Interview mit Cem İleri
Das Haus, das einem in den Weg läuft

Ein Interview mit Cem İleri über sein interdisziplinäres Werk E-Haus, das Gedächtnis, Räume und Häuser, die einem in den Weg laufen.

Cem İleri ist Absolvent des Saint-Benoit-Gymnasiums und der Galatasaray-Universität. Seit 2014 arbeitet er als Chefredakteur des Everest-Verlags. Ileri hat die Bücher "Yazının da Yırtılıverdiği Yer" (dt. Der Ort, an dem selbst das Wort zerreißt), Okurun Belleği (dt. Das Gedächtnis des Lesers) und "E Evi" (dt. E-Haus) verfasst.

literatür Interview mit Cem İleri © Goethe-Institut | Graphiker: Çağın Kaya, Fotograf: Anıl Basılı
Gaye Boralıoğlu: Welcher Gedanke liegt E-Haus zugrunde?

Cem İleri: Das E-Haus ist ein Fragment aus der Buch-Idee mit dem Titel "Auf den Spuren des verlorenen Ortes", das ich bisher noch nicht fertigstellen konnte. Dieser Titel hat sich, so scheint mir, zu einer Art Übertitel entwickelt, denn Das Gedächtnis des Lesers (tr. Okurun Belleği), das ich über W. G. Sebald verfasst habe, sowie Über einen nutzlosen Ort (tr. Yararsız Bir Mekâna Dair), das von Georges Perec handelt, sind ebenfalls Teile dieses Buches. Anfangs war die Überlegung, etwas zu den Arbeiten der zeitgenössischen Künstlerin Ayşe Erkmen und den Arbeiten des Grafik-Designers Bülent Erkmen zu schreiben. Ich nahm an, dass sich diese zwei Künstler aus unterschiedlichen Disziplinen durch ihre Beziehung zueinander auch im Rahmen ihrer Arbeiten gegenseitig beeinflussen müssten, und fand es aus der Sicht eines Literaten sehr interessant, diese zwei Disziplinen zusammen zu untersuchen. Ich hatte einen kurzen Text vorgesehen, der sich dann jedoch zu einem Buch entwickelt hat. Es ist kein akademischer Text; mein Ausgangspunkt ist der besagte, und ich weiß nicht, wohin mich diese Reise führen wird.
E-Haus ist mitunter ein Sinnbild dieser Reise. Der Name entspricht dem Haus, das in Cihangir von Haydar Karabey für die Erkmens gebaut wurde. Im Text wird aus dem Namen eine Art Metapher für das Beziehungsgeflecht zwischen den zwei Künstlern und mir.
Im Verlauf des Buchs ist auch von anderen Häusern die Rede, die auf das E-Haus treffen: Ayşe Erkmens Installation "Am Haus", die immer noch in Berlin ausgestellt ist, sowie die Arbeiten mit den Titeln "Zum Haus" und "Das Haus", die ebenfalls in Berlin gezeigt wurden, aber auch andere Häuser und Orte.

Wir sind mit einem interdisziplinären Werk konfrontiert, das theatralisch, spielerisch und literarisch in einem ist. Wie haben Sie ein stilistisches Gleichgewicht aufgebaut?

Es ist ein hybrider Text mit experimentellen und fiktionalen Elementen, der außerdem auch Kritik und kunsthistorische Aspekte beinhaltet. Mehr noch als die Sorge um eine bestimmte stilistische Formel, habe ich mich darum bemüht, mit dem zu behandelnden Thema ein möglichst ergiebiges Verhältnis aufzubauen. Selbst wenn der Text einen eigenen Stil hat, so hat er sich im Laufe des Prozesses von selbst entwickelt. Womöglich hätte man in den unterschiedlichen Formen voneinander unabhängige Texte über das "Thema" verfassen können, aber ich habe von Anfang an einen anderen Weg eingeschlagen. Seit dem Buch, das ich über den Autor Bilge Karasu geschrieben habe, hege ich den Wunsch, ein Teil der Form des Werkes zu sein, an dem ich schreibe, bzw. es nachzuahmen, um tief im Werk aus ihm heraus zu schreiben. Ich glaube fest daran, dass das Streben nach Vertrautheit mit dem Werk der beste Weg dafür ist. Auf diese Weise bewegt sich das Werk während seiner Untersuchung ganz langsam fort, tauscht den Platz, gar seinen Besitzer. Die spielerische und fragmentarische Form von E-Haus resultiert daraus. Wir werden mit einem Text konfrontiert, der sich die künstlerischen Methoden, die er behandelt, zu eigen macht.

In der Charakterisierung von Erkmens Arbeiten benutzen Sie folgende Beschreibung: "Das Schwanken zwischen dem ständigen Hin und Her, dem Zwischen-zwei-Stühlen-sitzen, der Entortung, dem Bedarf nach Bewegung und dem von der Stabilität ausgehenden Sicherheitsgefühl". Trifft diese Beschreibung auch auf Ihr Werk E-Haus zu?

