Lokalpolitik  Ein Bürgermeister kann mehr als Moskauer Propaganda

Partizánska Ľupča
Blick auf Partizánska (früher Nemecká) Ľupča Foto: © Martin Sprušanský

Wie die Menschen in der Slowakei Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine aufnehmen, hängt von vielen Dingen ab. Zu Beginn des Krieges war öffentliche Meinung und Handeln geprägt von einer natürlichen Solidarität mit den Opfern der russischen Aggression. Aber auch hybride Kriegsführung und die Verdummung des Publikums in sozialen Netzwerken spielten eine Rolle. Ein Übriges trägt das traditionelle prorussische Sentiment vieler Slowak*innen bei, die nicht aus dem mystischen Dunst eines Panslawismus heraustreten wollen. Auf dem slowakischen Land wiederum hängt vieles – im Guten wie im Schlechten – ab vom Einfluss lokaler Anführer.

Dieser Text ist eine Fallstudie, eine bescheidene soziokulturelle Sonde und eine Reflexion der persönlichen Erfahrungen des Autors in einem. Achtung: Hier werden weder prorussische Ansichten noch andere Unannehmlichkeiten, die in den Köpfen der Menschen auftauchen, auf wundersame Weise erklärt. Glücklicherweise haben wir noch immer die Freiheit, die Welt um uns herum auf eigene Art und Weise zu reflektieren, und so ist auch der Einfluss von Lokalpolitiker*innen nicht absolut.

In jedem Fall schaffen Bürgermeister*innen (und mit ihnen einige weitere Meinungsmacher*innen) eine Atmosphäre, geben Themen vor, kultivieren, moderieren oder – im schlimmsten Fall – zersetzen die lokale gesellschaftliche Debatte.

Partizánska Ľupča und Ľubeľa sind zwei Gemeinden inmitten in der Region Liptov (Liptau). Sie liegen nur wenige Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Der Autor hat mehrere Jahre in der ersten Gemeinde gelebt, stammt jedoch aus der zweiten Gemeinde und kennt die dortigen Bedingungen gut.

Die Dörfer sind sich sehr ähnlich, haben in etwa die gleiche Einwohnerzahl (ungefähr 1200) und eine ähnliche religiöse Zusammensetzung mit einer katholischen Mehrheit. Beide liegen auf der Linie, die die überwiegend katholische Untere Liptau von der protestantischen Oberen Liptau trennt. Die Religion ist im Leben der hiesigen Menschen überwiegend eine gesellschaftliche Dekoration. Die Dörfer sind laizistisch. Selbst die Älteren grüßen den Pfarrer mit einem zivilen Guten Tag.

Bürgermeister*innen schaffen eine Atmosphäre, geben Themen vor, kultivieren, moderieren oder – im schlimmsten Fall – zersetzen die lokale gesellschaftliche Debatte.“

Vergangener Ruhm und Grillkomfort

Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied. Während Ľubeľa immer nur ein einfaches Dorf gewesen ist, war Partizánska Ľupča (bis zum Zweiten Weltkrieg Nemecká Ľupča, also Deutschliptsch) einst das städtische Zentrum der Liptau, wichtig und hatte eine Ausnahmestellung in der Region.

Die Spuren des einstigen Glanzes sind noch vorhanden: In der Mitte des Dorfes befindet sich ein Marktplatz, der Turm der Pfarrkirche ist weit und breit der höchste. Das denkmalgeschützte Zentrum besteht aus Bürgerhäusern, die heute in einem desolaten Zustand sind und auf dem Immobilienmarkt vor allem durch ihren niedrigen Preis Interesse wecken. Auf dem Friedhof von Ľupča ruhen Dutzende bedeutende Persönlichkeiten, von denen viele auch einen Eintrag in diversen Enzyklopädien haben.

Nach dem Krieg wurde Nemecká Ľupča in Partizanská Ľupča umbenannt, da die nahegelegenen Täler der Niederen Tatra das Zentrum des Partisanenwiderstands waren. Zwischen den Türmen der beiden Kirchen steht ein saniertes Denkmal des Slowakischen Nationalaufstands.

