Kuratotin: Sibel Oral
Heimat in allen Facetten

Sibel Oral
© Neyzen Tevfik Savrın

Von Sibel Oral

Heimat. Ort, Land, das sich unter der Herrschaft eines Staates, eines Herrschers befindet.
Kreis, Stadt, Dorf, Gegend, Region.
Dort, wo jemand geboren und aufgewachsen ist.
Oder manchmal auch einfach da, wo jemand begraben sein möchte.
Wo du geboren wurdest, aber vielleicht aufgehört hast zu leben, Ort, den du verlassen hast oder auch verlassen musstest, der dich vertrieben hat...
Der deinen Nationalstolz zum Erwachen bringt oder auch deine Zukunftshoffnungen im Keim erstickt.
Für manche der Ort der Geburt, für manche der des wirtschaftlichen Überlebens, für andere wiederum einfach nur jener, der den Kindertagen Heimstatt war. Ein Ort auf der Landkarte ist die Heimat. Auf den du als Kind mit dem Zeigefinger auf der Tafel gezeigt hast, im Erdkunde- und Geschichtsunterricht sein Klima und seine Heldensagen auswendig lerntest... Manchmal ein Land, manchmal eine Stadt, manchmal ein Dorf oder Landstrich ist die Heimat. Der Ort, der uns fragen lässt, wo er eigentlich verblieben ist, eine Frage, deren Antwort uns die Abendnachrichten geben, der uns an seinen Festtagen alles vergessen und ihn in die Arme schließen lässt...Heimat als der Ort, dessen Geschichte sich mit der Geschichte seiner Menschen vermengt.  

“Und deine Würze?”

Vor ungefähr 15 Jahren wartete ich darauf, dass eine Frau in ihren Siebzigern ihr Gespräch mit dem Verkäufer auf unserem Stadtteilmarkt darüber beendete, dass die Tomaten nicht mehr die gleiche Würze hätten, nicht mehr so röchen wie früher. Ich hatte meine Tomaten ausgewählt und wartete auf den Verkäufer, damit er sie wiegte. Der Verkäufer hörte der Frau und ihren Klagen zu und blinzelte ab und an in meine Richtung, als wollte er mich noch um etwas Geduld bitten. Während ich darauf wartete an die Reihe zu kommen, drehte sich die Frau nun zu mir um und erzählte von dem Gemüse, das sie anbauten, als sie noch ein Kind war. Besonders erwähnte sie den Oregano. Oregano war wichtig. Als frisches Kraut oder getrocknetes Gewürz, einfach über die Tomaten geben. Ein klein wenig Salz dazu und natürlich Olivenöl. Ohne Olivenöl völlig undenkbar. Aber das Öl muss von den eigenen Oliven stammen. Gibt es denn etwas Schöneres als selbstgepflanzten Oregano, eigene Oliven aus der Heimat, gezüchtet auf eigenem Grund und Boden...Gibt es denn überhaupt schöneres als den eigenen Boden, die Heimat...

Sie erzählte in gebrochenem Türkisch. Obwohl ich keinen einzigen Satz gesagt hatte, hatte sie es irgendwie geschafft, beginnend mit den Tomaten, von Hölzchen auf Stöckchen zu kommen. Sie stammte aus Gökçeada, war dort geboren, danach Thessaloniki, inzwischen Istanbul, aber wichtig sei, wo sie sterben würde, und das wüsste sie. „Warst du schon mal auf Gökçeada?”, fragte sie. „Ja!“, sagte ich.
„Im Urlaub, baden?“
„Ich habe auch eine Tour nach Tepeköy unternommen“, sagte ich, und bereute wahnsinnig, dass ich „Tour“ gesagt hatte. Tepeköy war kein Ort, in den man eine Tour unternehmen konnte, wo man vor historischen Sehenswürdigkeiten Schnappschüsse machte. Tepeköy war ein verlassenes Dorf. Das größte Dorf der Türkei. Das „größte“ Dorf der Türkei, das die Griechen einst verlassen mussten.  

