Çimen Günay Erkol
Der Geist der Generationen: Ein Kampf zwischen Traum und Wirklichkeit

In der türkischen Literatur gibt es viele Romane, in denen die Geschichten und Konflikte mehrerer Generationen miteinander verwoben sind. Die Hauptachse dieser Romane sind zumeist soziale Probleme wie Verwestlichung, Modernisierung, Urbanisierung, Krieg oder Migration, die tiefgreifende Auswirkungen auf die Menschen haben. Ursache der Reibung zwischen den Generationen ist der Wandel. Diejenigen, die sich anpassen, übernehmen den neuen Lebensstil, während diejenigen, die sich widersetzen, Zuflucht in ihren Traditionen und Komfortzonen suchen. Meist gehen die Autor/-innen diese Konflikte an, indem sie die Familie in den Mittelpunkt stellten. Auf diese Weise zeigen sie generationsübergreifend die dramatischen Auswirkungen des sozialen Wandels, der in das Leben der Individuen eindringt und Familienmitglieder einander entfremdet.

Romane dieser Art, die einem zuerst in den Sinn kommen, sind Kiralık Konak [Das zu vermietende Herrenhaus, 1922] von Yakup Kadri Karaosmanoğlu, Herr Ayaşlı und seine Mieter [Original: Ayaşlı ve Kiracıları, 1934] von Memduh Şevket Esendal, Pertev Beyin Üç Kızı [Die drei Töchter des Herrn Pertev, 1968] von Münevver Ayaşlı, Cevdet und seine Söhne [Original: Cevdet Bey ve Oğulları, 1982] von Orhan Pamuk und Bir Göçmen Kuştu O [Er war ein Zugvogel, 1985] von Ayla Kutlu. Anhand der weltanschaulichen Divergenzen zwischen der neuen und der älteren Generation innerhalb einer Familie beleuchten diese Werke den sozio-politischen Wandel in der Türkei. Ihre thematischen Schwerpunkte liegen auf dem Übergang vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik und den emotionalen Traumata, die damit einhergehen. Seien es die Bewohner/-innen des Herrenhauses, die Mieter/-innen in Ayaşlı İbrahim Efendis 9-Zimmer-Wohnung, die Töchter von Herrn Pertev, Cevdets Söhne, die Familienmitglieder von Emir, die in der Migration unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt sind – die Romane vergleichen verschiedene Lebensweisen im Wandel der wirtschaftlichen Bedingungen, untersuchen die Realitätswahrnehmungen der Protagonist/-innen im Licht religiöser und moralischer Werturteile und thematisieren die Tragödie der älteren Generationen, die sich von der Vergangenheit nicht lossagen können. Einige Autor/-innen greifen den Generationenkonflikt aus einer bestimmten Warte auf und stehen dem Wandel positiv gegenüber, während andere diesen Konflikt – innerhalb ihrer eigenen Realitäten – neutral widerzuspiegeln versuchen. 

Würde es keine Familie geben, der wir innerhalb eines Romangerüsts über mehrere Generationen hinweg folgen könnten, müsste man jahrelange Forschungen durchführen, um den Wandel zwischen den Generationen dingfest zu machen. Um einen Bezug zu individuellem Lebensstil und moralischen Werturteilen herzustellen, kann ein Vergleich mit dem Wandel der Darstellung von Vernunft und Rationalität hilfreich sein. So lässt sich beobachten, wie sich die von jeder Generation anhand der eigenen Realitätswahrnehmung geschaffene Rationalität über die Zeit hinweg in Romanen entwickelt hat, die der Diskussion von Vernunft und Realität besondere Bedeutung beimessen. In der türkischen Literatur zeichnet sich Rationalität durch ihre An- wie Abwesenheit aus. Um festzustellen, was innerhalb welcher historischen Umstände sinnvoll, realistisch, moralisch und plausibel scheint und wie sich diese Deutungen von Generation zu Generation verändern, scheint es mir eine gute Idee zu sein, sich die Romane aus einer Perspektive anzusehen, die wie in einer Umlaufbahn um Irrationalität und Wahnsinn kreist. Zur Vereinfachung einer komplexeren Wirklichkeit würde ich daher gerne in dem verfügbaren Raum auf einige Romane eingehen, in denen die Diskussion um Vernunft und Wirklichkeit im Mittelpunkt steht und sie hinsichtlich ihrer historischen Gemeinsamkeiten zueinander in Beziehung setzen. [1]

