Hippotherapie, die Behandlung von Menschen durch den Kontakt mit Pferden, erweist sich in der Arbeit mit Soldat*innen, Veteran*innen, Geflüchteten und Menschen mit Traumata oder Depressionen als besonders hilfreich. Wir haben in Kyjiw das Hippotherapiezentrum SPIRIT (СПІРІТ) besucht.
„Los, schließt mich ein“
Mittwoch, neun Uhr morgens. Der erste Teilnehmer der Rehabilitationsgruppe trifft auf der Pferderennbahn in Kyjiw ein. Artur ist 37 Jahre alt. Er erinnert äußerlich an den britischen Schauspieler Jason Statham, groß gewachsen, durchtrainiert, markantes Gesicht mit hohen Wangenknochen und Glatze. Daher auch der Spitzname „Stetchem“, den ihm seine Kameraden gaben. Es ist seine zweite Sitzung, heute ist er früher da als die anderen. Er begrüßt das Team und wartet auf den Beginn. Vor dem großen Krieg arbeitete Artur als Barkeeper am Flughafen Schuljany. 2022 meldete er sich freiwillig zur Armee. Zunächst wurde er abgewiesen. Es hieß, es gebe genug Leute. Erst im Mai 2022 rief man ihn an und meinte, man brauche ihn doch.„Auf den Anruf hin bin ich zusammen mit meinem Hund an die Front gefahren. Erst war ich drei Wochen in der Ausbildung in Schytomyr, dann ging es nach Lyssytschansk. Ich war ein Jahr und elf Monate im Einsatz. Mehrere Verwundungen, Traumata, Gehirnerschütterungen… Es gab viele Situationen. Heute gelte ich offiziell als kriegsversehrt mit einer Einstufung in die dritte Behinderungsklasse. Dementsprechend bekomme ich Invalidenrente“, sagt der Veteran mit einem ironischen Lächeln. 2024 wurde er aus dem Militärdienst entlassen und durchläuft seit einem Jahr verschiedene Rehabilitationsmaßnahmen. Doch, so sagt Artur, das fällt nicht immer leicht. Von der Hippotherapie in Kyjiw erfuhr er über einen Kameraden, aber er folgte dessen Rat erst später, als die innere Spannung wieder stieg. „Letzten Herbst war ich auf einer Alm mit Pferden. Auch dort hatte ich ein wenig Kontakt mit ihnen“, erzählt der Mann – und betont, dass für ihn nicht nur die Arbeit an sich selbst wichtig ist, sondern auch, dass andere Menschen für ihn und andere Soldaten arbeiten. Das sei ein Zeichen der Dankbarkeit und zeige, dass man sie hier nicht vergessen habe.
Trotz eines Jahres Reha spürt er keine stabile Verbesserung: „Es hilft nur für eine Weile. Dann kommen wieder Rückfälle beziehungsweise Trigger. Dieses posttraumatische Syndrom, diese Stressstörung, das steckt ganz fest im Gedächtnis. Zum Beispiel: Wenn dir jemand etwas Schlechtes getan hat, behältst du das lange im Kopf. So funktioniert das. Anfangs erträgt man es, aber wenn ich merke, dass gar nichts mehr hilft, gehe ich zu meinem Arzt und sage: Los, schließt mich ein.“
Artur hat eine Frau und einen Sohn. Einer der Gründe, warum er heute hier ist, sind sie: „Es wurde schwer, damit zurechtzukommen. Es kommt zu Konflikten, Aggression, Stress. In letzter Zeit hat sich das alles verstärkt. Ich bin hergekommen, um damit umgehen zu lernen, sonst leidet meine Familie darunter. Obwohl mir manchmal Gedanken durch den Kopf gehen, dass ich lieber allein wäre. Ich habe gehört, dass auch andere Soldaten, die Kriege durchgemacht haben, solche Gedanken kennen. Durch den Kontakt mit den Pferden habe ich jedenfalls erkannt, dass das Problem nicht bei meiner Familie liegt, sondern bei mir.“