Nachdem das Buch veröffentlicht wurde, fiel mir auf, dass einige Leser und Leserinnen, vor allem aus dem literarischen Umfeld, nicht verstanden haben, dass das Buch von zwei unterschiedlichen Künstlern handelt, die den selben Nachnamen tragen. Das Schreiben eines solchen Textes erforderte, bzw. es war meine Auflage, dass ich mich dazu entschied, die Namen der Künstler nicht zu benutzen. Ab einem bestimmten Punkt ist die Nennung von Namen bedeutungslos, denn in meiner Konstruktion wurden sie zu einzelnen Komponenten des Texts. Wichtiger noch, diese Entscheidung führte dazu, dass ich eine Form der Studie hervorbringen konnte, die die Problematiken in den Arbeiten beider Künstler in Bezug auf Urheberschaft wiederholte und weiterführte. Diese Entscheidung wurde von der Auseinandersetzung über Urheberschaft in den Werken von Barthes und Foucault unterstützt. Die Form zulasten des Todes von Autor, Künstlerin, Designer, Urheber und Urheberin selbst zu Wort kommen lassen, die Erforschung der Möglichkeiten für die Auseinandersetzung in unterschiedlichen Zusammenhängen mit einem Werk, das unabhängig von seiner Urheberin oder seinem Urheber ist, usw.
Die Beschreibung, von der Sie sprechen, trifft an sich auf beide Künstler zu. Das ist sowieso auch der Grund, warum sie zusammen behandelt werden. Diese künstlerischen Strategien bestimmen natürlich auch die Form und Zusammensetzung meines Texts. Deshalb hat sich E-Haus auch zu einem Buch entwickelt, das auf den Text und seine Konstruktionsweise aus der Perspektive der konzeptionellen Kunst und des Grafikdesigns blickt. Wir reden von einer Form, der ich zu Beginn intuitiv nachging und die für mich erst nach der Fertigstellung des Buchs sichtbar wurde. Ich treffe im Vorfeld nicht die Entscheidung, auf eine bestimmte Art und Weise zu schreiben, sondern mir fällt auf, dass sich im Prozess, zwischen diesen zwei sich gleichenden und nicht gleichenden Namen, zwischen ihnen und meinem Text, zwischen anderen Autoren und Autorinnen und Künstlern und Künstlerinnen, ein ständiges Hin und Her, ein „Sitzen zwischen den Stühlen“ und eine Entortung ergibt. Den gesamten Verlauf des Buchs bestimmen die Schwingung zwischen einer ständigen Bewegung/Sprunghaftigkeit, die mich immer und immer wieder zum Anfang zurückbringt, und der Rückkehr zur Regungslosigkeit des Erzählers, der weiterhin auf die Fassade des E-Hauses blickt.

Das Ende eines Abschnitts lautet wie folgt: „Ein Haus, das
einem so in den Weg läuft, ist mir noch nicht vorgekommen!" Wie können wir uns ein Haus, das einem in den Weg läuft, vorstellen?


Dieser Satz wurde dem Buch Alice hinter den Spiegeln entnommen, das wegweisend für mein eigenes Buch war. Es hat sich zu einem Sinnbild entwickelt, das sukzessive alle Türen öffnet und jeden Raum, den ich nicht betreten konnte, schon vor mir betreten hat. Ich begegnete diesem Satz als ich darüber nachdachte, wie es wohl wäre, alle Arbeiten von Erkmen an einem Ort unterzubringen. So ein Haus wäre in jedem Fall ein unheimliches Haus, ein Locus-Solus-Replikat, in dem sich die Wände, Decken, Böden und Fenster unentwegt bewegen und nie dort sind, wo sie sein sollten; ein Haus der Fallen wäre es, mit falschen Treppen, Geheimdurchgängen, Stockwerken, Decken und Böden, die untereinander die Plätze tauschen, mit Lampen, die bis zum Boden hängen, Vorhängen, die nicht an die Fenster passen, und Wänden, die sich ständig verengen und ausweiten. Ein Ort, der sowohl seinen Bewohnern als auch seinen Besuchern in den Weg läuft, ihnen allerlei Hindernisse in den Weg stellt.
Mir fiel auf, dass sich die Wortspiele, die semantischen Paradoxien, die Tautologien, die Platzverschiebungen, die räumlichen und mentalen Vergrößerungen/Verkleinerungen, die beweglichen Worte des Spiegelbuchs im verdrehten Spiegelhaus und die geliebten Kofferworte des Wortspezialisten Humpty Dumpty zu einer gemeinsamen Metapher für die Werke der beiden Künstler entwickelt haben. Ich habe versucht, ein literarisches Äquivalent dieser visuellen Welt zu schaffen. Dadurch, dass ich gleichzeitig zwei Richtungen (vielleicht auch mehr) einschlug und zwei Namen miteinander vereinte, habe ich versucht, mich schneller zu bewegen als das Haus, das mir ständig in den Weg läuft, um selber in seinen Weg laufen zu können.

