Risiken des künstlerischen Schaffens  Hard work / artwork

Low angle photography of drop lights Foto: Skye Studios via Unsplash | CC0 1.0

Was können generationenübergreifende Begegnungen zwischen Künstlerinnen bringen? Was ist originell und was ist bereits parasitär? Ist es wichtiger, erfolgreich oder authentisch zu sein? Diese Kurzgeschichte erkundet die Fallstricke des professionellen Kunstschaffens, kulturelle Ermüdung und zwischenmenschliche Spannungen auf dem Weg zum Selbstausdruck.

Bevor Gabi sich zum Sucher herunterbeugte, zum dritten Mal die Schärfe des Bildes kontrollierte und schließlich auf REC drückte, richtete sich Zina noch kurz die Haare und zog ihren Pulli glatt.
Sie beobachtete jede von Gabis Bewegungen. Obwohl sie einfach nur dasaß und sich bemühte, entspannt zu wirken, strich Zina in Gedanken die Punkte auf einer imaginären To-Do-Liste durch. Doch letztendlich waren es nicht ihre Hände, die die Liste abarbeiteten, sondern Gabis.
„Das Fenster würde ich erst zum Schluss zu machen“, deutet Zina für sich das Vorgehen der anderen, entschied sich jedoch diesen Satz nicht auszusprechen. Die Wohnung befand sich in einer belebten Straße, aber vor dem Dreh musste unbedingt gelüftet werden.

Jeder wollte die abgefahrene Geschichte hören. Aber wo anfangen?
„Erzähl mir von deinen Anfängen, Zina“, hörte sie Gabi aus dem Off sagen.
Zina hatte noch nicht ganz herausfinden können, ob Gabi eher die Story über den intergenerationellen Dialog oder lieber die von dem unglaublichen Zufall hören wollte. Gabi wollte eher interessant als tiefgründig wirken und Zina fühlte sich nicht sehr wohl in ihrer Haut.

„Es war ein paar Jahre nach dem Abschluss, anders als bei meinen berühmten Kolleginnen und vor allem Kollegen, konnte man über mich nicht sagen, dass ich mich irgendwie etabliert hätte. Ich habe versucht, in Belgien zu leben und auch in Österreich, aber es waren hauptsächlich persönliche Gründe, aus denen ich schließlich wieder zurückgekommen bin“, hörte sie sich sagen. Gabi wirkte irgendwie ungeduldig, deshalb würde sie ihr nicht von dem unglücklichen Ende einer Beziehung hinter den Alpen erzählen.
„Ich hab damals in der Mensa gearbeitet, eine Wohnung gesucht oder vielleicht eher ein Zimmer zur Miete als Atelier, in dem ich außerdem auch wohnen wollte.“ Zina schaute an der Kamera vorbei.
„Ich bin zu allen möglichen Wohnungsbesichtigungen gegangen, aber mir hat einfach nichts gefallen oder ich konnte es mir nicht leisten. Irgendwann war ich in so einem Pawlatschenhaus, es wurde durch eine Art Zwischenwand in zwei Teile geteilt, sodass zwei getrennte lange Schläuche entstanden. Die eine Seite war zu vermieten und in der anderen wohnte eine alte Dame mit völlig weißem aber krass gelocktem Haar. Das kommt nicht so oft vor, ist dir das mal aufgefallen, wie Leute mit lockigen Haaren grau werden? Salz und Pfeffer. Aber sie hatte ganz volles und vollkommen weißes Haar.“ Zina hatte das Gefühl, dass sie völlig vom Thema abgedriftet war. Ging es Gabi vielleicht auch so?
„So habe ich also Antonia Heřmanová kennengelernt“, sagte Zina lächelnd in die Kamera, aber Gabi lächelte nicht zurück.
„Ich bin dort eingezogen, das war ungefähr 2005. Ich habe über ein Jahr da gewohnt und Antonia immer nur frühmorgens gesehen, wenn sie zum Kiosk ging, um Zigaretten zu kaufen. Sie hat mich nie auf meiner Seite besucht und ich sie auch nicht auf ihrer. Die Miete habe ich immer in einen Umschlag gesteckt und ihr aufs Schuhregal gelegt. Erst nach über einem Jahr ist es mal vorgekommen, dass der Briefumschlag noch am nächsten und übernächsten Tag im Flur lag. Also wollte ich nach ihr sehen. Bis dahin war ich noch nie bei ihr drin gewesen. Sie war schlimm gestürzt, hatte sich bis zum Bett geschleppt und wollte dort warten, bis der Schmerz im Bein und im Becken nachließ“, Zina schluckte und blinzelte zu Gabi. Ihre Züge waren unerwartet locker, aber nicht entspannt.
„So habe ich die Gobelins entdeckt, an denen Antonia den ganzen Tag arbeitete. Es waren nicht sehr viele. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, nach der Arbeit zu Hause zu weben, seit der Zeit, als sie im Ersten staatlichen Maschinenbaubetrieb als Zeichnerin angefangen hatte. Als sie geheiratet hatte und einen Sohn bekam, fand sie nur spät abends Zeit zum Weben, ihre Arbeiten bekamen nun andere Farben – solche, die im künstlichen Licht der kleinen Lampe am besten wirkten, weil sie eigentlich nur nachts Zeit für ihre eigene Kunst hatte. Und dann begann sie damit, in ihre Arbeiten auch verschiedene andere Dinge einzuweben, die sie als Frau mit Familie im Haushalt fand. Sie verarbeitete zum Beispiel in ihren Teppichen auch die Haare ihres kleinen Sohnes, die nach und nach immer dunkler wurden, abgetragene Kindersachen, Stücke von Hemden und synthetischen Anzughosen, die sie gekürzt hatte, manchmal waren es Reststücke, aber manchmal fügte sie auch wirkliche Kostbarkeiten, Artefakte hinzu.“ Zina hielt inne, um sich eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen, im selben Moment kapierte sie, dass ihr sprechender Kopf später ohnehin ersetzt würde durch einen langsamen, die Details beleuchtenden Schwenk von einem Eckchen der fein gewobenen Tapisserie zum anderen.