“Sie hatten da ein Gefängnis hin gebaut, sogar eins mit offenem Vollzug, mit gewöhnlichen Verbrechern”, sagte sie. Mir kam in den Sinn, wie bei meinem letzten Besuch auf der Insel, im Dorf Bademli, Madame Amirsa ihre Geschichte erzählte und sagte: “Unsere Häuser standen in Flammen.” Ich erwähnte dies nicht und sagte, dass ich von dem Gefängnis wüsste und von dem, was geschehen war. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie sich freute. Ruhig, ganz ruhig, in Anbetracht des lautstarken Gewirrs des Stadtteilmarktes sogar beunruhigend ruhig, erzählte sie weiter.

Während ich mit einer Tüte Tomaten in der Hand dastand und ihr zuhörte, fragte sie mich, noch bevor sie den vorangegangenen Satz ganz beendet hatte, als ginge es um Leben und Tod: “Und deine Würze?” Ich verstand nicht. Sie wiederholte die Frage noch einige Male, aber ich verstand sie nicht. “Deine Wurzeln, deine Wurzeln”, korrigierte sie sich. Ich verstand wieder nicht, und während ich auf dem Wort “Wurzeln” herumkaute änderte sie ihre Frage in liebevoller Geduld um: “Wo liegen deine Wurzeln meine Kleine, wo ist deine Heimat?”

Ich beantwortete die Frage, die ich erst als „Würze“ verstanden und nicht begriffen hatte, die dann, als sie sich als „Wurzeln“ herausstellte, mich herumstottern ließ, und als sie in eine Frage nach meiner „Heimat“ umformuliert wurde, mich zur Gänze verunsicherte, mit der gleichen Hast und als ginge es ebenfalls um Leben und Tod mit: „Adana.“ Noch während ich das sagte, verstrickte ich mich innerlich in ein Knäuel aus Widersprüchlichkeiten. Denn ich war nicht in Adana geboren, eigentlich waren weder meine Mutter noch mein Vater dort geboren, aber ich beantwortete die Frage nach meiner Herkunft stets mit „Adana“, weil es unter der Rubrik Heimatort in meinem Personalausweis verbucht war. Außerdem war meine Familie, zwei Generationen vor mir, aus einem anderen Land gekommen. Ich sagte: „Aber geboren bin ich in Istanbul.“ Doch das war ihr nicht wichtig.

Die Frage nach meiner „Heimat“, auf die ich eine Antwort zu geben mich mein Leben lang schwer getan hatte, begann ich also während eines kurzen Plausches mit Frau Lerna auf dem Markt zunächst über meine Würze, dann über meine Wurzeln zu hinterfragen. Ja, sie hieß Frau Lerna, die Anrede schlug sie sogar selbst vor.

Auf ihren Vorschlag hin gingen wir gemeinsam über den Markt, sie plauderte mit den Händlern, beschwerte sich über die hohen Preise und setzte sich dann auf einen Hocker hinter dem Gemüsestand eines anderen Verkäufers, den sie kannte, und erzählte mir ihre Geschichte. Zu dieser Zeit schrieb ich an einem Roman, der anhand der Geschichte einer jungen Frau, die sich verletzt und gekränkt von ihrem Land abwendete, das Aufeinanderprallen der Geschichte des Landes mit der persönlichen Geschichte seiner Menschen, die das, was im Lande geschah und vor allem eben auch nicht geschah zersplitterte und auseinanderschlug, erzählte. Es war der Roman jener Menschen, die sich vor dem Geruch ihrer Heimat ekelten, sie im Keim ersticken wollten und das Land als ein leerstehendes, dem Verfall preisgegebenes Gebäude empfanden. [1] Auch Frau Lerna, die mir an diesem Tag, zwischen all dem aus allen Teilen des Landes zusammengekommenen Gemüse der Marktstände ihre Geschichte erzählte, sollte einige Zeit später Teil des Romans werden und fortan dafür Sorge tragen, dass, wann immer ich in meinem späteren Leben Tomaten und Oregano kaufte, ich sie an meine Nase hielt und an ihre Würze, ihren Geruch dachte. Vor allem an Frau Lernas Oregano.

