Schmerz und Trauer in der Kunst  Die Frida Kahlo der Ukraine

Mitteltafel des Triptychons „Frau und Krieg“ der Künstlerin Marushka.
Mitteltafel des Triptychons „Frau und Krieg“ der Künstlerin Marushka. © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Die ukrainische Künstlerin Marushka malt mit grellbunten Farben. Dahinter versteckt sie ihren Schmerz über die Toten auf dem Maidan und in den Schützengräben im Osten der Ukraine. Mit dem Beginn des russischen Großangriffs auf ihre Heimat hört sie auf zu malen. Sie fühlt sich wie gelähmt angesichts der vielen Toten und des unbeschreiblichen Leids. Doch ein Besuch in ihrer Heimatstadt Luzk gibt ihr den Impuls zu einer neuen Ausstellung. Wenig später kauft sie Pastellfarben und einen Zeichenblock. Mit neuen Skizzen bricht sie ihre dreijährige künstlerische Schockstarre.

Es ist nicht leicht, die Ukrainerin Yulia Marushko zu beschreiben. Unter dem Künstlernamen Marushka malt sie Aquarelle, entwirft Mode, schreibt Gedichte. Ein großes Faible hat sie für Kinder, denen sie die Welt der Farben näherbringt und ihnen Märchen vorliest – besonders gerne die, die sie selbst geschrieben hat. In Luzk gründete sie 2020 eine Waldorfschule, in jener beschaulichen Stadt im Westen der Ukraine, die ihre Heimatstadt ist und die sie für ein Pädagogikstudium zehn Jahre zuvor in Richtung Deutschland verlassen hat.

Von dort kehrt sie immer wieder nach Hause zurück, schaut nach den Kindern in der Waldorfschule, fährt nach Lwiw, besucht Freunde in Kyjiw und Charkiw und natürlich ihre Familie in Wolynien, direkt an der Grenze zu Belarus.

Doch mit dem Großangriff Russlands vor gut drei Jahren beginnt auch ihre Angst. „Ich wagte mich nicht mehr in die Ukraine“, sagt sie. Stattdessen evakuiert sie die Kinder der ersten beiden Klassen der Luzker Waldorfschule und deren Mütter zusammen mit Lehrerinnen und Erzieherinnen nach Hamburg. Für die insgesamt 45 Kriegsgeflüchteten findet sie bei Hamburger Gastfamilien Unterkünfte. Auch ihre eigenen Eltern holt Marushka in die Hansestadt. Seitdem lebt sie mit deren ungeduldigem Heimweh. Sie fleht sie an, zu bleiben. Zu groß ist ihre Angst, Vater und Mutter an eine russische Rakete oder Drohne zu verlieren, wenn sie sie nach Wolhynien zurückgehen ließe.

Drei Jahre hält dieser Zustand an. Dann hält Marushka es nicht mehr aus, bricht auf und fährt nach Luzk. Dort geht sie an das Grab eines Freundes, der im Kampf gegen Russland gestorben ist. Er hätte an diesem Tag Geburtstag gehabt. „Ich stand vor Ihors Grab, es war voller Blumen und gehüllt in Tücher mit ukrainischen Mustern und Farben. Am Fußende stand sein Foto“, erzählt Marushka. „Ich sah mich um: Wen hat er da wohl zum Nachbarn? Ist er in guter Gesellschaft?“ Und sie blickt auf das Blumenmeer um sich herum, sieht überall Fotos mit jungen Gesichtern. „So viele sind da schon begraben“, wird sie später nach Deutschland schreiben. „Sie waren so wunderbare Menschen“. 