„Manche führen zu Hause akribisch ein Familienalbum und denken sich Wunder was für eine tolle Erinnerung das ist. Oder ein Tagebuch, eine Familienchronik. Antonia erschuf eine unglaubliche Chronik des Lebens, die sie selbst, ihre Familie und Freunde, die Zeit und Umstände, in denen sie arbeitete, widerspiegelte. Aber nichts von alledem, was sie so systematisch über Jahrzehnte geschaffen hat, kam ihr in den Sinn, überhaupt jemandem jemals zu zeigen. Als ich sie fragte, was sie dazu inspiriert hat, zuckte sie damals nur mit den Schultern und sagte, dass sie gerne die Nächte durchmachte.“ Zina unterbrach ihre Erzählung und schaute irgendwohin an die Zimmerdecke.

„Ihr Mann lebte nicht mehr, der Sohn war vor der Revolution nach Deutschland emigriert, sie telefonierten, aber besuchten sich nicht. Ich habe oft darüber nachgedacht, was wohl passiert wäre, wenn Antonia nicht gestürzt wäre, was letztendlich doch so ernst war, das es damit definitiv um ihre Gesundheit geschehen war. Wahrscheinlich wäre ich niemals zu ihr reingegangen. Und eines Tages, wenn man ihre Habseligkeiten aus der Wohnung geräumt hätte, wären die Gobelins zusammen mit den angeschlagenen Töpfen und dem Alubesteck auf der Müllkippe gelandet. Außer meine ehemaligen Kommiliton*innen hätten sich unter die Truppe der Wohnungsauflösung gemischt. Die hätten unter all dem Klimbim diesen Schatz des Tschechoslowakischen Informel sicher entdeckt.“ Zinas Versuch, einen Witz zu machen, lief ins Leere.
***
„Ahoj“, rief jemand Zina entgegen, als sie mit dem Türschlüssel im Schloss klapperte. Doch statt zu antworten, warf sie sich direkt aufs Bett. Sie hatte das Bedürfnis, sich unter dem schweren Überwurf und der kalten Daunendecke zu verstecken.
„Wie ist es gelaufen?“ Der Satz kam von irgendwo ganz nah an Zinas Ohr. Karla kannte diese dramatischen Aktionen des Nachhausekommens schon. Es dauerte eine Weile, bis Zina sich umarmen ließ. Und schließlich richtete sie sich stolz auf.
„Wird es blöd?“, fragte Karla, und rollte sich auch in den Überwurf ein.
„Es wird funktionieren oder gut oder erfolgreich“, Zina hobt ihre Fäuste und drückte beide Daumen fest ihn ihre Handflächen.
„Und wie ist die Dokumentarfilmerin so drauf?“
„Selbstbewusst. Jung, wahrscheinlich. Sie geht auf Nummer Sicher. Ihre Eltern haben drei Wohnungen im Zentrum und ein Wochenendhaus im Riesengebirge.“
Karla musste kichern. „Entschuldige.“
„Ich hatte in ihrem Alter gar nichts. Ich war nichts. Meine erste Videokamera hoffte ich bei der TV-Show „Neváhej a toč!“ [vergleichbar mit Pleiten, Pech und Pannen, Anm.d.Ü.] zu gewinnen. Ich war achtundzwanzig und froh, dass ich Geschirr spülen und Knödel zubereiten und die Reste dann in der Brotbüchse zum Abendbrot mit nach Hause nehmen durfte. Sie hat perfektes Make-up, ihr Freund oder Vater hat sie mit ʼnem Tesla abgeholt und mit fünfunddreißig kann sie noch studieren.“
