Tahrir/Taksim
Eine neue Protestkultur?

2011 und 2013 brachen in zwei der größten und bedeutendsten Metropolen der Islamischen Welt Unruhen aus; eine neue Protestkultur mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten schien zu entstehen...

Seitdem es im Juni 2013 zu Protesten auf dem Taksim-Platz in Istanbul kam, die wenig später auf das ganze Land übergriffen, wurden oft Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede von Tahrir und Taksim diskutiert: Neben dem generellen Rückgriff auf historische und kulturelle Wurzeln der beiden Länder wurden die soziale Zusammensetzung der Protestierenden, das Wirken des Militärs im Hintergrund, die unterstellte Verstrickung aus- und inländischer Interessengruppen aus Politik und Wirtschaft sowie die Beteiligung der religiösen und säkularen Kräfte innerhalb der beiden Protestbewegungen betrachtet. Aus all diesen Vergleichen sind fruchtbare Diskussionen entstanden, die nicht nur die jüngsten Ereignisse, sondern auch die vergangenen Jahrzehnte in ein neues Licht rücken.

Tahrir und Taksim: zwei zentrale und historisch bedeutsame Plätze, die zunächst der politischen Willenskundgebung des Volkes dienten, und dann über die durchschnittliche Dauer einer Protestveranstaltung hinaus in Beschlag genommen wurden. Je länger diese vom normalen Alltag abgekoppelt waren, desto mehr konkretisierte sich dort für die Beteiligten eine Heterotopie - ein alternativer Gesellschaftsentwurf, in dem zahlreiche Forderungen der Demonstranten nach einem besseren, demokratischeren, pluralistischen Miteinander realisiert werden.

Ein besseres Miteinander

Zu den Angeboten im Gezipark und auf dem Tahrir gehörten Diskussionsveranstaltungen und Vorträge, Einrichtung von „Volksbibliotheken“, der bargeldlose Tausch von Dienstleistungen, ambulante medizinische Gratisversorgung - vor allem für die Opfer der Polizeiangriffe. Spezielle deeskalierende Streifen sollten Konflikte unter verschiedenen Fraktionen gewaltfrei schlichten.

Dies bot Ansatzpunkte die Protestierenden zu denunzieren: in Istanbul reichte das von dem Vorwurf, die Demonstranten hätten in der Moschee Alkohol konsumiert bis hin zu der absurden Behauptung, es sei zu Orgien zwischen Armeniern, Juden und Muslimen gekommen. Dieser spalterischen und pauschalisierenden Rhetorik der Machthaber stand der prinzipiell integrierende Ansatz der Protestler gegenüber, besonders im Hinblick auf religiöse und soziale Minderheiten: zum Straßenbild in beiden Metropolen gehörten Gruppen von Betenden, die von anderen Demonstranten geschützt werden. In Kairo war der Versuch Kopten und Muslime gegeneinander auszuspielen vergeblich: auf dem Tahrirplatz trugen Protestierende als Symbol der Toleranz und Einigkeit den Koran und die Bibel, das Kreuz und die Misbaha (Rosenkranz).

Explosion des kreativen Überschusses

Zu betonen ist die teilweise atemberaubend schnelle multimediale Reaktion. So konterkarierte das jordanische Videokollektiv kharabeesh in einer Reihe von in Ägypten millionenfach angeklickten Cartoons die von der Realität seines Landes völlig unbeeindruckten Reden Mubarak; in Istanbul reagierten twitter, facebook, dann auch andere Medien schnell auf den „Totalausfall“ des türkischen Nachrichtensenders CNN Turk, der eine Tiersendung mit Pinguinen ausstrahlte anstatt über den unkontrollierten Ausbruch der Polizeigewalt zu berichten – eine Vorlage für unzählige Witze, Kostümierungen, Performances.

Ein hohes Maß an Interaktivität zeichnet auch die wohl augenfälligste Protestform aus, die Graffitis. Die zuvor im Verdeckten, Halb- oder Illegalen ausgeübte Kunstform erlebte eine wahre Explosion von Stilrichtungen, Techniken und Ideen, mit eigenen Stars - Ganzeer, Ammar, Keizer aber auch Nazeer, El Zeft, Nemo, die Mona Lisa Brigade und unzählige andere.

Die Spannbreite reicht von ikonografischen Märtyrer-Darstellungen der Opfer bis hin zu verspielten anarchischen Piktogrammen. Die im Trompe-l'œil-Manier großflächig auf die Straßenblockaden gemalten Freskos des „No Walls Project“ waren perspektivisch so genau an dem dahinter liegenden, verdeckten Straßenabschnitt ausgerichtet, dass alle materiellen Widerstände tatsächlich „unsichtbar“ wurden.

Da fast alle Wandbemalungen ständig abgewandelt, übermalt, überstrichen und neu aufgetragen wurden, erschien der Stadtraum als in permanentem Wandel begriffen.

Die Stadt wird zum Artspace

Eine Tendenz ist dabei deutlich ablesbar: die Verlagerung der bislang eher latent politischen Kunst aus Museen und Galerien ins Explizite und in den öffentlichen Raum. Diese spontane und nichtinstitutionelle Nutzung des gesamten Stadtraums als Artspace führt zu einer kritischen Hinterfragung und Neudefinition der angestammten Orte von Kunstpräsentation (und -definition). In der Folge kam es zu Neugründungen bzw. zur Aufwertung einer Reihe von Ausstellungsorten, Ateliers, Kollektiven und Festivals.

Auf dem Taksimplatz wiederum zeigte der Choreograph und Künstler Erdem Gündüz als duran adam - der standing man - mit seiner stummen Performance, wie auch der Einzelne auf die exzessive Polizeigewalt reagieren kann - und breite Solidarität, ein mediales Riesenecho und einen deutschen Medienpreis erhält.

Die renommierte Istanbul Biennale hingegen, die in der Vergangenheit öfter vergessene Orte und offspaces in weniger attraktiven Vierteln erschlossen hatte und eigentlich als progressiv und kritisch gilt, verpasste es seltsamerweise, angemessen auf die Ereignisse rund um den Gezipark zu reagieren und den Künstlern bei der künstlerischen Eroberung des öffentlichen Raumes zu folgen.  
 

Die neue Kreativität zeigt sich natürlich nicht nur in den Kairoer Graffitis, Videos und der Neugründung zahlreicher Artspaces, sondern auch die Musik wurde zentraler Bestandteil der neuen Protestkultur. Lesen Sie in Tahrir/Taksim – „Soundtrack der Revolution“ vom Sound von Töpfen und Pfannen und wie sich die ägyptische Sha’abi-Musik aus den armen Vororten Kairos ihren Weg hinein ins Zentrum gebahnt hat.

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