Von der Theaterbühne in die Reihen der Armee. Die ukrainische Theaterregisseurin, Künstlerin und heutige Soldatin Olena Apchel reflektiert über Kunst, Krieg, gesellschaftliche Veränderungen, zukünftige Herausforderungen, europäische Realitäten und ihren Platz in all dem nach.
Du hast in den letzten vier Jahren in Polen und Deutschland gearbeitet und bist vor einigen Monaten in die Ukraine zurückgekehrt.
Bei meiner Rückkehr in die Ukraine, noch vor Beginn meines Wehrdienstes, hatte ich das Gefühl, ich sei wieder in die Emigration gegangen. Mein Leben spielte sich zwar zwischen Kramatorsk, Charkiw und Kyjiw ab, aber im Grunde genommen habe ich das Gleiche gemacht wie vorher: Ich habe mich künstlerisch und ehrenamtlich betätigt. Es kamen nur mehr Aufgaben und Fragen hinzu. Ich frage mich oft, ob es noch eine kritische Masse an bewussten Blutsbrüdern und -schwestern gibt, mit denen dieser Kampf um die Zukunft stattfindet. Und was ist diese Zukunft? Unabhängig von wem und was?Wenn die Ukraine gewinnt und sich durchsetzt, wird sie eines der seltenen Beispiele dafür sein, dass sich ein postkoloniales Land erfolgreich gegen einen Tyrannen, gegen ein Imperium gewehrt hat. Meine französischen, deutschen und österreichischen Kolleginnen und Kollegen, die uns unterstützen und uns auf der Ebene tiefer Überzeugungen zu verstehen scheinen, haben von Anfang an nicht einmal den Gedanken zugelassen, dass wir gewinnen könnten. Ich erinnere mich, wie zu Beginn der großen Invasion im achten Kriegsjahr meine polnischen Freundinnen und Freunde auf mich zukamen und sagten: „Liebe Olena, es tut uns sehr leid für dich, es war ein schönes Land. Meine Großmutter reiste einmal dorthin“. Das heißt, sie haben nicht an uns geglaubt. Wir haben uns gewehrt, wir haben gegen alle Widerstände durchgehalten, und wir halten unter ungleichen Bedingungen immer noch durch. Wir sind ein Beispiel für Mut, Reife und Professionalität, und wir lernen schnell. Aber es klingt immer noch unrealistisch, selbst für unsere Verbündeten. Sie glauben nicht, dass ein im Vergleich zu Russland so kleines Land mit so großen inneren Problemen – Korruption, Minderwertigkeitskomplex, Geschichte, Toleranz gegenüber Rassismus, Homophobie, Altersdiskriminierung, Fremdenfeindlichkeit – gewinnen kann. Aber dieser Zweifel überzeugt mich davon, dass der Sieg der einzig mögliche Weg ist, der der wichtigste Durchbruch zur Entkolonialisierung in diesem Teil Europas sein wird.
Olena Achpel | Foto: © privat
In den Jahren 2021-2022 warst du Leiterin der Abteilung für Sozialprogramme am Nowy Teatr in Warschau und im Herbst 2022 warst du Co-Direktorin des Theatertreffens in Berlin, dem größten Theaterfestival im deutschsprachigen Raum. Das sind zwei unterschiedliche Länder, zwei unterschiedliche Sprachen. In der Ukraine gibt es eine solche Herausforderung für dich nicht mehr.