Zurück in Deutschland organisiert sie mit Hilfe der Organisation IDEM eine Ausstellung, die diesen Namen trägt. „Es geht um diese wunderbaren Menschen und darum, dass es unsere Aufgabe ist, sie nicht zu vergessen. Sie haben den höchsten Preis für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gezahlt“, sagt Marushka bei den Vorbereitungen zur Ausstellung. „Für so ein friedliches Leben wie hier“, blinzelt sie in den Frühlingshimmel von Stangenhagen, einem Dorf im Osten Deutschlands. „Die Sonne scheint, es fliegen keine Raketen und wir genießen den Frühlingsanfang. Das klingt wie ein Märchen.“
 
Marushka während der Ausstellung vor ihrem Triptychon „Frau und Krieg“

Marushka während der Ausstellung vor ihrem Triptychon „Frau und Krieg“ | Foto: © Ulrike Butmaloiu

Am Tag der Ausstellungseröffnung ist die Kirche des brandenburgischen Dorfes bis zum letzten Platz gefüllt. Menschen kommen aus umliegenden Orten und Städten, um Marushkas Kunst zu sehen. Die Pfarrerin der Region hält eine Friedensandacht, der Bürgermeister spielt Orgel. Auch hier fasziniert Marushka durch den Kontrast ihrer schillernden Erscheinung, ihres herzhaften Lachens mit den tieftraurigen Themen, die sie in ihren Gemälden verarbeitet.

„Meine Bilder sind sehr bunt. Aber hinter diesen Farben liegt viel Schmerz“, sagt Marushka. Sie werde oft als die Frida Kahlo der Ukraine bezeichnet, fügt sie hinzu – ein Vergleich, der ihr gefällt. Für ihre kräftigen, leuchtenden Farben ist sie ebenso bekannt wie für die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die sie in ihren Porträts, Triptychen und Selbstporträts zu begraben sucht.

Die Revolution der Würde auf dem Maidan und die Folgen des russischen Krieges in der Ostukraine sind das dominierende Thema in Marushkas Gemälden und Zeichnungen. Ein Motiv wider Willen, denn sie wollte ursprünglich nur Kinder malen. Doch als 2014 in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw friedliche Demonstranten von Regierungstruppen erschossen werden, findet sie keine Ruhe mehr: „An meinem Geburtstag wurden fast 80 Menschen getötet.“ Sie will herausfinden, wer diese Menschen waren und beginnt zu recherchieren. „Für mich war das unvorstellbar: Wie kann es sein, dass Menschen einfach erschossen werden?“

Noch am selben Tag beginnt Marushka, die ersten Porträts zu malen. „Ich habe tatsächlich gedacht, wenn ich anfange zu dokumentieren, kann ich das Töten stoppen. Ich habe gemalt, um das alles nicht zu spüren“, beschreibt sie ihren ersten Impuls.

Sie entscheidet sich für Wasserfarben, malt parallel fünf „tränende“ Aquarelle. In einem Jahr vollendet sie so einhundert Porträts. Nur bei Roman Huryk macht sie eine Ausnahme: Der Psychologiestudent aus Iwano-Frankiwsk ist einer der jüngsten Toten des Maidan. Er starb am 20. Februar 2014 durch einen Schuss in den Kopf. In den Sachen des 19-Jährigen fand man buntes Bonbonpapier. Marushka zeichnete ihn mit bunter Kreide, „wie diese glitzernd-knisternden Konfekthüllen“.
 
Roman Huryk, (2. Oktober 1994 in Iwano-Frankiwsk - 20. Februar 2014 in Kyjiw)

Roman Huryk (2. Oktober 1994 in Iwano-Frankiwsk - 20. Februar 2014 in Kyjiw) | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Während sie malt, kontaktiert Marushka die Hinterbliebenen. Bis heute steht sie mit vielen von ihnen im Kontakt. „Die Menschen sind offen und bereit, ihren Schmerz zu teilen.“ Marushka fällt es schwer, ihre Erinnerungen zu ertragen. Doch auch elf Jahre später hört sie nicht auf, die Geschichten dieser Menschen zu erzählen: „Das ist schwer für mich. Aber für die, die ihre Liebsten verloren haben, ist es viel schwerer.“

Viele, die ihren Mann oder Sohn auf dem Maidan verloren haben, kümmern sich jetzt um Geflüchtete oder Waisenkinder. So wie die Mutter des Studenten Roman Huryk. Die Dirigentin hilft Kindern, die ihre Eltern durch den russischen Krieg verloren haben. Allein in Iwano-Frankiwsk sind es 280. „Auch diese Geschichten möchte ich erzählen“, sagt Marushka.

