Trudruá Dorrico  Um zu leben, muss man offiziell sein

Um zu leben, muss man offiziell sein © Wilson Borja

„In Wirklichkeit entspringt unsere Welt dem heiligen Baum, der Monte Roraima genannt wird und der Anfang ist, unser Zentrum und Nabel“, schreibt die Autorin Trudruá Dorrico über die letzten Völker, die als brasilianische Staatsbürger anerkannt wurden, obwohl sie die ersten waren, die dieses Land bevölkerten, bevor es durch Linien, Karten und alphabetische Dokumente verändert wurde.

Offiziell, erste Bedeutung: ausgeführt von der Regierung oder einer anerkannten Verwaltungsstelle. Zweite Bedeutung: von einer staatlichen oder dafür zuständigen Behörde ausgestellt. Zwischen geboren zu werden und sterben muss man offiziell leben. Also bin ich geboren worden. Als ich geboren wurde, zählte man das 17. Jahr, dass Brasilien eine Lösung gefunden hatte für das „Problem“ der Indigenen Völker, aller nicht-offiziellen Nationen innerhalb dieser von außen, von Westeuropa aus entstandenen.

Wenn wir sagen, Katechisieren heißt Kolonisieren so meinen wir damit, dass der Institution, die wir „Kirche“ nennen, zu Zeiten des Kaiserreichs durch die Errichtung von Pfarreien die Verwaltung sämtlicher Dokumente menschlicher Subjekte oblag. Es gibt eine lange, blutige, niederträchtige und vor allem vertuschte Geschichte der Kirche in Bezug auf die Indigene Bevölkerung. Ich war schon erwachsen, als ich das Buch Espelho índio. A formação da alma brasileira (Dt. etwa: Der indianische Spiegel. Das Entstehen der brasilianischen Seele) [Roberto Gambini 1998] gelesen habe und erkannte, dass wir das schlechte Gewissen der Kirche sind, ihre strategische Art, sich selbst und andere davon zu überzeugen, dass Genozid etwas Natürliches sei. Das in den unterschiedlichsten Formen der Verdrehung von Geschichte verborgene Übel. Der Kolonialismus erfand den Euphemismus, um sich über sich zu erzählen. Um leben zu können, muss man sich diese Grausamkeit klar machen.

Über das Existieren in einem Nationalstaat stelle ich weiter fest: Erst 1874 mit dem Dekret Nummer 5604 vom 25. April wurde in Brasilien ein Personenstandsregister eingeführt.  Ich will den Namen des dafür verantwortlichen kaiserlichen Abgeordneten nicht einfach so nennen, tatsächlich aus Trotz. Es ist nicht schwer, dies anderweitig herauszufinden. Das Dekret regelt die Erfassung von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen. Und weitere 15 Jahre später, am 1. Januar 1889, regelt die Gesetzesverordnung 9886 die zwingende standesamtliche Zuständigkeit staatlicher Stellen und entzieht sie damit der Katholischen Kirche.

Die Lösung für nicht-offizielle Bevölkerungsteile und Menschen wurde dann mit dem Gesetz Nr. 6001 vom 19. Dezember 1973, dem sogenannten „Indianerstatut“ und die Einrichtung eines „administrativen Geburtenregisters für Indigene“ (RANI) geschaffen. Das liest sich so: Der Eintrag im Verwaltungsregister dient bei Bedarf als Dokument für die entsprechende zivilrechtliche Eintragung und kann in Ermangelung derselben als Nachweis [der Geburt] dienen. Das Verwaltungsregister wird in eigenen Büchern durch Beamte der Nationalstiftung für Angelegenheiten der Indigenen Bevölkerung FUNAI geführt, und für jeden Eintrag wird ein entsprechendes beglaubigtes und unterschriebenes Dokument ausgehändigt. Dieses ersetzt, da es sich um ein Verwaltungsdokument handelt, nicht die Geburtsurkunde.

„Als Indigener eingetreten, als Brasilianer herausgekommen“

Ich sehe folgende Phantasmagorie: Ein nackter Körper geht auf das Standesamt zu, erwachsen, schweigend, mit gesenktem Kopf, betritt die Behörde, kommt wieder heraus, steht am Horizont nun in Jeans und Hemdkragen, unter dem Arm eine Mappe, auf der groß „Geburtsurkunde“ zu lesen ist, darunter eine Vorlage des RANI, von ihm selbst unterschrieben, und er geht weiter und verschwindet hinter dem Horizont. Als Indigener ist er dort eingetreten, als Brasilianer wieder herausgekommen. Aber nur für das Amt, nur für die Kirche, nur für den Staat, nur für Brasilien. Das Bild des indigenen Menschen auf dem Weg zum offiziellen Standesamt ist allzu brutal. Ich bitte um Verzeihung dafür, es verwendet zu haben als Ausdruck des kollektiven Schmerzes, den wir nach wie vor aushalten müssen im Umgang mit etwas, das für uns „aus der Stadt“ kommt, nach wie vor bedrängt von der Philosophie des „Vormoderne versus Moderne“.