Das Beste für sich herausholen
Die anderen Kursteilnehmer betreten den Stall. Insgesamt sind es vier. Am Eingang werden sie von Hanna Buraho, der Gründerin des Rehazentrums SPIRIT, begrüßt. Sie ist Psychologin, Gestalttherapeutin und Hippotherapeutin. Hanna bittet alle in die große Arena, wo normalerweise das Training mit den Pferden stattfindet. Zusammen mit den Veteranen kommen auch weitere Trainerinnen. Alle nehmen sich einen Stuhl und setzen sich in einen Kreis. Hanna beginnt das Gespräch mit dem Vorschlag, sich gegenseitig kennenzulernen. Denn einige Teilnehmer heute zum ersten Mal dabei.Das Zentrum SPIRIT existiert seit 15 Jahren. Es wurde mit Unterstützung des Kinderpsychiatrischen Zentrums gegründet; für den Betrieb werden auch Spenden gesammelt. Vor der umfassenden Invasion arbeiteten die Mitarbeiter*innen mit Kindern mit Behinderungen. Doch es kamen neue Herausforderungen, und so entwickelte Hanna ein spezielles Programm zur Rehabilitation von Menschen, die durch den Krieg traumatisiert sind. Das Pilotprojekt der Hippotherapie für Soldat*innen begann im Sommer 2022. Die Sitzungen wurden für diejenigen organisiert, die aus den Kampfgebieten zurückkehrten und eine stationäre Behandlung benötigten: „Wir konnten nicht gleichgültig bleiben, und so kam der Gedanke auf, dass wir den Jungs bei der Genesung helfen können.“
Die Rehabilitation und Anpassung von Soldat*innen an das zivile Leben ist eine wichtige Aufgabe, die viel Aufmerksamkeit und Geduld erfordert. In der Regel bestehen die Gruppen aus nicht mehr als zwölf Personen, um eine angenehme Atmosphäre zu bewahren. Das Zentrum arbeitet mit medizinischen Teams und einer psychiatrischen Klinik zusammen. Im Rahmen von acht Sitzungen helfen sie Soldat*innen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), neurotischen Störungen, Schlafstörungen und Schockzuständen.
„Es gibt manche, die heute nicht mehr leben, aber die hier auch mit uns saßen...“, fährt die Psychologin fort. „Ich wünsche mir, dass ihr im Laufe unseres Kurses das Maximum für euch mitnehmt.“ Vor der Vorstellungsrunde bittet Hanna alle, die nicht Teilnehmer*innen der Therapie sind, den Raum zu verlassen, da dies ein persönlicher Moment sei. Solche Gespräche dauern in der Regel etwa eine Stunde, während der die Menschen ihre eigenen Erlebnisse, Emotionen, Wünsche teilen.
In der Zwischenzeit warten wir im Stall, wo die Mitarbeiterinnen die Pferde für den Einsatz vorbereiten, sie füttern, striegeln und säubern. Hier leben 15 Pferde. Alle sind unterschiedlich in Alter, Farbe und Charakter. Wie Menschen haben sie Emotionen und können unterschiedlich auf ihre Umgebung reagieren. Ein junges Pferd will nicht aufwachen. Die Trainerin bemüht sich schon seit Minuten, doch es rührt sich kaum. Einige Pferde beobachten aufmerksam die neuen Menschen im Stall, andere schieben neugierig ihren Kopf heran, um gestreichelt zu werden. Außer den Pferden leben im Stall auch zwei Hunde und eine Katze. Das Personal sagt, sie seien nicht nur Teil der Familie, sondern auch Teil des Hippotherapie-Programms.
