, dass der Traum von einer perfekten Welt durch Technologisierung eine Illusion bleiben muss.


Ingo Dachwitz und Sven Hilbing: Digitaler Kolonialismus. Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen
München: C.H. Beck, 2025. 351 S.
ISBN: 978-3-406-82302-2
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.

Martina Heßler: Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie
München: C.H. Beck, 2025, 297 S.
ISBN: 978-3-406-82330-5
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe.

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