Das Gedächtnis des Landes und die Gentrifizierung der Würde

Burcu Aktaş
© Muhsin Akgün

Von Burcu Aktaş

Eine der grundlegenden Eigenschaften der seit vielen Jahren in Istanbul betriebenen Gentrifizierung ist das Vorantreiben des Vergessens. Einhergehend mit der Umwandlung der physischen Struktur der Stadt und gepaart mit dem Kapitalismus als Protagonist dieser Gleichung steht auch die Ausradierung ihres kulturellen Gefüges als eiskalte Wirklichkeit vor uns. Jaklin Çelik nimmt sich diese Stadt, transportiert sie ins Zentrum ihres Romans Sarhoşların Perşembesi [Der Donnerstag der Trunkenen] und erzählt die Geschichte jener, die durch diesen Wandel beeinträchtigt werden. Der Roman sorgt sich darum, dass der größte zu zahlende Preis dieser Umgestaltung darin zu finden ist, dass auch das Leben der Menschen dem gleichen Wandel unterliegt.

Sarhoşların Perşembesi beginnt mit der Geschichte von Çelimsiz, einem blinden Hund, dem es in letzter Sekunde gelingt, nicht unter ein Auto zu geraten. Die Autorin eröffnet ihren Roman mit einer bewegenden Momentaufnahme über das Nicht-gesehen-werden und das Nicht-hinsehen. Çelimsiz verkörpert regelrecht die Überlebensregel dieses Landes. Entweder bist du unsichtbar oder du siehst nicht hin. 

Jaklin Çeliks Erzählung legt ihren Fokus auf das „Gedächtnis“. Für diesen Roman ist das Gedächtnis wie ein zweischneidiges Schwert. Doch welchen Strick dreht die Gedächtnislosigkeit uns Menschen vor allem, was nimmt sie uns? Die Würde.  

Der Roman führt uns in ein Viertel auf der historischen Halbinsel Istanbuls, genauer gesagt auf die belebteste Straße dieses Viertels. Während Jaklin Çelik die Geschichte eines in einem altehrwürdigen Herrenhaus lebenden Mannes und seiner Hausangestellten erzählt, werden die Protagonisten des Romans, die Angestellte, die sich das Haus unter den Nagel zu reißen versucht und der an Alzheimer-Demenz erkrankte Hausherr, zum Symbol der Agonie Istanbuls. Dadurch entsteht ein bewegender Text über Mitgefühl, Erinnerung und Würde. Die Autorin erweitert die türkische Literatur um die Figuren des Hausherrn und der Angestellten. 

Sarhoşların Perşembesi gehört mit seinen Figuren, ihren auf eiskalte Wirklichkeiten verweisenden Beziehungen untereinander und seiner aufwühlenden Atmosphäre zu den erfolgreichsten Romanen der jüngeren Zeit.

Das an alte Istanbuler Herrenhäuser erinnernde Gebäude, in dem der Hausherr, der als Bauunternehmer zur Verwandlung des „mittlerweile vor Menschenlast aus allen Nähten platzenden“ Istanbuls in eine Betonwüste beigetragen hat, und seine Angestellte leben, steht wie ein riesiges Denkmal inmitten des Romans. Die Autorin Jaklin Çelik konfrontiert die Leser mittels ihrer Figuren, die sich in einem in der Vergangenheit und auch Gegenwart von tiefer Armut geprägten Viertel Hoffnungsschimmer von den Wohlhabenden herbeisehnen, mit unzähligen Fragen. Jede dieser Fragen und natürlich auch die Antworten auf sie schnüren entweder den Hals zu oder sitzen wie ein riesiger Stein in der Magengrube.