Die Autor/-innen der Tanzimat-Reformepoche (1839–1876) sahen Rationalitätsdebatten als bereichernden Prozess an. Die Trennung der Realität in „Tatsache“ und „Auslegung“, die Betonung der Wahrheit und die Bewertung des (irrationalen) Traums als Nebensächlichkeit sind Motive, die uns in vielen Texten dieser Zeit begegnen. Zum Beispiel wird in Hayal ve Hakikat [Traum und Wirklichkeit, 1891] von Ahmet Midhat und Fatma Aliye die erwähnte Dualität in den Vordergrund gerückt und angedeutet, wie wenig wünschenswert es ist, im Zwiespalt zwischen Tatsache (Wahrheit) und falscher Auslegung (Traum) hängenzubleiben, weil dies leicht in eine Krise führen kann. In einem weiteren wichtigen Text dieser Zeit, Âmâk-ı Hayal [Die Tiefen der Vorstellungskraft, 1910] von Filibeli Şehbenderzade Ahmet Hilmi, öffnet sich die Schere zwischen Tatsache (Materialismus) und Auslegung (Mystik) noch weiter. Der Autor untersucht die Krisen, die ein Intellektueller durchlebt, der sich den dominanten positivistischen Ansichten dieser Zeit und damit dem Materialismus ergeben muss. Die meisten Autor/-innen der Tanzimat-Epoche sehen diese Krise als letztlich unüberwindlich an. Alle vom Menschen gemachten Auslegungen sind dazu verdammt, den Phänomenen des Göttlichen zu erliegen.

Es lässt sich jedoch erkennen, dass mit dem Tanzimat Schritte unternommen wurden, um die auf einem göttlichen Geist beruhende Rationalität in Frage zu stellen und sogar zu kritisieren: Die Rückständigkeit der Osmanen sei darin begründet, dass eine Distanz zur Wissenschaft herrsche und die politische Vernunft in der staatlichen Verwaltung nicht richtig eingesetzt werde, sodass in vielen Institutionen radikale Verbesserungen vorzunehmen seien. Nach dem dreijährigen Unabhängigkeitskrieg zwischen 1919 und 1922 und der darauffolgenden Gründung der Republik folgten denn auch weitere radikale Reformen, die den konstitutiven Geist des Nationalstaates im gesellschaftlichen Leben verankerten. Im Zuge der Modernisierung dient dementsprechend die Literatur dazu, dem Volk verständlich zu machen, was diesem neuen Zeitgeist entspricht, was man sich aneignen sollte und was nicht.  

Obwohl der korrekte und moralische Gebrauch der Vernunft Gegenstand von didaktischen Romanen ist, betonen diese ebenso, dass das Denken fragwürdig, veränderbar und kritikwürdig ist. So wird irrationales Denken (Wahnsinn) nicht nur als Metapher für die Krise eingesetzt, sondern auch als humoristisches Element. Beispielsweise fungiert einer der wichtigsten Romane der frühen Republik, Ben Deli Miyim [Bin ich denn verrückt, 1924] von Hüseyin Rahmi Gürpınar, als umfassende Gesellschaftskritik, handelt er doch von den „Verrückten“, die sich ihre eigene Vernunft geschaffen haben. Obwohl diejenigen, die den Tatsachen eine andere, eigene Auslegung angedeihen lassen, zum Teil immer noch außerhalb des Systems stehen, scheint es doch, dass der Wahnsinn in jedem Menschen als Möglichkeit angelegt ist. Das Theaterstück Deli [Der Verrückte] von Refik Halit Karay (1939), das von Maruf handelt, der nach einem ersten Bewusstseinsverlust 1930 seinen Verstand ein weiteres Mal verliert, als er die Türkei durch die kemalistische Revolution von Grund auf verändert vorfindet, skizziert mit seinen Beschreibungen der bartlosen Männer, der kopftuchlosen Frauen und der Reform des Alphabets einen radikalen gesellschaftlichen Wandel, der die Vorherrschaft einer neuen Geisteshaltung anzuzeigen scheint. 

