Unterirdische Schulen in Charkiw  Lernen unter Tage

Unterirdische Schulen in Charkiw
Unterirdische Schulen in Charkiw Foto: © Halyna Ostapovets

In Charkiw, einer Stadt unter ständigem russischem Beschuss, sind unterirdische Schulen zu einer neuen Realität geworden. Wie gewöhnen sich die Kinder an das Lernen im Untergrund?

Die ukrainische Millionenstadt Charkiw wird täglich von russischen Truppen bombardiert. Das ist kaum überraschend, denn Charkiw liegt nur 40 Kilometer von der Front entfernt. Hier landet alles, was Russland auf ukrainisches Territorium abfeuern kann: Drohnen, Raketen, Lenkbomben. An manchen Tagen kommt alles zusammen. In den zurückliegenden drei Jahren des Krieges hat die Stadt massive Zerstörungen erlitten, vor allem im nördlichen Teil, der näher an der Grenze zu Russland liegt, sowie im Stadtzentrum. Aufgrund der ständigen Bedrohung wurde der Präsenzunterricht in allen Bildungseinrichtungen in Charkiw seit Beginn des vollumfänglichen Krieges am 24. Februar 2022 bis zum 23. September 2023 vollständig ausgesetzt.

Laut Olena Switlytschna, Leiterin der Bildungsabteilung des Stadtbezirks Nowobawarskij, hatte der Bürgermeister von Charkiw, Ihor Terechow, einige Monate zuvor den Einwohner*innen der Stadt vorgeschlagen, den Schulunterricht wieder aufzunehmen, allerdings nicht in regulären Schulen, sondern im Untergrund.

Nach offiziellen Angaben haben in Charkiw 102.000 Schülerinnen und Schüler das Schuljahr 2024/2025 begonnen. Fast 7.000 von ihnen besuchen den Präsenzunterricht, das heißt in unterirdischen Klassenzimmern. Der Rest lernt online. Vorrangig für Grundschüler*innen wird der Unterricht unter Tage abgehalten. Olha Demenko, Direktorin der Bildungsabteilung der Stadtverwaltung von Charkiw, erklärt dazu: „Es sind Kinder, die jetzt ihre Einstellung zum Lernen und ihre Motivation entwickeln. Sie brauchen Sozialisierung und die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten und Talente zu entdecken“.
 
Oleksandra Sajenko, Psychologin aus Kyjiw, sagt, dass Kinder selbst in einer Stadt wie Charkiw, die unter ständiger Bedrohung steht, ein Gefühl von Normalität empfinden können. Dennoch, so sagt sie, sei diese empfundene Sicherheit trügerisch. Es sei eine vertraute Umgebung, vertraute Umstände, was den Kindern ermögliche, sich angepasst und natürlich zu fühlen, als ob alles so sein sollte. Diese Form der Anpassung sei ein Ergebnis der Ausnahmesituation im vierten Jahr seit Beginn der vollumfänglichen Invasion. Aus epigenetischer Sicht, so Sajenko weiter, könnten Probleme bei den Kindern dieser heutigen Kinder auftreten. „Es ist durchaus möglich, dass sich die Kinder, die derzeit in Charkiws Untergrundschulen lernen, wirklich normal fühlen. Aber ihre eigenen Kinder werden vermutlich ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis haben. Angststörungen und andere somatische Beschwerden könnten auftreten – ausgelöst durch genetische Veränderungen, die durch den Lebensstil ihrer Eltern, also der heutigen Schüler*innen, entstanden sind.“ Als Beispiel führt die Expertin die Hungersnot von 1944-1945 in den Niederlanden an, in deren Folge Kinder hungernder Mütter ein deutlich erhöhtes Risiko für Stoffwechselstörungen entwickelten. „Ein ukrainisches Beispiel ist der Holodomor und sein Einfluss auf die Ernährungskultur sowie die Angst vor Lebensmittelknappheit bei mehreren Nachkriegsgenerationen“, so die Psychologin.

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