In der Luft von Kyjiw erklingt neue Musik. Nicht nur im Radio und auf Bühnen, sondern auch auf den Straßen und in der Metro. Die ukrainische Kultur kehrt in den schwersten Zeiten zu den Menschen zurück, um zu stützen, zu verbinden und bei der Suche nach Identität zu helfen.
An einem sonnigen Wochenende im Herzen der ukrainischen Hauptstadt liegen Frieden und Krieg dicht beieinander. Am Gedenkort auf dem Majdan Nesaleschnosti herrscht reges Treiben. Kerzenflammen flackern im Wind. Männer in Tarnuniform nehmen verblichene blau-gelbe Fähnchen auf und ersetzen sie durch neue. Kinder jagen mit Eis in der Hand lachend die Tauben. Arbeiter befestigen im Lichtkasten eine Werbung für die Rekrutierung eines ukrainischen Bataillons: „Die Freien wählen den Kampf.“ Ein junger Mann mit Gitarre bringt ein ukrainisches Lied nach dem anderen zu Gehör. Einige handeln von der Liebe, die meisten vom Kampf. Er singt kein einziges fröhliches Lied.„Mit Beginn der Invasion veränderte sich mein Repertoire stark. Ich spiele jetzt ukrainische, patriotische Lieder. Das ist es, was die Menschen heute brauchen, was sie hören wollen. Und fröhliche Lieder zu spielen fällt schwer, besonders an einem Ort, an dem Menschen ihrer Toten gedenken“, sagt der 20-jährige Matwij Zjurpita, als er kurz seinen Auftritt unterbricht.
Eine Frau tritt zu ihm. Sie bittet um ein Lied, das ihr gefallener Angehöriger besonders mochte. Matwij spielt fast täglich mehrere Stunden ohne Pause auf Kyjiws Straßen. Musiker wurde er im Februar 2022, genau zu dem Zeitpunkt, als für das ganze Land der große Krieg begann.
Eine alte Cort und das Dröhnen der Sirenen
„Und wir nehmen den roten Schneeball und richten ihn wieder auf, und unsere prächtige Ukraine soll sich erheben und frohlocken!“ Matwij singt ein ukrainisches Volkslied, das zu einem inoffiziellen Soundtrack des Kampfes gegen die Invasion geworden ist.Anfang des 20. Jahrhunderts war Der rote Schneeball auf der Wiese ein Marsch ukrainischer Freiwilliger. Im Zweiten Weltkrieg sangen es Kämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee. Und 2022 erklang es erneut: Der ukrainische Musiker und Soldat Andrij Chlywnjuk sang es in den ersten Kriegstagen, später coverte Pink Floyd das Lied. Nach Millionen Aufrufen auf YouTube, in sozialen Netzwerken und im Radio kehrte es schließlich dorthin zurück, woher es kam, und zwar auf die Straße und unter die Leute.
„Ich begann zu singen, als die ersten Bombardierungen einsetzten. Es war nicht professionell, eher ein Versuch, mir selbst Mut zu machen. Ich wollte ukrainische, traditionelle Lieder hören, und selbst spielen“, erinnert sich Matwij. Den 24. Februar 2022 erlebte er in seiner Heimatstadt Bila Zerkwa nahe Kyjiw. Die Musik half ihm damals, mit Schock und Verwirrung umzugehen. Zunächst hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und spielte Gitarre nur in der Freizeit für Freunde. Vor einem Jahr, nach dem Umzug in die Hauptstadt, wagte er den Schritt zum Straßenmusiker. So wurde aus dem Hobby ein Beruf.
„Am Anfang hatte ich Angst. Ich dachte, die Leute würden sich aufregen. Und so war es auch: In den ersten Tagen haben betrunkene Passanten meine Instrumente mitten im Stadtzentrum angegriffen. Doch dann änderte sich alles. Die Auftritte machten mir immer mehr Freude. Und ich merke, dass es auch anderen Menschen guttut“, sagt er.
Matwij spielt auf einer alten Cort-Gitarre, angeschlossen an Verstärker und Lautsprecher. Die Straßenmusik ist heute seine Haupteinnahmequelle: Er spielt vier Tage die Woche, jeweils mehrere Stunden. Damit verdient er ungefähr das durchschnittliche Kyjiwer Gehalt [etwa 500 Euro – Anm. d. Ü.]. Das ist genug für seine Miete und das Nötigste. Doch für seinen Traum, hochwertige Instrumente und eigene Aufnahmen, reicht es noch nicht.