“Oma, wo ist deine Heimat?”

Ich schreibe diese Zeilen im 60. Jahr des Anwerbeabkommens, das 1961 zwischen der Türkei und Deutschland unterzeichnet wurde. Die Eltern meiner Mutter gehörten zur ersten Generation jener, die nach Deutschland gingen. Mein Großvater starb dort vor Jahren und wurde in Iskenderun begraben, das er als seine „Heimat“ bezeichnete. Meine Großmutter lebt noch immer dort, gemeinsam mit ihren Kindern und Enkeln. Es gehört zu den unauslöschlichen Erinnerungen meiner Kindheit, die sich eingebrannt haben, wie sie einmal im Jahr in die Türkei kamen und dann wieder nach Deutschland zurückkehrten. Den Begriff „Heimatsehnsucht“ habe ich erstmals von ihnen in einem Satz verwendet gehört. Als ich sie fragte, „kommt ihr zu meinem Geburtstag?“, antwortete meine Großmutter: „Wir sind in einem fernen Land, Sibel.“ 

Während ich an diesem Projekt arbeitete, über diesen Text nachdachte, kam meine mittlerweile 87-jährige Großmutter wieder einmal aus Deutschland, der Heimat, in der sie lebt, in die Türkei, die Heimat, in der sie geboren wurde. Eines Abends saßen wir beisammen. Sie erzählte von meinem Großvater, der aus Jugoslawien stammte und von ihrer Mutter, die von der Insel Kreta kam. Es war eine etwas verworrene Geschichte. „Oma“, fragte ich: „Wo ist denn nun deine Heimat?“ Zunächst antwortete sie, wegen ihrer Mutter, mit Kreta, danach sprach sie von Izmir, wohin ihr Großvater eingewandert war, und kam dann auf Iskenderun. Geboren wurde sie in Iskenderun. Aufgewachsen ist sie mit den kretischen Erinnerungen und Gerichten ihrer Mutter. „Und Deutschland?“, sagte ich, „Du hast dort zwei Generationen großgezogen, du kommst ja auch nicht zurück. Ist deine Heimat da, wo du lebst oder dort, wo du geboren wurdest?“ Sie war von der Frage verwirrt, stotterte, wusste nicht genau und sagte:

„Dort ist mittlerweile auch Heimat, aber hier ist auch meine Heimat. Eines Tages werde ich zurückkehren, aber ich weiß nicht, ob in einem Passagiersitz des Flugzeugs oder in einem Sarg in seinem Laderaum aber ich werde hier in meiner Heimat begraben sein…“  

Meine Tante ging dazwischen und erklärte, dass dies die Antwort vieler Menschen sei, die aus der Türkei nach Deutschland gingen und dort blieben, wenn sie nach ihrer „endgültigen Rückkehr in die Heimat“ gefragt wurden: „Natürlich kehren wir in die Heimat zurück; entweder in einem Flugzeugsitz oder in einer Holzkiste…“


Meine Großmutter spricht seit vielen Jahren über die Sehnsucht nach der Heimat, jedoch kehrt sie nicht zurück. So wie bei meinem Großvater und meinem Onkel, wird die Heimat auch sie, eines Tages wenn sie tot ist, mit ihrer Erde bedecken, sie vielleicht beschützen. Das, was sie als Heimat bezeichnet, ist zu einem Ort geworden, an dem sie begraben sein wird, wenn sie stirbt...

