Gras ist grün und Fußball – das ist ein Weg raus aus der Peripherie. Eine Reportage von einem Ort, der von großen und kleinen historischen Ereignissen, von Unterdrückung und Unverständnis geprägt ist, wo sich das Leben durch die Risse im Beton zwingt und über die Stadtgrenzen hinausdrängt, seine Fühler in den Landkreis und nach ganz Tschechien ausstreckt.
Mongaguá wispert es in Krásné Březno, einem Stadtteil von Ústí nad Labem. Das Wispern wird allmählich lauter, ist kein leise gemurmelter Fluch mehr. Es verwandelt sich in eine Tatsache, die die Realität verändern kann. Mongaguá, ein Wort, das klingt, wie eine geheimnisvolle Zauberformel und das ist es in vielerlei Hinsicht auch. Welche Macht dieses Wort tatsächlich hat, ist die Frage. Eine Antwort darauf zu finden, liegt in den Händen solidarischer Netzwerke, aber auch in denen offizieller Strukturen, in deren Macht es wiederum steht, solche Projekte entweder zu unterstützen oder ihnen weiter Steine in den Weg zu legen.Eine Mauer errichten
Im Jahr 1999, zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer – die Tschechien von allen unbeabsichtigt zu Ruhm gelangten und weltbekannten Mauern nächstgelegene – hat die Stadtverwaltung Ústí nad Labem entschieden, an diese bewährte Tradition anzuknüpfen und eine eigene Mauer zu errichten. So wie all die ähnlichen Mauern, sollte auch die Mauer in der Matiční-Straße im Stadtteil Krásné Březno die Spreu vom Weizen trennen. Wobei das Rathaus Ústí in diesem Fall mit Spreu die Romabevölkerung meinte, die auf einer Seite der Straße lebt. Unglaublich, will man meinen. Es gibt noch so einiges andere, was einem völlig unglaublich erscheint: zum Beispiel der Holocaust, und trotzdem ist er eine schreckliche Tatsache unserer Geschichte. Und eine Tatsache war auch die Mauer in der Matiční-Straße beziehungsweise „der Zaun“, wie der damalige Stadtteilbürgermeister von Ústí nad Labem-Neštěmice, Pavel Tošovský (ODS), den architektonischen Eingriff nannte. Eine Bezeichnung, die sein Bemühen zum Ausdruck brachte, die wahre Natur dieses Gegenstandes des Anstoßes zu verschleiern.Es ist jedoch angezeigt, in der Abfolge der Ereignisse noch etwas weiter zurückzugehen. Vor dem ersten Weltkrieg war Krásné Březno (ähnlich wie auch der Stadtteil Cejl in Brno) aufgrund seiner strategischen Lage unweit des Stadtzentrums und angesichts der Nähe zum Elbehafen ein Industrieviertel. Es gab hier einen großen Anteil deutscher Bevölkerung – Krásné Březno hieß damals auf Deutsch Schönprisen – und eine Handvoll tschechische Bewohner*innen, auf deren Initiative hin es zur Gründung der ersten tschechischen Schule im Landkreis Ústí kam. Die Schule wurde auf der heutigen Matiční-Straße errichtet, die ihren Namen dann nach eben dieser Schule erhielt. Im Jahr 1939 wurde die tschechische Minderheit zwangsumgesiedelt und Soldaten der Wehrmacht nahmen ihren Platz ein. Das örtliche Schloss wurden von den Nazis als Waffenlager und Übungsplatz der Organisation Werwolf genutzt.