Die Stadtverwaltung von Kyjiw beschränkt die Auftritte im Zentrum nicht. Selbst während des Krieges klingen an sonnigen Wochenenden auf dem Chreschtschatyk Lieder, nur übertönt von den Sirenen. Wenn Matwij am Majdan auftritt, wo ein improvisiertes Mahnmal an die Gefallenen erinnert, achtet er besonders auf seinen Liedauswahl. Meistens bleibt er bei patriotischen Stücken. „Ich verstehe, dass man hier nicht einfach zum Spaß spielt, als wäre nichts. Aber Musik ist mehr als nur Unterhaltung, sie kann auch Halt geben“, sagt er und legt seine Hände auf die Gitarre, die geschmückt ist mit einem blau-gelben Aufkleber.
Kunst, die zu den Menschen kommt
Abendlicher Berufsverkehr in der Kyjiwer U-Bahn. Müde Fahrgäste schweigen, im Wagen herrscht jene stille Gewöhnlichkeit, die den Feierabend begleitet. Plötzlich betreten Schauspieler*innen in bunten Kostümen den Zug. Das ist ein traditioneller ukrainischer Vertep mit den für ihn typischen Figuren wie Tod, Ziege, Mädchen und Bursche [der Text entstand während der Weihnachtszeit, während der solche Vertep-Aufführungen stattfinden – Anm. d. Red.]. Mit Glockenklang und Lachen füllen sie den Wagen und singen ein Volkslied: „Eine Schwalbe kam geflogen, begann zu zwitschern, den Hausherren zu rufen…“ Die Menschen lächeln, zücken ihre Handys, beginnen zu fotografieren. Für einige Minuten vergessen sie ihre Müdigkeit, die Arbeit, selbst den Krieg.Die ukrainische Regisseurin Kateryna Tschepura inszeniert solche spontanen Sing- und Theaterauftritte [ukrainisch: Malankuwannja, Sternsingen mit Masken und Spielszenen, bei der verkleidete Gruppen von Haus zu Haus ziehen – Anm. d. Ü.] seit Jahren mit ihrer Truppe. Ihr Ziel ist, ukrainische Kunst aus den Theatern hinaus auf die Straße und zu den Menschen zu bringen.
„Viele Menschen müssen morgens zur Arbeit, abends nach Hause und schaffen es vielleicht höchstens noch vor den Fernseher. Gerade diese müssen wir draußen erreichen. Damit sie sehen: Die ukrainische Kultur lebt. Und das funktioniert tatsächlich. Hier gilt die Regel der drei Kontaktpunkte: Wenn man dreimal mit einer Information konfrontiert wird, beginnt sie sich festzusetzen. Zum Beispiel habe ich eine Koljadka [Weihnachtslied – Anm. d. Ü.] in der U-Bahn gehört, dann hat mein Kind eine im Kindergarten gelernt, dann ist sie in meinem Facebook-Feed aufgetaucht, und schon gehört sie zum meinem kulturellen Code“, sagt Kateryna vor dem Eingang des Theaters Actor im Zentrum Kyjiws.
Heute findet dort ihre interaktive Inszenierung der Komödie Zwei Hasen jagen von Mychajlo Staryzkyj statt. Wie bei fast allen ukrainischen Aufführungen derzeit, ist der Saal voll. Seit Beginn der Invasion hat die Nachfrage nach ukrainischer Kultur enorm zugenommen. Konzerte füllen riesige Hallen, selbst in Frontnähe entstehen neue Buchhandlungen, und Theaterkarten sind innerhalb von Stunden ausverkauft.
Die Kuratorin moderner Kunst und Kunstmanagerin Olesja Ostrowska-Ljuta erklärt die Begeisterung für das Stück Die Hexe von Konotop am Iwan-Franko-Theater so: „Es ist unterhaltsam, inhaltlich recht simpel, aber formal raffiniert. Das Geheimnis liegt darin, einen Ort gemeinsamer Geborgenheit zu schaffen. Menschen lachen zusammen, erkennen vertraute Bilder, fühlen sich sicher und verbinden das bekannte Material von Kwitka-Osnowjanenko mit Zuhause. Solche Orte sind lebenswichtig in einer Kriegsstadt. Sogar in Kyjiw.“
Kateryna stimmt dieser Meinung zu und ergänzt: „Die große Invasion löst bei vielen Ukrainer*innen eine tiefes Umdenken aus. Viele suchen sich selbst und finden Antworten in der Kultur.“ Laut den Daten des ukrainischen Nationalrats für Fernsehen und Rundfunk stieg der Anteil ukrainischer Musik im Radio seit 2022 auf 68 Prozent. „Noch vor acht Jahren waren es nur fünf Prozent. Das erscheint heute unvorstellbar, aber das war die Realität. Jetzt füllt ukrainische Musik jene Lücke, die früher von russischer Musik dominiert wurde. Denn das Bedürfnis nach Kultur ist dem Menschen angeboren. Brot und Spiele“, sagt Kateryna nachdenklich, während sie beobachtet, wie Besucher*innen sich bereits Karten für die nächsten Vorstellungen reservieren.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um.
Mai 2025