Kurz vor der Eröffnung ihrer Ausstellung kauft Marushka Pastellfarben und Zeichenpapier. „Ich möchte wieder anfangen zu malen, mit Kraft, Glaube und Liebe. Dieser Wunsch wird immer stärker“, erzählt sie. Sie freut sich auf ihre neuen Bilder, auch wenn es lange gedauert hat. „Das hilft, diese wunderbaren Menschen nicht zu vergessen. Ob es mir persönlich hilft, weiß ich nicht“, zweifelt sie. „Es gibt nicht genug Farbe, Kohle oder Buntstifte, um jeden Menschen zu malen, der im Krieg getötet wurde.“

Marushka (Yulia Marushko)

Marushka (* 1982 in Luzk, Ukraine) ist eine ukrainische Künstlerin, Journalistin, Autorin und Waldorfpädagogin. Seit 2012 lebt sie in Deutschland, zunächst in Kassel und Hamburg, seit 2024 in Berlin. Ihr Werk bewegt sich im Spannungsfeld von Kunst, Pädagogik und politischem Engagement.

Als Reaktion auf die Maidan-Proteste gründete sie 2013 in Hamburg die deutsch-ukrainische Kulturinitiative ArtMaidan und wurde zur künstlerischen Chronistin der Revolution und des Krieges in ihrer Heimat. In ihren Porträts, Serien und Tagebuchbildern verarbeitet sie Themen wie Verlust, Flucht, Mutterschaft, weibliche Stärke und die Suche nach innerem Frieden.

Marushkas künstlerische Handschrift verbindet Malerei mit biografischem Erzählen. Zu ihren wichtigsten Werkgruppen zählen Die Himmlischen Hundert, Muttermal, Anastasis und die Serie Madonnen. Parallel dazu setzt sie sich für alternative Bildung ein und gründete mit Gleichgesinnten die erste Waldorfinitiative in ihrer Heimatstadt Luzk.

Neben ihrer künstlerischen Arbeit engagiert sich Marushka in der Übersetzung, im kulturellen Austausch und in Projekten für Kinder, unter anderem als Märchenerzählerin „Mäuschen Marushka“.


Anastasis

Die Werke der Serie Anastasis basieren auf alten Soldatenporträts, die Marushka in den Fotoalben ihrer Familie entdeckt hat. „Sie sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses“, sagt die Künstlerin.

Indem sie die Uniformen mit Wyschywanka-Mustern überlagert, verwebt Marushka persönliche Erinnerungen mit ihrem kulturellen Erbe. „Eine stille, aber eindringliche Hommage an Verlust, Identität und Würde“, so Marushka. „Und eine Erinnerung daran, dass mitten in Europa ein schrecklicher Krieg herrscht.“

„Was die Ukraine, Europa oder die Welt in diesem Jahr erwartet, ist ungewiss“, stellt Marushka fest und betont: „Der Mensch steht im Mittelpunkt meines künstlerischen Schaffens. Mein tiefster Wunsch ist es, dass all die großartigen Menschen – ob im Irak, in Belarus oder in der Ukraine – nicht mehr für ihre Werte sterben müssen, sondern in Frieden für sie leben können.“
 

Madonnen – Frauen zwischen Krieg und Frieden

Die Aquarelle sind in den ersten Jahren des russischen Krieges in der Ostukraine entstandenen. Marushkas Madonnen sind keine klassischen Ikonen – sie sind moderne Heldinnen: Aktivistinnen, Geflüchtete, Mütter, Kämpferinnen.