„Nach fünfundzwanzig Jahren könntest du da doch drüberstehen.“
„Es geht nicht um das Geld“. Während Zina sich was Bequemeres anzog, erklärte sie weiter: „Es ärgert mich, dass die gar nichts riskiert, nichts entdeckt, und damit will sie an der Kunsthochschule durchkommen. Was ist daran denn experimentell? Wo bleibt das Freche? Sie geht vollkommen auf Nummer Sicher, alles ist angenehm safe, wie ihr Kaschmirpullover vom Designmarket.“
Karla ließ einen Pfiff hören.
Sie hätte Zina ein wenig piesacken können, ihr aufs Brot schmieren, dass sie ja nur auf Gabis Jugend neidisch war. Darauf, dass sie alles noch vor sich hat, dass aus Zina die pure Angst sprach, ihren Status als Entdeckerin der Gobelins zu einzubüßen, und damit ihren exklusiven Anspruch auf Antonias Vermächtnis zu verlieren. Karla gönnte Zina den Erfolg, aber wegen einer bestimmten Eigenart ihres Charakters kam Karla nicht mit der Unaufrichtigkeit und Heuchelei klar, die sie in allen von Zinas Aktionen beobachtete, wenn es darum ging Antonias Erbe zu zelebrieren, die aber vor allem dazu dienten Zina zu einer gewissen Stellung zu verhelfen. Wie immer riss sich Karla jedoch zusammen und ging in die Küche, um sich einen Tee zu kochen.

„Du könntest mit mir kochen kommen, außer sonntags werden wir jetzt auch immer donnerstags hingehen“, Karla versuchte das Thema zu wechseln.
„Ich schreibe gerade an Gegengutachten“, sagte Zina in Richtung des Fußbodens.
***
Mit einer großen Tasche voller ausgeschrubbter Einmachgläser und Behältnisse, die zum Teil mit welkem Gemüse gefüllt waren, klingelte Karla an einer grässlichen braun gepolsterten Tür.
„Wo brennts?“, war durch die Tür zu hören. Karla verzog just in dem Moment als Kim die Tür öffnete das Gesicht. Dann lächelte sie vorsichtig. Verwunderung huschte über ihr Gesicht und dann ging sie an Kim vorbei hinein.
„Bin noch nicht so weit. Wartest du?“
Karla sah sich in der niedrigen, dunklen Wohnung um, musterte sie von der Decke bis zu den auf dem Boden herumliegenden Schuhen.
„Was ist? Warum guckst du so?“
„Nix“
„Nix?“
„Ich hatte dich anders in Erinnerung“, Karla konnte nicht aufhören, sich zu wundern.
„Wie denn? Größer?“ Kim grinste und verschwand in der Küche, wo ein großer Topf Bohnen blubberte. Größer, na klar, ein absurdes Happening bei einer Protestaktion im Frühling, ein Haufen engagierter Leute, langes Herumlatschen auf der Stelle während alle der Rede zuhörten, jemand schleppte Stelzen an und Kim kam bis zur Auflösung der Versammlung nicht wieder von den Dingern runter.
„Ich weiche das ein, koche vor, genau wie im Kochbuch, aber trotzdem dauert es zu lange.“