Ukrainisch ist erst seit elf Jahren meine Alltagssprache. Ich bin als russifizierte junge Frau aufgewachsen. Als der Krieg begann, fing ich an, Ukrainisch zu lernen. Ich habe mehrere Jahre lang bezahlte Sprachkurse besucht. Zuerst benutzte ich es in der Öffentlichkeit, dann im Alltag. Ukrainisch ist meine Schwestersprache geworden. Jetzt denke ich nicht mehr auf Russisch, auch nicht in schwierigen Situationen, aber ich kann ukrainische Wörter vergessen, wenn ich schnell spreche. Und wenn ich sehr wütend oder sehr glücklich bin, wechsle ich auch in meine Muttersprache.Der Mythos von der großen russischen Kultur ist in Deutschland immer noch lebendig. Ich gehöre zu der Generation, die diesem Mythos erlegen ist. Aber ich gehöre auch zu der Generation, die sich aus der Abhängigkeit von einem Tyrannen befreit hat. Und meine heutige Gleichgültigkeit gegenüber der russischen Kultur hat mit meiner posttraumatischen Reife zu tun, mit der Erkenntnis, was die Russen mir angetan haben.“
Aber durch den interkulturellen Charakter meiner Arbeit habe ich viele Menschen unterschiedlichen Alters, aus der Wirtschaft, Gebildete und Ungebildete, aus Dörfern und Städten kennengelernt. Mir ist aufgefallen, dass die intellektuelle, künstlerische, kulturelle und journalistische „Blase“ in Deutschland im Vergleich zu Tschechien, Litauen oder Polen, wo ich auch gearbeitet habe, eher russophil ist. Dafür gibt es mehrere Gründe: langjährige Wirtschaftsbeziehungen, Fehlinterpretationen des Anteils von Ukrainern und Russen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, postimperialistische Solidarität, Abhängigkeit von russischem Geld und so weiter.
Der Mythos von der großen russischen Kultur ist in Deutschland immer noch lebendig. Ich gehöre zu der Generation, die diesem Mythos erlegen ist. Aber ich gehöre auch zu der Generation, die sich aus der Abhängigkeit von einem Tyrannen befreit hat. Und meine heutige Gleichgültigkeit gegenüber der russischen Kultur hat mit meiner posttraumatischen Reife zu tun, mit der Erkenntnis, was die Russen mir angetan haben. Wenn man Russland objektiv betrachtet, kann man leicht diese ganze Verherrlichung des Bösen erkennen, insbesondere die Formel der Sühne [beziehungsweise Reue, russisch покаяния] Sie haben ein quasi-religiöses Konstrukt geschaffen, das sie in der Kunst mystifiziert haben: Du tust Buße und alles wird dir vergeben. Das heißt, statt den kausalen Formeln der Verantwortung, der Strafe, der Wiedergutmachung des Schadens, auf die die Vergebung folgen kann, gibt es nur noch die Reue. Und das ist alles. Ich fühle mich weder zu dieser Philosophie noch zur Literatur oder zum Theater hingezogen. Aber die Deutschen fühlen sich davon sehr angezogen. Leider nicht nur sie.
Ich habe nicht viele Menschen getroffen, die sich wirklich dafür interessiert haben, worüber die Ukrainerinnen und Ukrainer mit den Mitteln der bildenden Kunst, der Literatur oder des Theaters sprechen. Sie interessierten sich dafür, warum wir nicht über die russische Kultur sprechen.“
Ist diese Reue besonders charakteristisch für die russische Kultur?
Es ist ein Element, das die ganze Welt bewundert. Diese mysteriöse russische Seele. Es ist seltsam und merkwürdig, denn das deutsche Theater ist eine vielschichtige, umfassende, kritische, politische Kunst. Und gleichzeitig billigen diese Nachfahren großer Philosophen und Komponisten irgendwie die Straflosigkeit, akzeptieren stillschweigend die Sühne als einzige Voraussetzung für die Vergebung der Sünden. Vielleicht, weil sie selbst dieses Privileg nicht haben und in einer Gesellschaft leben, in der man sich für seine Taten verantworten muss.Gleichzeitig wollen diese Russen, die von den Europäern als „gute Russen“, als „regimefeindliche Liberale“ bezeichnet werden, keine Verantwortung für ihre Untätigkeit gegenüber dem Vorgehen des Kremls übernehmen. Sie versuchen, sich von den „bösen“ Russen zu distanzieren, spielen aber das Spiel der „heißen Kartoffel“ und schieben die Verantwortung vorschnell auf andere. Chauvinisten mit weißen Handschuhen.