Die Serie ist inspiriert von realen Begegnungen mit Frauen aus der Ukraine, aus Deutschland und aus Israel. „Es sind Frauen, die Flucht, Verlust, Geburt und Neuanfang erlebt haben.“, sagt die Künstlerin. „Sie halten ihre Kinder im Arm und kämpfen gleichzeitig für Freiheit und Gerechtigkeit.“

„Ich habe ihre Geschichten in Farben und Formen übersetzt – sanft und doch eindringlich. Meine Madonnen sind verletzlich und stark, still und laut zugleich.“

Die Serie der Madonnen ist eine Erinnerung daran, dass hinter jeder großen Erschütterung menschliche Geschichten stehen. „Es ist mein poetisches Zeugnis über das Überleben in schwierigen Zeiten“, so Marushka.

 

Muttermal / Are You a Refugee?

Mit ihrer künstlerisch-dokumentarischen Serie Muttermal / Are You a Refugee? erzählt Marushka von Flucht, Ankommen und dem langen Schatten des Krieges. Die Aquarelle entstanden 2016 in Hamburg und zeigen Geflüchtete, die 2015 nach Deutschland kamen – viele von ihnen aus Syrien, dem Irak oder der Ukraine. Marushka lernte die Familien während ihrer Arbeit an der Waldorfschule Bergstedt kennen. Auf Einladung ihrer Schülerinnen und Schüler besuchte sie deren Familien, hörte ihre Geschichten – und begann zu malen.

Sieben Jahre später, im Februar 2023, kehrte Marushka mit dem Fotografen Lars Krüger zu den Familien zurück. Entstanden sind fotografische Porträts, die mit den früheren Aquarellen in einen Dialog treten. Vom Bild zum Foto – eine Reise durch sieben Jahre Hoffnung, Rückschläge, Integration und Neubeginn.

„Die Bilder erzählen von den Spuren, die Flucht und Krieg hinterlassen, aber auch von Kraft und Weitergehen, um die persönlichen Geschichten hinter den globalen Krisen nicht zu vergessen“, so Marushka.

Familie von Rostam aus dem Irak

Rostam kam 2015 mit seiner Frau und den beiden Kindern Kardif und Karnas aus dem Irak nach Hamburg. Ihre Flucht über die Türkei und Griechenland dauerte über einen Monat – geprägt von Unsicherheit, Angst und Hoffnung. „Ich wusste, dass ich mein Land für immer verlasse. Das Wort Krieg verschlingt die Stille“, erinnert sich Rostam.

Heute lebt die Familie in einer Dreizimmerwohnung, zuhause sprechen sie Kurdisch und Deutsch. Beide Eltern arbeiten – im Irak wäre das für Rostams Frau kaum denkbar gewesen. Rostam hat Deutsch gelernt und arbeitet inzwischen als Friseur. Ihre Hoffnung richtet sich nun auf einen sicheren Aufenthaltsstatus und deutsche Pässe. Denn die fehlenden Papiere lassen die Vergangenheit nicht ruhen: „Vor zwei Jahren ist mein Vater gestorben. Ich konnte nicht zur Beerdigung“, erzählt Rostam. Auch seine Frau hat seit 2015 ihre Mutter nicht mehr gesehen.

Familie von Sahra aus Afghanistan

Bilderserie „Muttermal / Are You a Refugee?“, Aquarelle 2016, Fotografien 2023, Hamburg

Bilderserie „Muttermal / Are You a Refugee?“, Aquarelle 2016, Fotografien 2023, Hamburg | © Marushka | Foto: © Lars Krüger | Collage: © Chris Jordan

Sahra wurde in der Türkei geboren – auf der Flucht. Als sie zwei Monate alt war, setzte sich die Familie weiter in Bewegung: über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Deutschland. Zu Fuß, im Boot, im Zug. Heute lebt die Familie in Hamburg. Sahra und ihre beiden Schwestern besuchen die Schule, sie sprechen Deutsch, Englisch, Französisch und ein wenig Dari – die Sprache ihrer Eltern.

Ihre Mutter Zakereh arbeitet nach einer Ausbildung in einer Hautarztpraxis. Vater Zaker, der als Jugendlicher in Afghanistan durch eine Mine sein Bein verlor, fand erst nach 60 Bewerbungen eine Stelle. Jetzt ist die Familie angekommen – aber das Erlebte bleibt. „Sprache, Wohnung, Arbeit – das waren die schwierigsten Hürden in Deutschland“, sagt Zakereh. Ihre Töchter haben klare Ziele: Tayebeh will Architektin werden, Narges Zahnärztin. Und Sahra? Die liebt Spielplätze – und das Leben.

