Sascha aus Odesa  Der Letzte seiner Klasse

Oleksandr Kowaldskyj vermisst seine Freund*innen. Er ist als einziger seiner Deutsch-Abschlussklasse in der Ukraine geblieben.
Oleksandr Kowaldskyj vermisst seine Freund*innen. Er ist als einziger seiner Deutsch-Abschlussklasse in der Ukraine geblieben. Foto: © Peggy Lohse

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine haben tausende Familien das Land verlassen, besonders jene mit Fremdsprachenkenntnissen und Auslandskontakten. Oleksandr Kowalskyj ist als einziger seiner Deutsch-Klasse nach dem Schulabschluss 2022 in Odesa geblieben.

Oleksandr Kowalskyj, Rufname Sascha, hat im Juli 2022 im südukrainischen Odesa seinen Schulabschluss gemacht, der etwa dem deutschen Abitur entspricht. Da führte Russland bereits fünf Monate seinen brutalen Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine.

Sascha besuchte ein Gymnasium mit Deutsch-Schwerpunkt. Mit seinen 17 Jahren und Kenntnissen in mehreren Fremdsprachen hätte er mit besten Voraussetzungen für die Zukunft ins Ausland fliehen können. So haben es letztlich alle seine Mitschüler*innen und ihre Familien entschieden. Er aber blieb.

Odesa ist die deutsche Transkription der ukrainischen Schreibweise. Der Städtename Одеса wird auf Ukrainisch ebenso wie der Name der Region Donbas (Донбас) mit nur einem s geschrieben. | Anm. d. Red.

Damit ist Sascha der einzige aus seiner Deutsch-Abschlussklasse, der Odesa und die Ukraine nicht verlassen und sich stattdessen an einer örtlichen Universität immatrikuliert hat. Seine Freund*innen trifft er nun nur noch online. Wenn Sascha im Herbst 18 wird, wird er im Land bleiben müssen, solange noch Krieg ist. Denn Männern im kampffähigen Alter von 18 bis 60 Jahren ist, bis auf einige Ausnahmen, die Ausreise verboten.

Er weiß das. Warum er sich dennoch fürs Bleiben entschied und wie es ihm damit geht, erzählt er im Interview.

Sascha, was machst du jetzt nach der Schule?

Ich studiere jetzt im ersten Studienjahr Cyber Security am IT-Institut, hier im Zentrum von Odesa, direkt neben dem Gebäude des SBU, des ukrainischen Geheimdienstes. Ich habe diesen Studiengang gewählt, weil er sehr populär ist und weil ich in Mathe sehr gut bin. Ich hatte mich schon in der 10. Klasse für dieses Studium entschieden. Früher wollte ich mal Koch werden, aber das interessiert mich jetzt nicht mehr.

Ich interessiere mich jetzt für IT und habe in der Schule schon Erfahrungen im Programmieren sammeln können. Wer Cyber Security belegt, kann später auch bei der Polizei oder dem Militär arbeiten. Für Leute wie mich gibt es aktuell allerdings wenig Jobs − sehr viele Bewerber, aber wenig Angebote. Ich hab zum Glück ein Stipendium und muss neben dem Studium noch nicht arbeiten.

Wie lief der Schulunterricht bei euch nach dem russischen Überfall 2022, so kurz vor den Abschlussprüfungen?

Ich hab tatsächlich nicht so einen guten Abschluss gemacht, wie ich wollte. Wegen des Krieges ist die Unterrichtsqualität stark gesunken. Dabei sollten wir uns gerade seit Februar intensiv auf die Prüfungen im Juli vorbereiten.

Ende Februar hatten wir aber erstmal einige Wochen gar keinen Unterricht, dann wieder digital wie zu Corona-Zeiten. Aber kaum jemand war online, weil ja viele ins Ausland geflohen sind. Schüler und Lehrerinnen. Von der Pandemie wussten wir zwar noch gut, wie man Homeschooling macht. Aber wenn viele im Ausland ganz andere Sorgen haben, bremst das das Tempo und die Aufmerksamkeit. Wir haben also nicht alle Themen bis zum Abschluss geschafft.