„Schocktherapie“
Nach der einstündigen Gesprächsrunde werden die Pferde in die große Halle gebracht. Es beginnt der therapeutische Teil mit den Pferden, der Kontakt ermöglicht Entspannung, Stressabbau, Verbesserung von Gleichgewicht, Koordination der Bewegungen, Wiederherstellung des psychischen Zustands und Adaptation. In der Regel erleben alle Teilnehmer danach eine „Schocktherapie“. Niemand erwartet große Ergebnisse, sagt Hanna: „Sie sind schockiert, dass Pferde so stark wirken können. Die Stimmung verbessert sich sofort, der Schlaf wird besser, depressive Symptome nehmen ab, die Koordination wird besser, gerade bei Menschen nach Schocks und Minen- oder Explosionsverletzungen, die oft mit organischen Hirnschäden einhergehen.“Gleichzeitig ist der Kontakt mit dem Pferd auch eine Herausforderung. Nach Ansicht der Programmgründerin haben etwa die Hälfte der Teilnehmer*innen Angst vor Pferden. Aber niemand wird gezwungen, sich ihnen sofort zu nähern. Alles beginnt mit Blickkontakt und Anleitungen durch die Trainerinnen. Dank der Übungen mit Pferden können Menschen nicht nur ihre Ängste überwinden, sondern auch sich selbst und ihre Emotionen besser verstehen. Dafür muss man einen Zugang zum Tier finden.
Die Pferde werden in einer Reihe aufgestellt: Favoryt, Pisnjar, der graue Kombat und der süße Rubin, der besonders gerne alles beschnuppert. Genau ihn hatte die Trainerin Lidia Karpytsch vor Beginn der Stunde aufzuwecken versucht: „Pferde nehmen alle unsere Emotionen und unser Verhalten wahr, wie wir stehen, schauen, uns bewegen.“ Die erste Aufgabe für die Männer besteht darin, ein Pferd auszuwählen und zu versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Dazu müssen sie ihre inneren Ängste überwinden und sich entspannen. Bevor sie sich den Tieren nähern, erklärt die Trainerin die wichtigsten Regeln im Umgang mit Pferden. Dann wählen die Veteranen ihre Tiere aus. „Zuerst sollt ihr einfach nur neben ihnen stehen“, erklärt sie. „Dann versucht, näher zu treten und die Hand auszustrecken.“
Die Mienen der Männer verändern sich von ernst und angespannt zu offenem, kindlichem Lächeln. Auch die Pferde zeigen ihren Charakter. Nur ein Veteran konnte sich nicht nähern, und zwar aus Angst: Früher wurde er einmal von einem Pferd gebissen. „Ihr könnt euch hinsetzen. Wenn der Mensch kleiner wirkt, entspannen sich die Pferde“, rät die Trainerin. „Sie legen Wert auf ihren persönlichen Raum. Wenn dem Tier etwas nicht zusagt, zieht euch zurück. Eure Aufgabe ist, die Pferde zu verstehen.“
Eine neue Richtung finden
Nach Abschluss der Übungen versammeln sich alle wieder im Kreis, während die Pferde hinausgeführt werden. Jetzt besprechen die Männer ihre Gefühle nach dem ersten Kontakt. Sie gestikulieren viel, fallen sich mitunter ins Wort und teilen ihre Erfahrungen, wie sie ihre inneren Hürden überwinden konnten. Die Psychologinnen und Trainerinnen gehen auf die Kommentare ein und helfen, die Probleme und Anliegen zu verbalisieren, mit denen die Männer gekommen sind. So lernen diese, sich selbst und ihr Verhalten besser zu verstehen.Nach einer kurzen Pause werden erneut vier Pferde in die Arena geführt, diesmal sind es andere Tiere. Nun sollen die Veteranen aufsteigen. In diesem zweiten Teil der Übung überwinden alle ihre Angst. Neben jedem Pferd stehen eine Trainerin oder ein Trainer, die das Tier im Kreis führen. Während sich die Gruppe bewegt, gibt die Trainerin in der Mitte Anweisungen: Tief durchatmen, die Arme heben, versuchen, die Augen zu schließen und so weiter. Die Übung endet damit, dass die Männer alle Pferde im Stall füttern dürfen. Dazu bringen die Mitarbeitenden eine große Schüssel mit Karotten und Äpfeln.