Familie aus Tschetschenien

Ihre Gesichter bleiben auf allen Fotos verborgen, denn ihre Angst ist auch im Exil geblieben. Diese Familie aus Tschetschenien lebt seit Jahren mit Duldung in Hamburg. Alle sechs Monate müssen sie zum Amt, die mögliche Ausweisung steht stets im Raum. Nur der älteste Sohn besitzt mittlerweile eine Niederlassungserlaubnis. Er möchte Betriebswirtschaft studieren. Sein Bruder träumt von einer Karriere als Profifußballer. „In der Heimat waren sie viel lebendiger“, sagt ihre Mutter leise. „Der Krieg hat auch ihr Inneres verändert.“

Ihr Vater engagiert sich seit 2018 im Human Rights Center Ichkeria und arbeitet als Sicherheitskraft in einem Hotel, in dem ukrainische Geflüchtete untergebracht sind. Er spricht ruhig, doch seine Erinnerungen wiegen schwer: „Als ich in die 9. Klasse kam, begann Russland den ersten Krieg gegen Tschetschenien. Während meines Studiums folgte der zweite.“

2001 wird sein Onkel entführt – mit vorgehaltener Waffe, die auf seine Familie gerichtet ist. 2002 wird sein Vater von Scharfschützen ermordet. 2004 verschwindet der Schwiegervater spurlos an einem Kontrollpunkt. 2018 wird sein Schwager getötet – die russischen Verantwortlichen bezeichnen es als Unfall. „Russland hätte man schon in Tschetschenien stoppen müssen. Danach kamen Georgien, Syrien und jetzt die Ukraine“, sagt er.

Die Großmutter, deren zwölf Enkelkinder in Deutschland leben, sagt: „Ich will nicht, dass meine Kinder das erleben, was ich erlebt habe. Jeder Krieg hinterlässt Spuren. Wir Tschetscheninnen wissen, was das bedeutet“. Die Heimat bleibt zurück – mit all ihren Wunden.

Der Junge

„Der Junge“, Acryl und Kohle, 2022 Hamburg

„Der Junge“, Acryl und Kohle, 2022 Hamburg | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Saschko ertrank am 10. März 2022 im Kyjiwer Meer, einem großen See in der Nähe von Kyjiw. Er war vier Jahre alt.

Russische Truppen hatten sein Dorf bombardiert, Brücken zerstört und Straßen blockiert. Deshalb wurden Frauen und Kinder mit Booten über das Kyjiwer Meer evakuiert. Dabei kenterte eines der Boote. Zuerst wurde Saschkos Großmutter tot geborgen. Viele Helfer*innen suchten weiter nach dem Jungen. Er trug eine Rettungsweste – das ließ sie bis zuletzt hoffen.

Saschkos Mutter Anna schrieb noch am selben Tag: „Ich danke allen, die bei der Suche geholfen haben. Nun ist unser kleiner Engel im Himmel. Heute hat seine Seele Frieden gefunden.“

Himmlische Hundert

(100 Porträts von Aktivist*innen, die 2014 auf dem Maidan erschossen wurden (Aquarell und Kohle, Hamburg 2014)
 
Obwohl die Ukraine seit 1991 wieder unabhängig ist, müssen die Menschen des Landes seit 2014 erneut um ihre Freiheit kämpfen. Die Zahl der Todesopfer seit den Maidan-Protesten geht in die Tausende.

Die „Nebesna Sotnja“ (Himmlische Hundert) waren die ersten Toten dieses neuen Unabhängigkeitskampfes. Die friedlichen Demonstrierenden starben Anfang 2014 auf dem Maidan-Platz in Kyjiw – teils im Kugelhagel von Scharfschützen der eigenen Regierung.