Doch damit der Schrecken der Geschichte nicht genug. Nach Kriegsende explodierte das dort gelagerte Kriegsmaterial, 27 Menschen starben. Dies markierte den Beginn des sogenannten Massakers von Ústí, während dessen wiederum mehrere Dutzend deutsche Zivilist*innen brutal ermordet wurden. Über die Ursache der Detonation gibt es verschiedene historische Spekulationen und obwohl sie wahrscheinlich auf menschliches Versagen zurückzuführen ist und eher ein Unfall war, verkündeten die Werwölfe im Radio: „Hass soll unser tägliches Gebet sein, Rache unser Schlachtruf!“ Es scheint, als ob sich dieser Hass mit den Flammen aus dem Waffendepot auf die Straßen ergossen und die Stadt und ihre Menschen verschlungen hätte. Und genauso wie sich traumatische Ereignisse in den Körpern der Menschen festsetzen, moderte die Intoleranz in Krásné Březno so lange vor sich hin, bis ein paar Jahre später die Mauer in der Matiční-Straße daraus erwuchs.
Say no to racism
Weil man fürchtete, die Mauer würde auch über den imaginären Nachbarszaun hinweg zu viel Aufmerksamkeit generieren und damit die geopolitischen Interessen des Staates (den Beitritt zur Europäischen Union) gefährden, hatte sie nur eine kurze Lebensdauer. Nach einem Monat war sie wieder Geschichte und das Material verwendete die Stadt dann für den Bau von Revierbegrenzungen im Zoo von Ústí. So waren die Überreste der Mauer auch hier dazu bestimmt, die Bewegungsfreiheit von Lebewesen einzuschränken. Die alte Nachbarschaft zog weg, die Situation beruhigte sich, die Räder griffen ineinander und das einst blühende Viertel, das durch seine vielleicht zu strategische Lage dem Untergang geweiht war, wurde zu einem Problemviertel ab vom Schuss, oder, wenn man so will, zur Peripherie.Am Boden sein, sagt man und meint damit nichts Gutes. Meistens ist es auch nichts Gutes. Aber genauso wie in allem Guten ein kleiner Keim oder vielleicht auch das Potenzial von etwas Bösem steckt, so gilt auch das Gegenteil. Für Krásné Březno und damit auch für den Stadtteil Neštěmice ist die Organisation Mongaguá zu einem solchen Keim der Hoffnung geworden.
Zu behaupten, Mongaguá wäre ein Fußballklub, würde der Bedeutung der Organisation nicht gerecht werden. Was genau sich hinter dem geheimnisvollen Namen alles verbirgt, lässt sich aber nicht so leicht auf einen Punkt herunterbrechen.
Am Anfang war das Bewegen
Ganz am Anfang, noch bevor das Projekt zu einer richtigen Organisation wurde und den neugierig machenden Namen erhielt, stand das Bewegen. Diese Bewegungsfreude zeigte sich auch im Bewegen von Stadt zu Stadt, von einem Fußballverein zum nächsten. Immer im Gepäck war eine große Plane mit der Aufschrift SAY NO TO RACISM. Man könnte es eine Kampagne nennen und wie eine Kampagne ging der Roma-Aktivist Lukáš Pulko, der die Hauptverantwortung für das Projekt übernahm, die ganze Sache auch an. Er erstellte eine Social-Media-Seite und gewann den aus der brasilianischen Kleinstadt Mongaguá stammenden Futsalspieler Rodrigo Taverna als Paten. Lukáš und Rodrigo kannten sich durch den Sport (Futsal und Fußball sind eng verwandte Sportarten und manche Spieler wie Lukáš sind in beiden Sportarten zuhause). Und weil die brasilianischen Favelas und die marginalisierten Viertel in Tschechien sich in mancherlei Hinsicht ähnlich sind, verstand Rodrigo auf Anhieb, warum die Bemühungen von Lukáš so wichtig sind.Mongaguá ist ein Fußball-Futsal-Verein, gegründet von Lukáš Pulko in Krásné Březno, ein seit langem als problematisch eingestuftes Stadtviertel von Ústí nad Labem, das durch die inzwischen schon einige Jahre zurückliegende Affäre um die Mauer in der Matiční-Straße fragwürdige Berühmtheit erlangt hat.