Je älter die Republik wird, desto umfangreicher diskutiert die Literatur darüber, wie „neu“ der Zeitgeist wirklich ist. Der Roman Huzur [Seelenfrieden, 1949] von Ahmet Hamdi Tanpınar, der zehn Jahre nach Deli erschien, handelt von Mümtaz, der zwischen den unterschiedlichen Auslegungen von Wirklichkeit hin- und hergerissen ist, mit seinen Gedanken und Emotionen im Streit liegt und nicht in der Lage ist, aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden. Dieses Werk impliziert, dass der neue Zeitgeist, der „von oben“ oktroyiert wurde, durchaus an den „alten“ Zeitgeist erinnert. Mit derartigen top-down-Methoden sei sozialer Frieden nicht möglich und die gegenwärtig zu erlebende Krise werde sich auf die nächsten Generationen auswirken. Obwohl die Uhr in Das Uhrenstellinstitut [Original: Saatleri Ayarlama Enstitüsü, 1954] von Ahmet Hamdi Tanpınar für alle auf dieselbe Ziffer zeigt, scheint die Zeit für die verunsicherten Generationen, die mit unterschiedlichen Wirklichkeitsauslegungen konfrontiert werden und ihren je eigenen Weg suchen, unterschiedlich zu funktionieren. 

Dieser zerbrechliche Zeitgeist, der auf der Kollision verschiedener Ansichten aufbaut, bietet in der Atmosphäre des Kalten Krieges der 1970er Jahre ein markantes Fundament der Literatur. In Tutunamayanlar [Die Haltlosen, 1972] von Oğuz Atay und dem ein Jahr später verfassten Tehlikeli Oyunlar [Gefährliche Spiele] von Oğuz Atay ist die Vernunft kein heilsamer Zufluchtsort, sondern im Gegenteil ein Ort schmerzlicher Konflikte. Atays Charaktere oszillieren wie Tanpınars zwischen verschiedenen Wirklichkeiten und können keine entschiedene innere Stimme bilden. In Tehlikeli Oyunlar wird die Vernunft gänzlich zur Gefängnismetapher. In einem einzigen Satz – „Sie foltern meinen Kopf“ – fasst Hikmet, der Held des Romans, zusammen, wie er zwischen unterschiedliche Interpretationen hindurch seinen Weg in der modernen Welt zu bahnen versucht.

In den 2000er Jahren haben insbesondere Autorinnen einen geschlechtersensiblen Ansatz für diese widersprüchlichen inneren Stimmen entwickelt, die Manifestationen eines fragilen Geisteszustands sind. Sie stellten fest, dass das Hohelied auf ein vernunftgemäßes und emotionsfreies Denken zu keiner Zeit geschlechtsunabhängig war. Die Frage nach dem „Geschlecht der Vernunft“, das seit Hayal ve Hakikat [Traum und Wirklichkeit] zu einem fundamentalen Diskussionsgegenstand avancierte, lässt in den 2000er Jahren eine lebhafte Rationalitätsdebatte entstehen, in der das soziale Geschlecht alle gesellschaftspolitischen Diskurse durchdringt. Sarmaşık [Die Schlingpflanze, 2002] von Şebnem İşigüzel konzentriert sich auf das schwierige Thema Vergewaltigung und zeigt, wie Frauen, die einer solchen zum Opfer fielen, unterschiedliche Rationalitäten hervorbringen und die ratio hinterfragen, wenn diese sich dem Bösen öffnet. Verrückt werden im Angesicht des Bösen ist eine Option; das heißt aber nicht, dass sich das Böse vermeiden lässt. Bir Deliler Evinin Yalan Yanlış Anlatılan Kısa Tarihi [Die falsch erzählte kurze Geschichte eines Hauses der Verrückten, 2009] von Ayfer Tunç, das in einer Nervenheilanstalt am Schwarzen Meer spielt, handelt von einem sehr chaotischen narrativen Universum, in dem Ärzte krank sind, Patient/-innen gelegentlich rational denken und eine Psychologin sich in einen Patienten verliebt. Der Roman betont, dass es nur von kleinen Zufällen abhängt, ob man in der Nervenklinik landet oder nicht, und zeigt, dass es an den delikatesten Stellen von Liebesbeziehungen Momente gibt, in denen die Vernunft sich völlig abkoppeln kann.