Andrij ist so begeistert, dass er auch noch Äpfel aus seinem eigenen Rucksack holt und sie mit Erlaubnis des Personals weiter an die Pferde verfüttert. Er ist ein hochgewachsener Rotschopf mit Bart, 32 Jahre alt, Rufname „Wosnessenskyj“. Heute war er zum ersten Mal dabei. Seine Emotionen nach der Einheit beschreibt er als überwältigend. Seit 2012 ist er beim Militär: „Anfangs war es Wehrdienst, 2015 bin ich freiwillig zur Armee. Die letzten zehn Jahre war ich im Einsatz quer durchs Land. Und seit einem halben Jahr bin ich zur Reha in Kyjiw. So bin ich hier gelandet.“
Seinen Dienst begann Andrij im Hinterland, später ging er zur Marineinfanterie. Er war Kommandeur von Sturmtrupps. Danach wechselte er in die Aufklärung, dann zur Luftaufklärung: „Ich konnte schon immer gut Menschen führen. Wenn du bereit bist zu töten oder zu sterben, um sie zu schützen, vertrauen sie dir. Als Kommandanten versuchen wir, sie zu motivieren und zu unterstützen. Am besten mit gutem Beispiel.“ Aus dem Dienst wurde er an seinem Geburtstag, dem 9. Januar 2025, wegen einer Kampfwunde entlassen. „Das erste Gefühl war sehr merkwürdig“, erinnert er sich. „An meinem Geburtstag, 8:30 Uhr, bekomme ich die Nachricht, dass es vorbei ist. Ich sitze in der Küche, und es scheint, als hätte sich nichts verändert. Aber gleichzeitig fiel eine Last von meinen Schultern.“
Jetzt versucht Andrij, sich im Zivilleben zu orientieren. Er sagt, dass sich nach so vielen Jahren im Militär sein Bewusstsein sehr verändert habe. Dort müsse man schnell Entscheidungen treffen und auf dem Schlachtfeld überleben: „Das zieht man so durch, bis man merkt, dass man nicht mehr töten will. Bei mir kam dieser Punkt nach der Verletzung. Ich stellte mir die Frage: Wie soll ich mit all dem weiterleben und meinen Platz in dieser Welt finden? Das war ein Wendepunkt. Im Militär wird viel Mist gemacht. In den Medien steht viel über unsere Erfolge, wie wir zum Beispiel neue Positionen erobert haben. Aber um das zu erreichen, musst du für eine Zeit besser töten können als jene, die in unser Land gekommen sind. Leider wird darüber nirgendwo gesprochen.“
Nun steht vor ihm eine neue Herausforderung. Andrij sucht nach einer neuen Richtung: „Ich weiß, was es heißt, ein verdammt guter Marineinfanterist zu sein. Aber diese Kompetenz hilft mir jetzt nicht viel. Ich suche etwas, das mir hilft, im Einklang mit mir selbst und meiner Umgebung zu leben Am besten etwas, das auch nützlich ist.“ Dieses Jahr plant Andrij, ein Studium zum Rehabilitationswissenschaftler aufzunehmen. Im Moment jedoch sieht er einfach glücklich aus, nachdem er mit den Pferden gearbeitet hat. Er erzählt, dass er ohne konkrete Vorstellung zum Kurs kam und nicht wirklich wusste, wie das Ganze ablaufen würde. Aber schon beim Betreten des Stalls spürte er von der ersten Minute an große Freude: „Es war eine wundervolle Erfahrung! Anfangs hatte ich Angst vor meinem Pferd, aber dann haben wir uns richtig kennengelernt… jetzt bin ich voller Gefühle, richtig aufgeladen, und möchte es am liebsten mit der ganzen Welt teilen!“
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Juni 2025