Tatsächlich hatte Karla Kim nicht größer in Erinnerung, sondern eher dramatischer, imposanter. Damals, als Kim mit einem langem Finger mit einem noch längeren dunklen, spitz gefeilten Fingernagel auf sie gezeigt hatte, in der Schlange vor dem Club, den immer noch ein wenig ein Untergrundethos umgab. Das lag wohl vor allem an Leuten wie Karla und ihren Freunden. Wegen einer bestimmten Eigenart ihres Charakters kam Karla nicht damit klar, dass ihre Erinnerungen an ihr Leben zwischen Zwanzig und Dreißig immer wilder, übertriebener und aufgeblasener wurden. Sicher kam das mit dem Altern und der Nostalgie, aber es machte ihr keinen Spaß, in Erinnerungen zu schwelgen. Sie wusste, dass sie nicht mehr jung war, aber deshalb wollte sie noch lange nicht die Dinge aufgeben, die ihr Spaß machten.

Sie standen damals in der unendlich langen Schlange vor dem unbeleuchteten Eingang in der Kälte rum und Kims Geste war eine exklusive Einladung an sie gewesen. Karla drehte sich nochmal nach Zina um und Kim schniefte verächtlich, weil Zina sehr daran gelegen war, dass niemand ihre rhetorische Frage überhörte: „Wo waren denn all diese Leute, als die Polizisten die letzte Hausbesetzung geräumt haben?“

Während Zina den Eintritt berappen musste, folgte Karla Kim und alle in der Schlange machten ihnen Platz. Als Karla daran dachte, was Zina über die Squatter und Squatterinnen erzählt hatte, nachdem sie sie wegen der Begleichung der Strafe für die Ausschreitungen um Hilfe gebeten hatte, fühlte sie sich kein bisschen schuldig, dass sie nicht auf Zina gewartet hatte.

„Sind das Xiu Xiu?“, kommentierte Karla die Musik, die über das Blubbern der Bohnen hinweg zu ihr drang. Kim warf ihr einen geringschätzigen Blick zu und verließ die Küche. Karla schaute einen Moment abschätzig auf die Töpfe und folgte dann langsam.
„Darf ich?“ Karla öffnete die Tür zu einem Raum, der das Schlaf-, Arbeits- und Wohnzimmer, wie auch das Atelier war. Kim war gerade damit beschäftigt, die verschiedenen Fenster auf dem Bildschirm des Computers zu schließen. Die Musik verstummte.
„Wie schade“, meinte Karla.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du auf Xiu Xiu stehst. Naja, irgendwie klar, du hast sie noch erlebt. Mein Gott, was labere ich da – „
„Ist in Ordnung, ich bin der gleiche Jahrgang wie Angela Seo.“
„Bloß, dass niemand weiß, wann die überhaupt geboren wurde.“
Eine peinliche Pause entstand.

Karla sah sich im Zimmer um: da war ein Siebdruckplakat, ein Original, eine Tattoo-Maschine und ein Stapel Entwürfe, Collagen, eine Nähmaschine und zugeschnittene Muster, ein Strickponcho, fürchterlich bunte, gehäkelte Handtaschen, ein großer Desktop-PC, ein Haufen Kassetten, ein Synthesizer und eine Gitarre mit so einem Hippiegurt um den Hals.
„Cooles Muster“, sie wedelte mit der Hand Richtung Instrument. Kim bemühte sich, den PC auszumachen. „Entschuldige, ich hätte nicht zu dir kommen sollen – so ohne Einladung“, Karlas Stimme war sanft und rund um ihre Augen hatten sich kleine freundliche Fältchen gebildet.
„Meine Güte, du musst entschuldigen, mein ageistisches Gequatsche“, Kim warf die Arme hoch, und ging dann wieder zurück in die Küche. Karla folgte Kim, beeilte sich aber nicht. Sie betrachtete die Sorgfalt in jedem Strich, den sie auf Papier entdeckte, den Wust von Büchern mit unterstrichenen Zeilen, Heften, vollgeschriebenen Seiten, das Chaos an Elementen, die zusammen ein einzigartiges Universum bildeten, das sich weit über die Grenzen der grässlichen Polstertür hinaus erstreckte.

„Das waren nicht Xiu Xiu“, ließ Karla in Richtung der blubbernden Bohnen verlauten.
„Nein. Aber ich bin immer noch nicht ganz fertig damit“, entgegnete Kim resolut.

„Mensch muss doch nicht unbedingt warten, bis etwas ganz fertig ist, um damit rauszukommen“, würde Zina sagen.
„Mensch muss mit überhaupt nichts rauskommen“, würde Kim sagen.

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