Für uns wurden vereinfachte Abschlussprüfungen eingeführt. Die waren viel leichter als früher. Aber am Ende hatten wir nicht einmal einen Abschlussball. Das ist enttäuschend, wir hatten schon viel vorbereitet.

Und letztlich sind aus deiner Klasse auch alle weggegangen…

Ja, das war für mich enttäuschend. Ein Schock. Ich erinnere mich noch, wie wir am Mittwoch − der Krieg begann ja am Donnerstag − bei uns im Hof standen und uns über irgendwelchen Quatsch unterhielten.

Am Donnerstag dann, um fünf Uhr morgens, schreibt mir eine Freundin: „Hier gibt es Explosionen!” Ich denke noch: Was für Explosionen sollen das sein? Dann hörte ich in der Ferne auch etwas. Aber ich habe sie beruhigt, schrieb ihr: „Hab keine Angst!”

Um sieben Uhr wache ich wieder auf, schon vom Beschuss. Der große Krieg gegen uns hatte begonnen.

Wir waren total nervös, gingen nur raus, wenn es absolut nötig war. Alle waren in Panik. Innerhalb weniger Wochen sind die meisten Familien weggefahren. Nach einem Monat waren fast alle weg und es war klar, dass sie so schnell nicht wiederkommen. Ich blieb übrig − ohne Mitschüler, ohne Freunde.

Ein paar Mitschüler meldeten sich zur Territorialverteidigung, aber die waren damals 16 und wurden nicht genommen. Mittlerweile sind auch sie fort. Eine gute Freundin hätte letztes Jahr aus den USA wiederkommen sollen. Ich hab sehr auf sie gewartet, aber wegen des Krieges ist sie geblieben.

Viele von meinen Mitschülern hatten schon einen Deutsch-C1-Abschluss, manche planten sowieso, nach Deutschland zu gehen. Andere hatten Angst, dass Kyjiw eingenommen werden könnte. Also gingen sie weg. Ich dagegen brauche mein Deutsch-Sprachdiplom jetzt kaum.

Wie habt ihr in der Familie entschieden: Bleiben oder gehen?

In den ersten Wochen haben wir nicht verstanden, was passiert. Ich lebe mit meinen Eltern hier in einem neunstöckigen Hochhausblock. Meine ganze Familie stammt aus dem Gebiet Odesa, nur meine Urgroßeltern aus Winnyza in der Westukraine. Irgendwo haben wir sicher auch polnische Wurzeln, denn mein Familienname Kowalskyj ist ja polnisch.

Mein Vater arbeitete früher in einer Matrosen-Gewerkschaft, er ist jetzt schon in Rente. Meine Mutter ist Französisch-Lehrerin. Wir sind auch früher nie weit verreist. Ich war noch nie im Ausland, nur für Badminton-Turniere mal in Mikolajiw. Und auch jetzt sind wir nicht weggefahren.

Bei uns leben noch meine Großeltern, die sind schon sehr alt und wenig mobil. Sie hier zurückzulassen, war für uns nie eine Option. Darum blieben meine Eltern hier. Und ich mit meinen Eltern.

Es war natürlich schrecklich, ich hatte in den ersten Wochen große Angst. Ich erinnere mich noch, wie damals irgendwelche zwielichtigen Leute durch die Stadt liefen und seltsame Markierungen an Häusern befestigten. Das sollen Zielpunkte für Beschuss gewesen sein. Bei uns ist glücklicherweise noch nie etwas eingeschlagen.

Mit der Zeit ist die Gefahr von Odesa weggedrängt worden, seitdem konnten wir uns ein wenig entspannen. Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Und ich wollte sowieso nie wegziehen zum Studium. Odesa ist eine gute Stadt.
 