Die hohe Steinmauer, die den Garten des Hauses von der Straße trennt, gehört zu den wichtigsten Metaphern des Romans. Auf der einen Seite der Mauer ein Haus voller historischer Gegenstände und Kellergewölbe, die in unterirdische Gänge übergehen, bewohnt vom Hausherrn und seiner Angestellten. Auf der anderen Seite der Mauer der blinde Hund Çelimsiz, die geflüchtete Bettlerin, die versucht, genug Geld für eine Rückkehr in ihr Land zusammenzubekommen und Karakuru [Der dunkle, verkümmerte, hagere]. Allein dieser Spitzname, der dem Einwandererkind gegeben wird, erzählt so vieles. Dies sind bei weitem nicht alle Figuren des Romans: der Besitzer des historischen Hamams, der das Badehaus gerne für großes Geld veräußern möchte, der Kuttelsuppenimbiss als Mekka der Mittellosen und Trunkenen, Berduş, der einst einmal ein völlig anderes Leben lebte...Sie alle sind wie die Pflastersteine dieses Viertels. Würde man nur einen von ihnen aus dem Roman entfernen, es würden sich Lücken auftun in Jaklin Çeliks Erzählung. Das Geflecht, das die Autorin mit ihren Figuren entstehen lässt, unterstreicht, worum es dem Roman schlussendlich geht. Vor allem die Beziehung zwischen dem Hausherrn und seiner Angestellten wirft ein erklärendes Licht auf zahlreiche Beziehungsformen unserer Zeit. Zwei Menschen völlig unterschiedlicher sozioökonomischer Stellung verbinden sich in der gleichen Grausamkeit.

Auch die Atmosphäre, die Jaklin Çelik erschafft, sollte nicht unerwähnt bleiben. Dass die Wahl des Handlungsortes dieser Erzählung, die von dem Verschwinden und Erlöschen der Menschen und der Stadt Istanbul handelt, auf die historische Halbinsel gefallen ist, erweist sich als vortreffliche Entscheidung. „Die über die historische Halbinsel hereinbrechende Nacht umhüllte die Menschen mit einer Dunkelheit, die der in anderen Vierteln Istanbuls ungleich war. Die am Ufer ihr Glas auf das Wasser erhebenden Trunkenen und die Verrückten, deren Rippen sich das Mitgefühl der launischen Oberfläche der Felsen erhofften, erwiderten die dumpfen Geräusche, welche die in luftlose Schwimmwesten gehüllten, wassergedunsenen Körper der Flüchtlinge verursachten, wenn sie gegen den Wellenbrecher schlugen, mit ihrem gellenden Gebrüll.“

Die Autorin konfrontiert die Leser während des Romans in zweifacher Weise mit den Themen Erinnerung und Gedächtnislosigkeit: Alzheimer und Trunkenheit. Jaklin Çelik greift die Thematik auf, indem sie mittels ihrer Figuren Gedächtnis und Würde miteinander verbindet. Genauso wie Berduş sagt: „Mir scheint, als müsste es eine Verbindung geben zwischen Würde und Erinnern…“

Sarhoşların Perşembesi konfrontiert uns in all seinen Details mit dem Unsichtbaren, mit denen, die nicht hinsehen wollen und damit, dass wir die Stadt nicht mit einem Mal zerstört haben. Den Lesern bleibt, im Schatten der Stadtmauern, “...die Zeugen der zeitlosen Verbrechen der alten und der neuen Stadt geworden sind”, mit dem Buch in der Hand für einen langen Moment innezuhalten und auch, sich damit auseinanderzusetzen.  

Jaklin Çelik erzählt gekonnt die vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre des Landes, indem sie lebt, in welchen ein gefräßiger Kapitalismus überhandgenommen hat. Die urbane Transformation ihres Landes transformiert die Autorin in ein Symbol. Sie betrauert die Vernichtung menschlicher und kultureller Werte und erzählt die Geschichte der Auslöschung von Würde und Gedächtnis in der Türkei anhand von ihr gewählter Figuren. Die gesellschaftlichen Gruppen, die durch jene Figuren repräsentiert werden, sind jedoch ein genaues Abbild der Türkei, des ganzen Landes.

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