Auch in Ľubeľa befindet sich vor dem Kulturzentrum ein steinernes Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand. Den Einheimischen geht es gut. Die meisten leben in großen Familienhäusern. Sie fühlen sich wohl und verbringen ihre Wochenenden auf der Terrasse am Grill, mit verträumtem Blick auf das Auto im Hof.

Trotz der historischen Unterschiede gleichen sich die Wahlergebnisse der Einwohner von Partizánska Ľupča und Ľubeľa bei den Parlamentswahlen. Viele Stimmen gehen dort regelmäßig an autoritäre Bewegungen (Vladimír Mečiars HZDS), die Nationalisten (SNS) oder Populisten, die vorgeben etwas anderes zu sein, und wollen, dass man sie Sozialisten nennt (Robert Ficos Smer und deren Parteiklone).

Aufführung einer slowakisch-ukrainischen Theatergruppe im Kulturzentrum von Partizánska Ľupča (27. März 2022) Aufführung einer slowakisch-ukrainischen Theatergruppe im Kulturzentrum von Partizánska Ľupča (27. März 2022) | Foto: © Martin Sprušanský

Idealist vs. Pragmatiker

Nun ist es aber an der Zeit, die lokalen Politiker vorzustellen. Ľupča hatte jahrelang einen pragmatischen Bürgermeister, der allerdings durch seine Verbindungen zu den Nationalisten diskreditiert war. Nach ihm übernahm ein Mann wie „von einem anderen Planeten“ die Leitung der Gemeinde: ein junger bürgerlicher und kultureller Aktivist, unkonventionell und unabhängig von politischen Schubladen, der sich für das Ideal des Gemeinschaftslebens begeistert, für die Menschenrechte und das demokratische Ethos – und ohne die Vorliebe für Geschäftchen zur eigenen Bereicherung.

Die Mentalität in Ľubeľa wird wiederum seit mehreren Amtszeiten durch einen Bürgermeister geprägt, der für die Slowakische Nationalpartei SNS kandidiert hat. Er war sogar Bezirkschef in dieser nationalistischen Partei, hat einen Titel sowohl vor als auch hinter seinem Namen und sitzt im Rat des Selbstverwaltungsbezirks Žilina. Nach einem Konflikt mit dem SNS-Vorsitzenden Andrej Danko trennte er sich von den Nationalisten und vertritt nun in der Öffentlichkeit die Farben der sozialdemokratischen Partei Hlas. Damit scheint seine Zukunft wieder hoffnungsvoll zu sein.

Er liebt nichtssagende Reden und spricht (und schreibt) über Nation und Tradition, auch wenn sich im Moment niemand vorstellen kann, welche Traditionen genau er im Sinn hat. In seinem Büro hat er statt des Porträts der [sozialliberalen] Präsidentin ein Bild von Andrej Hlinka [*1869 - †1938; führender slowakischer nationalistischer Politiker und Kleriker der Zwischenkriegszeit, Anm. d. Red.] aufgehängt. Seit Jahren braut er für die Menschen eine gefällige Mischung zusammen: ein bisschen Glaube, ein Kilo Nationalgefühl und auch einem Kranz zum Gedenken an die Held*innen des Nationalaufstands verweigert er sich nicht.

In der Gemeinde ist er erfolgreich. Er möchte, dass alle sehen, dass er ein Macher ist. Schließlich wollen die Bürger*innen ein schöneres Kulturzentrum, neue Wohnblocks und dass die Straße repariert wird. Denn die Politik, die interessiert die Menschen doch gar nicht! Seine Anhänger*innen aber versorgt er unbewusst oder unterbewusst mit Botschaften, die einer klaren politischen und wertorientierten Linie folgen, mit der er bei den Einheimischen auch nicht aneckt. Schamlos schreibt er über den Ausverkauf der Regierung, liberale Verdorbenheit und unlautere Medien.