Die Ukraine ist ja schon dein halbes Leben im Krieg. Hast du früher die Kämpfe im Donbas seit 2014 verfolgt?

Nicht besonders aktiv. Als das begann, war ich ja keine zehn Jahre alt. Noch zu klein, um mich dafür zu interessieren. Später war es dann irgendwie normal für meine Generation.

Was passiert, wenn du im Oktober 18 wirst? Ausreisen kannst du dann ja nicht mehr.

Jetzt studiere ich ja, und Studenten im Vollzeit-Präsenzstudium werden bisher nicht eingezogen. Auch zum Wehrdienst nicht. Ich werde also mein Studium abschließen, ich hoffe der Krieg endet bis dahin. Wenn nicht, werde ich sehen, ob ich eingezogen werde oder nicht. Programmierer wie ich können ja auch sehr nützlich sein in der Armee.

Was hat der Krieg für dich am meisten verändert?

Vor allem, dass ich hier in Odesa keine Freunde mehr habe. Ein paar Bekannte sind noch hier. Mit engen Freunden habe ich jeden Tag online Kontakt. Natürlich würde ich sie lieber treffen, aber bisher kam nur eine Freundin aus Deutschland zu Besuch.

Einige werden sicher dort bleiben, wo sie jetzt sind. Andere wollen zurück, aber ich weiß nicht, wie ernst das gemeint ist. Am Anfang will man sicher zurück, aber dann gewöhnt man sich an das Umfeld. Ich will auf nichts hoffen, um nicht enttäuscht zu werden.

Haben sich die Themen mit deinen Freunden verändert?

Ich glaube, unsere Themen sind erwachsener geworden. Einige arbeiten schon oder studieren auch. Wir werden erwachsen. Das Leben wird anders.

Meine Freunde, die jetzt in Deutschland sind, waren meine Klassenkameraden. Früher redeten wir immer über Schule, gemeinsame Bekannte. Das fällt jetzt weg. Aber meine Freundinnen in Amerika waren nie in meiner Klasse, darum fehlt uns nun nichts. Wir schreiben uns jeden Tag, das ist toll und hilft mir sehr.

Ich habe mich seit Kriegsbeginn daran gewöhnt, mehr allein zu sein. Ich lerne und studiere jetzt einfach mehr.

Schmiedest du auch Zukunftspläne?

Die Uni beenden, versteht sich. Aber das wird kein Problem werden. Mit 18 will ich mir dann Arbeit suchen, im IT-Bereich. Ich will bald von eigenem Geld leben und Erfahrungen sammeln. Was soll ich auch anderes machen als arbeiten: Mich interessiert meine Arbeit, ich will mich da weiterentwickeln.

Und ich will natürlich, dass der Krieg endet. Und dass vielleicht doch einige Menschen wiederkommen. Vielleicht finde ich auch neue Freunde, in der Uni sind tolle Kommilitonen. Aber lieber wäre mir, wenn enge Freunde wiederkämen.

Nachtrag:

Das Interview fand im April 2023 statt. Mitte Juli hat Russland das Getreideabkommen aufgekündigt und beschießt stattdessen täglich die Getreidelager in der Hafenstadt Odesa und ihrer Region. Auf Nachfrage schreibt Sascha über die Lage Ende Juli per Messenger: 

Ja, die letzten fünf Tage waren nachts sehr angespannt, die Explosionen sind sehr laut. Man bekommt unwillkürlich Angst, aber meine Familie und ich kommen damit zurecht und wir versuchen, nicht den Mut zu verlieren. Außerdem gewöhnt man sich ein wenig daran, wenn man lange Zeit in einer solchen Umgebung ist.

Die letzte Nacht war mehr oder weniger ruhig, aber in den vorangegangenen Nächten habe ich stundenlang nicht geschlafen. Die Wohnung hat gezittert und der Himmel hat geleuchtet. Als der Beschuss endete, waren wir froh, dass es vorbei war.

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