„Sei’s drum“ als Antwort auf die Frage nach der „Heimat“

Ich habe Ihnen zwei kurze Geschichten aus meiner persönlichen Historie erzählt. Obgleich ich mein Leben lang sesshaft gewesen bin, fange ich an herumzustottern wie meine Großmutter, wenn ich nach meiner „Heimat“ gefragt werde. Keine der Antworten erscheint mir richtig. Antworte ich mit Istanbul, wird immer gefragt: „Ja, aber woher kommst du ursprünglich?“ Sagst du: „Meine Familie stammt aus diesem oder jenem Ort“, wird gesagt: „Na also, dann kommst du doch daher.“ Es funktioniert aber auch nicht zu sagen: „Ich bin dort nicht geboren, ich war da auch nie“, denn dann wird dir vorgeworfen, dich entwurzelt zu haben. Eigentlich gibt es keine richtige Antwort. Wurzeln, Würze, Gerüche, Abstammung, Erde, Grund und Boden, Zugehörigkeit, all diese Begrifflichkeiten stürzen wie eine verwirrende Lawine auf mich ein, jedes Mal dann, wenn mir diese Frage gestellt wird. „Wo ist deine Heimat, wo kommst du her?“, ist in der Türkei die Frage, die den Anfangspunkt entstehender zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt. Die Beziehung entwickelt sich dann abhängig von der Antwort, die darauf gegeben wird. Ich durfte zum Beispiel Zeugin folgenden Dialogs werden:


„Wo ist Ihre Heimat?”
„An diesem oder jenem Ort.”
(Nach einem kurzen, erstaunten Schweigen)
„Sei’s drum, macht ja nichts…”

Der mit „Sei’s drum, macht ja nichts“ kommentierte Ort ist eine Stadt innerhalb der Grenzen der Türkei. Der Ort, an dem die Frage gestellt wurde, ist Istanbul. Der Ort, den der Fragesteller als seine Heimat bezeichnet, ist wiederum eine andere Stadt. Diese Frage und die Unsicherheit der Reaktion auf die Antwort, aber auch der in der Antwort „Sei’s drum“ ausgedrückte unterschwellige Unmut über die kundgetane Herkunft bilden das nationale Grundgefühl dieses Landes…

Heimat ist manchmal ein Monster. Es nährt sich von Sprachen, Identitäten und Nationalgefühlen, die es genüsslich in seinem Maul zerkaut und verschlingt. Manchmal ist Heimat auch ein Monster, das sich selbst vernichtet. Es reißt sich Stücke aus dem eigenen Fleisch, zermahlt sie zwischen seinen Zähnen und schluckt sie herunter. Heimat ist schön. Sei es ein Land, eine Stadt, eine Gegend, ein Dorf oder auch nur das Ufer eines Sees.

Ja, einverstanden, die Luft, das Wasser, die Steine, die Erde. Vielleicht ist Heimat nicht zugehörig sein, sondern der Ort, an dem du dich wirklich als zugehörig empfindest. Heimat ist vielleicht der Ort, dessen Gewässern, Bäumen, Erde du dich zugehörig fühlst, die dein sind, so du denn noch die Kraft findest, dich für diese verantwortlich zu fühlen. Heimat ist ein Ort, der sich verändert und verwandelt, ein Ort auch, der verändert und verwandelt. Heimat in Romanen, Gedichten, Geschichten. Heimat in diesem Dossier, das wir vorbereitet haben;

Heimat wie ein reißender Strom im Text von Tanıl Bora.
Dunkle Heimat als winzige Teilchen in Özen Yulas Roman.
Heimat in Kemal Varols Haw in Mikasas Augen, in den Winden von Arkanya.
Heimat als Nachhausekommen nach einem langen Spaziergang von einem Land in das andere in der Erinnerung von Nermin Yıldırım.
Heimat in der Kindheitserinnerung von Karin Karakaşlı und der Frage: „Ich bin Armenierin, wäre das ein Problem?“
Zeynep Kaçars Feray als Zeugin einer verschwindenden Heimat in den gentrifizierten Straßen Istanbuls, Die Erzählung von Jaklin Çelik über die Auslöschung der Erinnerungen einer Stadt, Heimat als das Neuerlernen des Erinnerns bei Başak Baysallıs Protagonisten.    
 
Heimat in all ihren Facetten also. Sei’s drum, macht ja nichts.


[1] Zayi- Harp ve Darp Ülkesinde Bir Selvi, Sibel Oral, 2010
 

Top