Menschen, die Ökonomie studiert haben, äußern sich oft sehr formelhaft. Unpolitisch agieren sie deshalb noch lange nicht, erklärt Daniel Stähr. Ganz zu schweigen von ihrem Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen.
Dieser Witz zeigt zweierlei. Erstens: Ökonom*innen sind nicht besonders gut darin, lustige Witze zu erzählen. Zum anderen macht er deutlich, dass sich die meisten der Macht, die sie haben, sehr wohl bewusst sind. Es gibt keine andere Gesellschaftswissenschaft, die so viel Einfluss auf die Politik hat wie die Wirtschaftswissenschaft. Ökonom*innen stehen vielen der einflussreichsten globalen Institutionen vor, wie dem IWF, der Weltbank oder der Welthandelsorganisation. Außerdem hat nahezu jedes Land einen eigenen ökonomischen Beraterstab. In Deutschland besitzt dieses Gremium sogar den Rang eines griechischen Orakels, wenn seine Mitglieder ehrfürchtig „die Wirtschaftsweisen“ genannt werden.
Eine alles durchdringende Wissenschaft
Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaften reicht aber viel tiefer. Während des Kalten Kriegs haben die Theorien verschiedener Ökonomen wie John Maynard Keynes, Friedrich Hayek oder Milton Friedman ganz entscheidend die Politik bestimmt. Die Ära der stabilen Sozialdemokratien Westeuropas bis in die 1970er-Jahre trägt maßgeblich Keynes‘ Handschrift, genauso wie die neoliberale Wende unter Reagan und Thatcher die von Friedman und Hayek. Es ist also kein Wunder, dass verschiedene Autoren die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als „Stunde der Ökonomen“ bezeichnet haben.Heute geht der Einflussbereich der Wirtschaftswissenschaften weit über rein ökonomische Fragen hinaus. Sie reden bei der Verteilung von Spendernieren mit, ziehen aus der Analyse hunderttausender Gemälde Rückschlüsse auf historische Entwicklungen oder versuchen mit ihren Modellen, die Ursprünge für Kriminalität oder Drogensucht zu erklären. Ein Grund für diesen kometenhaften Aufstieg zu einer alles durchdringenden Disziplin ist die von Ökonom*innen verwendete Sprache.
Seit den 1950er-Jahren verlassen sich die Wirtschaftswissenschaften immer stärker auf mathematisch-formale Argumente. Wie der türkische Ökonom Dani Rodrik treffend formulierte, liegt das aber nicht daran, dass Ökonom*innen besonders schlau wären. Stattdessen seien sie nicht schlau genug.
Zusammenhänge, die in mathematischen Formeln ausgedrückt werden, sind eindeutig definiert. Niemand muss darüber diskutieren, was eine Formel meint, wohingegen die rein verbalen Argumente eines Karl Marx bis heute Ausgangspunkt zahlreicher Debatten unter engagierten Studierenden sind.
Die technokratische Aura des Unpolitischen
Diese technische Sprache hat zwei unmittelbare Folgen: Sie ist für Außenstehende kaum verständlich und sie verleiht der Disziplin eine technokratische und damit unpolitische Aura. Den Argumenten von Historiker*innen oder Anthropolog*innen lässt sich als Laie wenigstens ansatzweise folgen, vor der Formelflut der Ökonom*innen nehmen die meisten schnell Reißaus. Deshalb können Nicht-Eingeweihte – die meisten Politiker*innen und Journalist*innen eingeschlossen – kaum beurteilen, wie gut die Arbeit von Ökonom*innen wirklich ist.Wichtiger noch: Die Verwendung mathematischer Ausdrücke vermittelt den Eindruck der Ideologiefreiheit. Dabei ist die Entscheidung, ob man ein ökonomisches Modell dem anderen vorzieht, genauso politisch wie die Frage nach einer konkreten Staatsform. Die Wirtschaftswissenschaften sind keine Naturwissenschaft, die unveränderliche Naturgesetze untersucht – auch wenn sie häufig etwas anderes vermitteln.
Spätestens seit der globalen Finanzkrise 2008/2009 sehen sich Ökonom*innen vermehrt öffentlicher Kritik ausgesetzt – zu Recht! In Zukunft müssen wir uns bewusst machen, dass die Politikempfehlungen von Ökonom*innen auch ihre ideologische Prägung widerspiegeln, ganz unabhängig, wie objektiv ihre mathematische Sprache wirkt. Nur wenn wir das im Hinterkopf behalten, können wir aus dem, was die Wirtschaftswissenschaften liefern, einen wichtigen Beitrag zur Erklärung unserer Welt ableiten.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.
August 2025