Das Team, deren Spielerbasis aus etwa 40 Kindern und Jugendlichen besteht, die zwischen 6 und 18 Jahre alt sind und größtenteils aus den sogenannten Problemvierteln von Ústí kommen, trifft sich regelmäßig zum gemeinsamen Training in der Plattenbausiedlung in Krásné Březno, wo dank der Initiative von Lukáš Pulka und den Aktivitäten des Mongaguá-Teams ein neues Spielfeld angelegt wurde. Dadurch wurde betonierte Freifläche in einen Ort verwandelt, an dem die Kinder ihre Freizeit sinnvoll verbringen können und der ihnen Raum für ihre sportliche und persönliche Entwicklung bietet.
Mehr auf mongagua.eu (Englisch und Tschechisch)
Fußballträume
Dann kam der Ball ins Rollen – Rodrigo brachte aus seiner Geburtsstadt eine Garnitur Fußball-Trikots mit. Lukáš verteilte die Trikots an die Romakinder vor Ort, die auf dem rissigen Betonplatz vor den Plattenbauten kickten, und begann sie zu trainieren.Fußball hat zwei wichtige und unbestrittene Charakteristika. Erstens ist es ein Mannschaftssport und das relativ große Spielfeld ermöglicht vielen Kinder das Mitmachen. So können auch diejenigen teilhaben, die gerne in einer Gruppe sind, aber nicht so viel rennen wollen und es lieber um die Mittellinie herum ruhig angehen lassen. Das zweite Merkmal ist, dass man außer einem Ball eigentlich nichts braucht, um Fußball zu spielen. Fußball ist ideal für Graswurzelinitiativen. Das Spiel ist niedrigschwellig und kann quasi überall gespielt werden.
Die Organisation Mongaguá vereint mittlerweile mehrere Fußballmannschaften aus dem ganzen Land und schafft es dank der Entschlossenheit aller Beteiligten – ob Trainer oder Kinder – nicht nur mit offiziellen Fußballstrukturen in Tschechien, sondern auch im Ausland zusammenzuarbeiten. Das Bewegen ist nach wie vor die Basis der Aktivitäten der Organisation – sowohl im körperlichen als auch im mentalen Sinne. Das Bewegen ist der motivierende Faktor. Daran zu glauben, dass es möglich ist, von einem Ort an der Peripherie von Ústí zum Beispiel nach Leipzig oder Norwegen zu reisen. Zu entdecken, dass die Welt nicht an der Grenze der eigenen Plattenbausiedlung endet. Und zu erkennen, dass die eigenen Vorstellungen über die Richtung, in die man im Leben gehen will, sich in unerwartetem Ausmaß weiterentwickeln können.
Der Horizont ist aus der Perspektive der Peripherie heraus gesehen oft sehr eng, nicht nur wegen der geografischen Lage. Bis auf wenige Ausnahmen (von denen ich mehr hoffe, dass es sie gibt, als dass ich es weiß), widmen die Stadtteile ihren Problemvierteln oft nicht genug Aufmerksamkeit. Außerdem lastet das bleierne Gewicht eines von Drogensucht, Glücksspielautomaten und Mangel an anderen Eindrücken geprägten Umfeldes schwer auf den Menschen, die sich oft nur mit Hilfe von außen davon befreien können.
Ausgangspunkt
Mongaguá betreibt seit einem Jahr auch ein Kulturzentrum in Krásné Březno. Das Haus, das die Aktivist*innen ursprünglich haben wollten, hat ihnen die Stadt nicht zur Verfügung gestellt, obwohl das Gebäude seit mehreren Jahren leer stand und verfiel, und ungeachtet dessen, dass Mongaguá seit 2021 ein eingetragener Verein ist und die lose Gruppe damit zu einem Rechtssubjekt wurde. Die Aktivist*innen griffen daher auf die einzige verbleibende Möglichkeit zurück und mieteten ein anderes Gebäude von einem privaten Eigentümer. Doch die Miete und die Betriebskosten waren für eine rein ehrenamtlich und ohne staatliche Unterstützung arbeitende Organisation einfach zu hoch.Zu der Zeit erhielt Mongaguá, abgesehen von einem einzigen Zuschuss in Höhe von mehreren Zehntausend Tschechischen Kronen [10.000 Tschechische Kronen sind etwa 400 Euro, Anm.d.Red.], keine Förderungen. Noch bis vor kurzem waren alle Mitglieder rein ehrenamtlich tätig. Wenn es eng wurde, konnten sie bisher durch Social-Media-Aktionen, die Unterstützung durch solidarische Strukturen (ähnlich sozial ausgerichtete Vereine und Organisationen) und einzelne Freund*innen bisher aber immer eine Lösung finden. Dem Team von Mongaguá ist es wichtig, Ideen in einem gemeinsamen Raum zu verwirklichen – sowohl um Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen als auch um das eigene Aktionsfeld zu erweitern.
