Kuratorin: Olga Grjasnowa
Sprechen über Heimat

Olga Grjasnowa
© Cigdem Ücüncü

Von Olga Grjasnowa

Je länger ich in Deutschland lebe – und das sind nunmehr Zweidrittel meines Lebens – desto weniger verstehe ich den Diskurs über Heimat. Es könnte natürlich auch an meinen eigenen intellektuellen Fähigkeiten liegen, dennoch verstehe ich nicht, weshalb erwachsene Menschen immer wieder eine Diskussion um diesen Begriff anzetteln, gar ein Ministerium danach benennen und immer wieder reden, schreiben und behaupten, ohne irgendetwas zu sagen. Diese Debatte flammt alle Jahre wieder, es wird geredet, Texte werden geschrieben, Ministerien geschaffen - nur kommt nichts Neues hinzu.

Ich vermute, dass die ganze Diskussion um die Heimat der Ablenkung dient: Während wir mit der Heimat und darüber, was es sein soll, beschäftigt sind, reden wir nicht über die Dinge, die uns als Gesellschaft viel wichtiger, als ein diffuser Begriff, sein sollten: der Zugang zu Staatsbürgerschaft, zu Rechten, die doppelte Staatsbürgerschaft (mindestens einer doppelten), das Asylrecht und den strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft.  
Ein Beispiel: Es ist einfach über die Bedeutung der Heimat zu sprechen, darüber, was dieses Wort bedeutet, welche Assoziationen es wecken mag und über irgendwelche Wurzeln, die meines Wissens nach nicht zur menschlichen Anatomie gehören. Auffällig ist irgendwie immer, wer und wann über dieses Thema spricht. Man könnte genauso die NSU-Morde, die Anschläge in Halle und Hanau reden, denn sie hatten auch etwas mit der Heimat zu tun, die Mörder glaubten immerhin dem Heimatschutz zu dienen, aber diese Diskussion ist schmerzhaft. Sie würde Zugeständnisse und Handlungsmaximen erfordern, während das Sprechen über Heimat unbestimmt und harmlos ist. Wir verstecken uns hinter der Heimat, weil sie nicht weh tut, zumindest nicht der „sagenumworbenen Mehrheitsgesellschaft“ – wie Daniel Schreiber sie pointiert beschreibt. Die Heimat an sich ist nicht böse, sie ist noch nicht einmal real, aber es ist eben doch ein großer Unterschied, ob wir über die doppelte Staatsbürgerschaft oder „die Heimat“ reden.    


Ich könnte die 8000 Zeichen dieses Textes mit meiner Verwurzelung, der Heimat und der Heimatlosigkeit füllen, aber dann wären wir noch immer keinen Schritt weiter und ehrlich gesagt glaube ich nur an den einen Satz: „Juden haben Beine, keine Wurzeln“ – der für alle Menschen gilt. Würde ich an dieser Stelle von meiner Heimat, welcher auch immer schreiben, von meinen Wurzeln und meiner Heimatsprache, die ich weder habe noch brauche, dann würde ich lügen. Die Wahrheit ist diese: ich interessiere mich nicht für die Heimat, aber sehr wohl für die deutsche Staatsbürgerschaft, die ich mir erkämpft haben und die einmal „versehentlich“ gelöscht und wiederhergestellt wurde. Zur Wahrheit gehört auch, dass ich dank dieser Staatsbürgerschaft unheimliche Privilegien genieße, die ich nicht verdiene. Zumindest nicht mehr, als der Rest der Welt, der Pässe hat, die oft nicht einmal das Papier auf dem sie gedruckt wurden, wert sind.

Weil ich aber selber viele Dinge nicht verstehe, habe ich Hilfe gesucht: Bei den beiden Wissenschaftler*innen Denise Henschel und Alexis Radisoglu und den Autor*innen Fatma Aydemir, Mohammed Amjahid, Carl Gerber, Enrico Ippolito, Elina Penner, Mithu Sanyal, Hengameh Yaghoobifarah und Daniel Schreiber.
Daniel Schreiber und Mohammed Amjahid dekonstruieren in ihren Interviews den Begriff der Heimat und gehen auch auf die gegenwärtigen Debatten ein. Beide betonen die Rückwärtsgewandtheit und die Unschärfe des Begriffes und Daniel Schreiber beschreibt die Entstehung des Begriffes – in der Zeit der einsetzenden Industrialisierung und der Landflucht. Denise Henschel untersucht die historische Dimension des Begriffes und Alexis Radisoglu befragt Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah unter anderem zu der von ihnen herausgegebenen Anthologie „Eure Heimat ist unser Alptraum“. In Elina Penners Debutroman „Nachtbeeren“, das demnächst bei Aufbau erscheint, geht um eine mennonitisch geprägte Familie, die von Russland nach Deutschland immigriert. Irgendwann stellen sie resigniert fest: „Wir werden oft gefragt, ob wir nicht manchmal zurückwollen, ob wir es vermissen, wann wir es besuchen wollen, das Heimatland. Die meisten von uns sagen, wir sind in unserem Heimatland, wir haben unser Heimatland vermisst, also haben wir das Exil verlassen, um in die Heimat zurückzukehren. Es klingt vielleicht ein bisschen biblisch oder übertrieben, aber so war das für uns. Das war das Gefühl. Niemand verlässt ein Land, nimmt alles mit, fängt neu an, nur weil was Besseres warten könnte.“  Gastfreundschaft wäre eine gute Antwort auf die Heimat.
 

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