Üç Başlı Ejderha [Der dreiköpfige Drache, 2005] von Leyla Erbil – ein Buch, das von der Stimme Leyla Ünvers, einer Zeugin des Massakers von Maraş im Jahr 1978, bis zur Stimme einer Mutter reicht, deren Sohn im Gefängnis verschwand – schreibt all die Debatten um die Vernunft in einer Geschichte fest, die das Recht auf Wahnsinn für sich in Anspruch nimmt und in der nicht von ungefähr Istanbul im Zentrum steht. Auch wenn sich die neuen Generationen bis zu einem gewissen Grad von den älteren unterscheiden, können wir – so der Tenor der Erzählung – die Geschichte der gesellschaftlicher Entwicklung nicht ignorieren, die durchdrungen ist von Schmerz und Blutvergießen. Denn mit der Überlieferung von Generation zu Generation hat sie sich in allen Ecken der Städte, in denen wir leben, ausgebreitet. Kalan [Was verblieben ist, 2011], ebenfalls von Leyla Erbil, handelt von Lahzen, die die Ärzte zum Schweigen bringen wollen, die aber einen unbändigen Willen besitzt, von Massakern träumt und versucht, sämtliche Ereignisse in allen Facetten ihrer Realität zu erfassen. Sie nimmt die Last auf sich, sich an beinahe alles bisher Gewesene zu erinnern und steht stellvertretend für die Zeiten, in denen „Traum und Wirklichkeit“ miteinander verschmelzen.

Wenn wir zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, lassen sich Spuren des Kampfes zwischen Traum und Wirklichkeit in der historischen Linie erkennen, die wir von Ahmet Midhat bis Oğuz Atay oder von Fatma Aliye bis Leyla Erbil ziehen können. Verstandes- und Rationalitätsdiskurse, Zivilisationsprinzipien und die Erwartungen an die „männliche Vernunft“ variieren von Generation zu Generation. Trotz dieser Veränderungen lebt das Bestreben weiter, „Traum“ und „Wirklichkeit“ voneinander zu trennen. Die älteren Generationen glaubten aufrichtig, dass diese Trennung vollzogen werden könnte. Die Autor/-innen der Tanzimat-Epoche wollten mit dem richtigen Gebrauch der Vernunft eine umfassende Synthese aus der türkisch-islamischen Kultur und der westlichen Zivilisation erreichen. Die nachrückenden Generationen sind gezwungen, im Schatten des Satzes „Es gibt keine Fakten, sondern nur Auslegungen“ Zuflucht zu suchen. Sie haben erlebt, wie sich die Tragödie verlorener Menschlichkeit in ein Spektakel verwandelte, und sind daher weit entfernt von der Vorstellung einer heilsamen Synthese, die sich über die Vernunft erreichen lässt.

Heutzutage besitzt der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit kein aufregendes Attribut mehr. Die Wahrheit beanspruchen die Mächtigsten für sich. Aber wir werden nichtsdestotrotz um der nachfolgenden Generationen willen weiter träumen. Ich würde mir daher wünschen, dass die hier genannten, noch nicht auf Deutsch erhältlichen Werke bald übersetzt werden können, damit dem gemeinsamen Träumen nichts mehr im Weg steht.

 

[1] Einen ähnlichen Rahmen steckt Ayşe Özge Koçak in The Turkish Novel and The Quest for Rationality abIn diesem Buch wird die Vernunft jedoch nicht aus der Perspektive des „sozialen Geschlechts“ betrachtet. Die Autoren dieser Werke sind alle männlich und die in der Literatur vertretene „Vernunft“ (i.e. die männliche Vernunft) wird aus der Warte der Übergangsschmerzen zwischen Osmanischem Reich und Türkischer Republik bewertet.

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