„Entdeckt sie mit der Stadt. (…) Löscht sie aus in die Städte, die nach ihren Gebeinen benannt sind, bis ihr selbst die neuen Indigenen eurer neuen Städte seid.“ Die Lyrik von Natalie Diaz [indigene Autorin, Mojave, geboren in Needles im Südosten der USA] bleibt einem im Hals stecken, vielleicht lässt sich dieser Schmerz lindern mit dem, was der indigene Anführer Cacique Raoni Metuktire [aus dem Volk Caiapó] sagt, der uns daran erinnert, dass wir es waren, die dieses Land als erste betraten und es besiedelt haben. Wir müssen uns unserer Vergangenheit zärtlich erinnern.

Eine transitorische Kategorie. Transitorisch. Im Übergang vom Primitiven zum Zivilisierten. Wir sind das schlechte Gewissen des Kolonisators, das Andere seiner selbst. Wir kennen die Bedeutung von wild sehr genau, und zwar nicht, weil wir selbst es wären, sondern weil wir das Kreuz erlebt haben, das Schwert, das Virus, die portugiesische Sprache, den gerechten Krieg, Pombals Direktorium, das Landgesetz, [die Indianerschutzbehörde] SPI, [ihre Nachfolgeorganisation] FUNAI, das „Indianerstatut“ [Estatuto do Índio], die Militärdiktatur, Marco Temporal [die Stichtagsregelung für Indigene Landrechte] als einzelne Kapitel all dessen, was weiterhin jenem Zentrum entspringt, mit dem die Zerstörung des uns Eigenen begann.

Um in einem Land zu leben, muss man offiziell sein. Das ist uns 1988 gelungen, als wir als letzte auch offiziell Brasilianer wurden. Es trifft nicht zu, wenn wir sagen, wir seien die ersten, die ersten Bewohner Brasiliens. Wir waren die letzten Völker, die als brasilianische Staatsbürger anerkannt wurden, obwohl wir die Ersten waren, die dieses Gebiet bewohnten, bevor es durch Linien, Karten und alphabetische Dokumente Brasilien wurde.

„Wir mussten das uns Eigene verleugnen“

Also bin ich zwei Jahre nach der Carta Magna geboren, die uns das Recht auf die brasilianische Staatsbürgerschaft  zugestand ohne Assimilierung, Übergangsfristen, ohne „Problem“. Meine Mutter wurde 1964 als Makuxi geboren. Dort, wo sie zur Welt kam, nahe Yorora Head, gab es kein Standesamt, aber einen Sitz der Kirche, weshalb sie bis heute einen Termin mit dem Priester machen muss, um an die Dokumente zu kommen, die sie als Makuxi ausweisen. Sie wurde Staatsbürgerin von Guyana und zog nach Brasilien.

Um offiziell leben zu können, genügt es, einzugestehen, dass du keiner anderen Nation unterstehst, keine andere Nation hast, dass dies – es ist in Ordnung – das Leben ist. Man braucht Dokumente, um Rechte und Pflichten zu haben, man muss schließlich offiziell leben in diesem Land. Also wurde ich registriert. Unter einem englischen Namen, der portugiesisch gemacht wurde. Zweierlei, das ich ablehne und dem ich mich verweigere. Aber erst heute, denn als ich geboren wurde, wusste ich noch nicht, wusste meine Mutter nicht, wir wussten nicht, dass wir, um in diesem Land offiziell leben zu können, das uns Eigene verleugnen mussten.

Heute verschlinge ich alles. Ich habe Hunger. Verschlinge die portugiesische Sprache. Verschlinge dieses Land und alle Nationalstaaten, kaue, verdaue und verspreche damit erst aufzuhören, wenn ich sie zu Vielvölkerstaaten gemacht habe. Der Süden und der Südwesten behaupten, das Territorium der Makuxi sei das Ende der Welt, weil es im Norden Brasiliens liegt, am Rande des Randes, doch ich wage zu erwidern, dass unsere Welt in Wirklichkeit einem heiligen Baum entspringt, der Monte Roraima genannt wird und Anfang ist, unser Zentrum und Nabel. Da es der Wahrheit entspricht, beglaubige und unterschreibe ich diese Erklärung im Jahr 2023.

Das könnte auch von Interesse sein

Failed to retrieve recommended articles. Please try again.