Erkmen verwandelt räumliche Strategien in Instrumente der Sprache und Rhetorik, während Sie mit allerhand sprachlichen Möglichkeiten gewissermaßen einen neuen Raum erschaffen. Können Sie Ihre Interaktion mit Erkmen besonders im Hinblick auf das Verhältnis von Sprache und Raum beschreiben?

Das, was Sie ansprechen, ist das Hauptanliegen von E-Haus. Die Konstruktion dieses Buchs basiert darauf, dass unterschiedliche Sprachen und Räume miteinander verwoben werden. Während Ayşe Erkmen das Wissen, die Daten und die Merkmale des Ortes, an dem sie sich befindet, in Bestandteile ihrer eigenen Werke umwandelt, schlägt Bülent Erkmen den umgekehrten Prozess ein, indem er das Schreibmaterial in den "Buch-Raum" trägt und den Text in ein Buch verwandelt. Ich selbst befinde mich in einem Raum, der sich zwischen diesen zwei Produktionsarten hin- und herbewegt und diese Strategien neu erzeugt. Manchmal versuche ich von einem Raum aus zu einer Erzählung zu kommen und manchmal ist mein Ausgangspunkt auch ein literarischer Text, mit dem ich mich in dem "Buch-Raum" einzurichten versuche. Dort, wo sich der Raum zur Sprache und die Sprache zum Raum verwandelt, zeichne ich ein breites Gebiet wechselseitiger Einwirkung auf.
Zufälligerweise hat Ayşe Erkmen kürzlich zusammen mit Mona Hatoum im Museum der bildenden der Künste in Leipzig eine Ausstellung namens Displacements/Entortungen eröffnet. Dieser Begriff kann auch zur Beschreibung des E-Hauses verwendet werden: Ein kontinuierlicher Platzwechsel zwischen Sprache und Raum, dem Öffentlichen und dem Privaten, Ort und Nicht-Ort, Kunst und Literatur, Heimat und Immigration, Ost und West.

Das Gedächtnis ist eines der Hauptthemen Ihres Werkes. Wie sind Sie mit der Beziehung zwischen Gedächtnis und Raum in E-Haus umgegangen?

Selbstverständlich ist eines der Hauptthemen des Texts die Beziehung zwischen Gedächtnis und Raum. Beide Künstler beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit dem Gedächtnis. Ayşe Erkmen bewegt sich im Allgemeinen von dem Gedächtnis des Ortes, an dem sie ihre Arbeit ausführt, fort, trägt die Vergangenheit in die Gegenwart, indem sie ein Motiv, ein Bild oder ein konkretes Element aus der Vergangenheit des Ortes hervorhebt, und konfrontiert dieses mit dem Gedächtnis des Betrachters oder der Betrachterin in der Gegenwart. Bülent Erkmen hingegen benutzt in seinen Entwürfen die gleichen Bilder und Objekte, die er in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder verwendet, remixt und reproduziert. Somit macht er sich das Gedächtnis der Arbeit zunutze und wandelt den Zeitbegriff in ein grafisches Element um. Da diese Arbeitsweisen unsere Ausgangspunkte darstellen, musste das Thema Gedächtnis zwangsläufig in das Zentrum von E-Haus gestellt werden. Eine Kultur-/Kunstarchäologie hat sich mit dem Gedächtnis der Werke der Künstler, das sich von den 70ern bis in die Gegenwart erstreckt, verknüpft. Die Gedächtnisse der Häuser, Galerien, In-situ-Werke, Ausstellungen, Biennalen, öffentlichen Skulpturen und Objektbücher wurden mit dem Gedächtnis des Texts und des Lesers und der Leserin auf literarischer Ebene verbunden. Man kann es sich auch so vorstellen, dass meine persönlichen Erinnerungen an diese Produktionen und Orte mit dem Gedächtnis des Lesers und dem Gedächtnis der Leserin zusammentreffen. Dies ist das Abenteuer eines Erzählers, der mitten in diesem Gedächtnisgeflecht in der Klemme steckt.
Es ist, als hätte ich zu mir selbst gesagt: Erschaffe ein Haus in deinem Kopf und auf dem Papier, das du nie gesehen und betreten hast. Reise in das Haus ohne von deinem Tisch aufzustehen. Platziere alles, woran du dich erinnern möchtest, alle Bilder, Namen und Erinnerungen in verschiedenen Ecken des Hauses. Jahre später werden die einzelnen Wörter in Form von Sätzen und Paragrafen zurückkehren und dich an diese unmögliche Reise erinnern, damit sie das Haus als Gedächtnis neu aufbauen können.

Das Interview mit Cem İleri führte: Gaye Boralıoğlu

Top