Niemand kann ermessen, wie viel Egoismus und Menschlichkeit in den Bürger*innen der beiden Liptauer Gemeinden steckt. Es handelt sich um subtile Skizzen der sozialen Atmosphäre, Ausdruck von Solidarität oder Zuwendung für Leidende.“

Praktische Auswirkungen

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat den Einfluss der politischen Anführer plötzlich sehr deutlich gemacht. Etwa drei Tage nach Beginn der Invasion organisierte der Bürgermeister von Partizánska Ľupča erste Hilfsangebote für Geflüchtete, sogar in seinem eigenen Haus. Nach ein paar Tagen waren hundert ukrainische Geflüchtete in Ľupča untergebracht, hauptsächlich Mütter mit Kindern. Der evangelische Pfarrer brachte nicht nur Menschen im Pfarrhaus unter, sondern organisierte auch Gebete für die Ukraine in der Kirche. Das örtliche Gemeindetheater mit seinem Laienensemble bereitete eine gemeinsame Aufführung mit Theaterschauspieler*innen aus Kyjiw vor, die nun vorübergehend zu Geflüchteten geworden sind. Die Einheimischen unterstützten dies eindeutig und es gab keine nennenswerten Gegenstimmen.
 

„Kiew“ ist die deutsche Version des russischen Namens der ukrainischen Hauptstadt. Auf Ukrainisch heißt es Київ (Kyjiw). Spätestens seit der Invasion ist die Bezeichnung „Kiew“ zu einem symbolischen Überbleibsel der russisch-sowjetischen Kolonialisation geworden. Respektvoller ist es, die Hauptstadt der Ukraine als „Kyjiw“ zu transkribieren. | Anm. d. Red.

Der Bürgermeister von Ľubeľa machte Dienst nach Vorschrift und kümmerte sich um die grundlegenden Aufgaben, die den Gemeinden im Zusammenhang der Ankunft der ersten Geflüchteten aus der Ukraine auferlegt wurden. Nebenbei schaffte er es jedoch noch, auf Facebook kundzutun, dass das mit den Kriegsschuldigen kompliziert sei und er sich „auf Niemandes Seite“ stelle. Schon nach wenigen Wochen warnte er (unter Beifall seiner Follower), dass wir doch um Gottes Willen die Ukrainer*innen nicht bevorzugen dürften. In seinem Dorf kamen etwa zehn Flüchtlinge unter. Aus allen öffentlichen Äußerungen des Bürgermeisters wurde deutlich, dass für ihn die lokalen Vergnügungen und Pläne zum Wohle der Bürger Vorrang hätten. Was sonst erwarten die Menschen denn schließlich von einem Bürgermeister?

Er hat nichts Schlimmes gemacht, aber auch nichts besonders Menschliches. Er ist in seiner eigenen Komfortzone geblieben. Und zum tausendsten Mal hat er bei seinen Mitbürgern unnötige Unzufriedenheit, eine Verklärung der Vergangenheit und einen niederen kollektiven Egoismus geschürt. Sein Einfluss auf die Einheimischen ging nicht hinaus über die Gestalt eines Kommunikationskanals, der mit leeren Phrasen vollgestopft war. Ganz versunken in sein eigenes schmieriges Gerede über Werte versäumte er, den „Seinen“ auch nur einen konkreten Wert in Bezug auf die Ukraine in Erinnerung zu rufen.

Diese Unterschiede in Art und Stärke der Gemeindeführung sind empirisch nicht messbar. Niemand kann ermessen, wie viel Egoismus und Menschlichkeit in den Bürger*innen der beiden Liptauer Gemeinden steckt. Es handelt sich um subtile Skizzen der sozialen Atmosphäre, Ausdruck von Solidarität oder Zuwendung für Leidende. Die Qualität dieser Führung hat keinen Einfluss auf die Zukunftsaussichten beider Bürgermeister. Leider kann es sein, dass „gute Taten nach Verdienst bestraft werden“.

In jedem Fall zeigt sich hier auch ein Weg zur Entwicklung des sozialen Zusammenhalts unter normalen Bedingungen im ländlichen Raum der Slowakei. Der Einfluss lokaler Politiker*innen kann von entscheidender Bedeutung sein und großes Potenzial bieten. Hier werden persönliche Qualitäten auf den Prüfstand gestellt und in kritischen Momenten hat der Einfluss praktische Auswirkungen.

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