Der Höhepunkt des russischen Protests ist das Schlangestehen an einem Grab oder vor dem Wahllokal. In den elf Jahren des Krieges gab es nur eine einzige russische Antikriegsdemonstration in Berlin im Jahr 2024, und selbst da haben sie sich nicht die Mühe gemacht, Worte der Solidarität und des Mitgefühls, Worte der Entschuldigung und der Verantwortung zu finden, sondern sie haben über sich selbst und ihre Probleme geweint. Es gab Tage, da konnten wir beide an einem Tag drei Antikriegsdemonstrationen in zwei verschiedenen Ländern besuchen. Ich will gar nicht davon reden, wie erbärmlich die russischen Liberalen sind. Deshalb ist der Traum von der Rettung beziehungsweise Erlösung Russlands eine unglaublich infantile Formel von politisch unverantwortlichen Leuten, die wir Residenten, Postresidenten der Russischen Föderation oder russische Liberale nennen. Aber das Problem bleibt, dass sie nicht nur wertlos, sondern auch sehr schädlich sind, weil die europäischen Institutionen sie aus Angst vor dem Bösen des Kremls als Gegengewicht betrachten, sie finanzieren und nicht einmal merken, welch raffiniertes Böse sie damit nähren.
Wir leben in einer Welt, die aus der #MeToo-Bewegung – der transfeministischen Revolution – gelernt hat. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass große Narrative meist das Ergebnis hierarchischer Zwänge und patriarchaler Beziehungen sind. Und plötzlich sagt ein kleines Land, das einen Befreiungskampf führt: Die Russen haben in ihrer Geschichte die Errungenschaften anderer Völker gestohlen. Nicht nur den Ukrainern, sondern auch den Jakuten, Burjaten, Tuvanern, Mongolen, Udmurten, Mordwinen, Weißrussen, Juden und so weiter. Aber aus irgendeinem Grund sind die Namen Tschaikowsky, Tschechow, Dostojewski und Turgenjew die Säulen der deutschen Selbstidentifikation.
In privaten Gesprächen hörte ich sogar von Leuten, die dem deutschen Bildungsministerium nahestehen, dass sie das „Canceln“ der großen russischen Kultur nicht zulassen würden. Jedes Mal, wenn Deutsche mit mir in eine solche Diskussion eintraten, fühlte ich mich ungerecht behandelt, denn ich hätte diese Stunde damit verbringen können, über die Werke von Bohdan-Ihor Antonych, Les Kurbas, über das Berezil Theater, Mariupol Platform TU, das Ukrainische Institut, Varta Theater, Nina Khyzhna, Mariana Sadovska, Gogolfest, Lesi Theater, Andriy Zholdak, Natalka Vorozhbyt, Rosa Sarkisian, Luke Magazine, Aliona Karavay und vielen anderen zu sprechen. Ich habe nicht viele Menschen getroffen, die sich wirklich dafür interessiert haben, worüber die Ukrainerinnen und Ukrainer mit den Mitteln der bildenden Kunst, der Literatur oder des Theaters sprechen. Sie interessierten sich dafür, warum wir nicht über die russische Kultur sprechen.
Du bist jetzt in der Armee.
Ja, ich bin den ukrainischen Verteidigungskräften beigetreten und habe einen Vertrag unterschrieben. Ich habe verschiedene Ausbildungen absolviert und war auch schon in der Region Donezk im Einsatz. Es ist nicht einfach, aber ich wusste, dass es so kommen würde. Aber neben dem äußeren Feind gibt es leider auch viele innere Feinde. Gleichzeitig muss ich mich, wie Tausende unserer weiblichen Verteidigerinnen, mit bestimmten Formen von Sexismus auseinandersetzen. Ich habe an der Akademie unterrichtet, meine Dissertation verteidigt, im Theater gearbeitet, und auch dort musste ich ständig beweisen, dass eine Frau etwas kann, denn das System ist patriarchalisch, vor allem in den kulturellen Institutionen. Aber hier in der Armee ist es viel konzentrierter. Manche passen sich an. In meiner Einheit sind die meisten Männer. Außer mir gibt es nur eine Frau. Sie ist seit sechs Jahren in der Armee und für sie ist es genauso schwer. Sie spricht nicht darüber, aber man sieht es ihr an. Es geht nicht nur um demütigende Witze, sondern auch um die Unmöglichkeit, Karriere zu machen, um positive Diskriminierung und offene Aggression. Aber wir stehen das durch, denn die Solidarität mit denen, die schon lange in der Armee sind, und die Verantwortung stehen jetzt an erster Stelle. Um mich aufrechtzuerhalten, übe ich mich in Ironie, um nicht zusammenzubrechen, filtere meine Wut mit einer Therapeutin und versuche, mit Freundinnen in Kontakt zu bleiben, die meine Werte teilen. Das alles hat aber einen großen Einfluss auf meine Motivation.Ich bin mir sicher, dass neben den Diskussionen über Sicherheit und Respekt, die sich im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Frauen ergeben, tiefere und wichtigere Fragen aufgeworfen werden – über die Menschenwürde im Allgemeinen, darüber, dass jeder Mensch, nicht nur Frauen, mit Würde behandelt werden muss. Wenn diese Fragen nicht nur nominell in der Ausbildung behandelt würden (denn es gibt Gesetze und Unterrichtseinheiten über die Gleichstellung der Geschlechter), sondern wenn es in der Praxis tatsächlich qualitative Veränderungen gäbe, die zu mehr Respekt für Frauen, insbesondere für Freiwillige, führen würden, dann würden viele ukrainische Frauen in die Armee eintreten. Es ist der Sexismus, der sie zurückhält. Für mich ist es sehr wichtig, dass ich mich in der schwierigsten Zeit für die Ukraine freiwillig dem Widerstand angeschlossen habe.