Die Idealvorstellung ist, dass jeder in vertrauter Umgebung zu sich selbst finden kann. Neben dem Fußball bietet Mongaguá inzwischen auch Boxen an und in Zukunft soll es Tanz- und Musikangebote geben. Wenn ich mit Lukáš über die Zukunft spreche, habe ich das Gefühl, dass sie bereits angefangen hat – obwohl es immer irgendwelche Hindernisse geben wird. Sie kommen von allen Seiten – die Kommunikation über die Grenzen der soziokulturellen Bubble hinweg ist eine Herausforderung. Aber Mongaguá sieht Hindernisse eben als Herausforderungen. Lösungen finden sich, wahrscheinlich ist das nicht ganz überraschend, vor allem in der Kooperation mit anderen. Wenn Menschen ein gemeinsames Ziel haben und sich darauf konzentrieren, es zu erreichen, müssen partikulare Meinungsverschiedenheiten nicht zwingend zu Konflikten führen, sondern können eine gegenseitige Bereicherung sein.
Dem Ziel immer näher?
Seit diesem Jahr, nach zehn gemeinsam ehrenamtlich gestemmten Jahren, kann die Organisation endlich eine Handvoll angestellte Mitarbeiter*innen und bezahlte Aushilfskräfte beschäftigen. Darüber kann man nur den Kopf schütteln. Vor nicht allzu langer Zeit las ich im Forbes-Magazin einen Artikel über ein Start-Up, das bereits im ersten Jahr fast eine Milliarde Dollar Gewinn machen konnte. Es war ein Unternehmen, das Investoren zusammenbrachte, um irgendeine Software zu entwickeln. Der junge Unternehmer war gerade mal Anfang zwanzig. Auch darüber kann man eigentlich nur staunen.Es gibt immer wieder neue Ziele, einige bleiben vielleicht unerreicht, und hin und wieder werden sie von dicken dunklen Wolken verdeckt, die auf eine ungewisse Zukunft deuten. So ungewiss wie mein Heimweg scheint, als der Zug in einen Tunnel fährt. Es könnte alles so schön sein, wenn da nicht diese Zweifel wären. Der aufmerksamen Leser*innen bereits bekannte Pavel Tošovský, derselbe Mann, der den Bau der Matiční-Mauer beauftragt hatte, ist heute zwar nicht mehr Bürgermeister von Ústí nad Labem-Neštěmice, sitzt aber weiterhin als unabhängiges Ratsmitglied im Stadtrat.
Obwohl das Rathaus von Ústí dem Antrag von Mongaguá auf ein neues Gebäude nicht stattgegeben hat, lässt sich Gründer Lukáš nicht unterkriegen. Er gibt zu bedenken, dass es seine Zeit braucht, ein gutes Fundament für ein Haus zu legen und erst dann kann wirklich gebaut werden. Hoffen wir, dass das Gebäude, das Mongaguá entwirft, irgendwann erfolgreich fertiggestellt sein wird. Die Architekten dieses Vorhabens haben sich zahlreiche Gedanken gemacht und viel Mühe und Sorgfalt in das Projekt Mongaguá gesteckt.
Mai 2025