Ich sehe, dass die Frauen in der Armee dank der starken Unterstützung ihrer Angehörigen erfolgreich sind. Das gibt ihnen ein starkes Rückgrat und ein Gefühl der Sicherheit, das es ihnen ermöglicht, aufmerksamer, mutiger und effizienter zu sein. Leider habe ich keine solche Basis. Meine Familie unterstützt mich in diesem Kampf nicht. Aber meine Freundinnen und Freunde sind an meiner Seite. Und das ist eine starke Kraft der Unterstützung. Einige meiner Kollegen und Kolleginnen glauben, dass ich in der Kulturdiplomatie, in der Kunst, nützlicher wäre. Das verstehe ich auch. Aber was heißt es, nützlicher zu sein? Ich mache politische, kritische, sozial verantwortliche Kunst, und ich möchte nach meinen Werten leben. Und meine Werte sind, dass man nicht abseits stehen und „sein bestes Leben“ leben kann. Auch wenn deine zivilen Errungenschaften in der Armee leider verschwinden.
Und was wird geschätzt?
Härte, Professionalität, körperliche Stärke. Die Fähigkeit, Befehle auszuführen und keine Fragen zu stellen. Nun, es ist eine Männerwelt, ein ständiges Machtspiel. Der Krieg ist schrecklich, traurig, schmutzig, unökologisch. Man sortiert sein halbes Leben Müll, und dann verbringt man fünf Nächte zu dritt in einem Unterstand, umgeben von Hunderten von Plastikbechern, Kugeln und verbranntem Material. Die Tiere stehen unter Schock. Hasen, Eichhörnchen, Vögel. Verwirrte Haushunde, verwilderte Huskys und Chihuahuas rennen in Rudeln umher und fressen sich gegenseitig auf. Ein sehr apokalyptisches Bild. Aber wir wissen, dass das leider der Preis des Krieges ist und dass die Russen daran schuld sind.Dr. phil. Olena Apchel ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Theaterregisseurin, Performerin, Kulturwissenschaftlerin, Dramaturgin, Kuratorin von Kunstprojekten, Lehrerin, Kulturbotschafterin, Volontärin und Aktivistin. Sie ist Mitglied der Gewerkschaft der Theaterschaffenden, Mitglied der Nichtregierungsorganisation SEMA Ukraine (seit 2019 eine Vereinigung ukrainischer Frauen, die infolge der bewaffneten Aggression Russlands gegen die Ukraine sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV) erlitten haben) und Vorstandsmitglied der Koalition der Kulturschaffenden.
Seit Mai 2024 dient Olena in einer Kampfeinheit der Ukrainischen Nationalgarde. Ende letzten Jahres wurde sie Preisträgerin des UP100 2024 „Beyond the Possible“ – einer jährlichen Rangliste von Personen, die den größten Beitrag zur Unabhängigkeit und Zukunft der Ukraine leisten.
Dieses Interview wurde für die polnische Zeitschrift Kultura Liberalna geführt und in der ukrainischen Originalversion von JÁDU bearbeitet. Kultura liberalna ist einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Januar 2025