Die Porträtserie Himmlische Hundert besteht aus 100 Arbeiten in Aquarell und Kohle, die 2014 in Hamburg entstanden. Sie zeigt die Gesichter von Menschen, die während der Proteste auf dem Maidan im Februar 2014 ums Leben kamen.

Mit diesen Porträts möchte die Künstlerin Marushka auf die politischen Ereignisse in der Ukraine aufmerksam machen und den Beitrag Einzelner zur Demokratiebewegung sichtbar machen. Viele Werke entstanden täglich – noch während der laufenden Proteste – und wurden jeweils vor dem ukrainischen Konsulat in Hamburg ausgestellt, als Begleitung der Demonstrationen der ukrainischen Diaspora.

Die Porträtierten stammen aus unterschiedlichen Regionen und Bevölkerungsgruppen der Ukraine; einige kamen aus Armenien, Georgien und Belarus. Marushka legt damit bewusst den Fokus auf die Vielfalt der ukrainischen Gesellschaft und die breite zivilgesellschaftliche Beteiligung an den Maidan-Protesten.

„Die Porträts sind keine politische Botschaft“, erklärt Marushka. „Ich möchte, dass die Betrachter sich mit den Menschen auseinandersetzen und ihre Lebensgeschichten individuell würdigen“.

Erinnerungen

Um ihr öffentliches Andenken wach zu halten, hat Marushka im Rahmen der Ausstellung mit den Angehörigen gesprochen: „Auch elf Jahre nach ihrer Ermordung leben sie in den Erinnerungen ihrer Familien und Freunde weiter“.

Volodymyr Boikiv

Volodymyr Boikiv, (5. Februar 1955 in Lviv - 19. Februar 2014 in Kyjiw)

Volodymyr Boikiv, (5. Februar 1955 in Lviv - 19. Februar 2014 in Kyjiw) | © Marushka | Foto: © Chris Jordan


Volodymyr Boikiv wurde in der westukrainischen Stadt Lwiw geboren. Im Jahr 2001 zog er mit seiner Familie nach Kyjiw. Er arbeitete im Bauwesen und leitete ein eigenes Bauunternehmen. Am 18. Februar 2014 wurde er auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan Nesaleschnosti) durch eine Schussverletzung tödlich verwundet. Volodymyr hinterließ seine Ehefrau und drei Söhne.

Seine Frau Natalia Boikiv engagiert sich seit elf Jahren als Vorstandsmitglied der zivilgesellschaftlichen Organisation Familien der Himmlischen Hundert, die die Erinnerung an die auf dem Maidan Getöteten bewahrt und deren Angehörige unterstützt.

Natalia erinnert sich an ihren Mann: „Sein Lieblingssatz war: ‚Vergiss nicht, dass du eine Ukrainerin bist‘. Er hatte einen feinen Sinn für Humor, spielte Geige und sang gern. Er war ein lebensfroher Mensch und hat mir zum Beispiel beigebracht, wir wichtig Pünktlichkeit ist. Heute ist Pünktlichkeit ein echtes Markenzeichen unserer Familie geworden“.

Roman Huryk

Roman Huryk, (2. Oktober 1994 in Iwano-Frankiwsk - 20. Februar 2014 in Kyjiw)

Roman Huryk (2. Oktober 1994 in Iwano-Frankiwsk - 20. Februar 2014 in Kyjiw) | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Roman studierte Philosophie in Iwano-Frankiwsk und träumte davon, ein Perpetuum mobile zu erfinden. Er starb mit 19 Jahren als einer der Jüngsten auf dem Maidan. In seinem Rucksack fand man Bonbons in buntem Papier – deshalb ist sein Porträt ein besonders farbiges Kreidebild in der Serie. Heute trägt eine Schule in Iwano-Frankiwsk seinen Namen.

Romans Mutter Iryna Huryk ist Dirigentin. Ehrenamtlich unterstützt sie Kinder, die durch den russischen Angriffskrieg ihre Eltern verloren haben. Allein in Iwano-Frankiwsk sind es 280.

Irynas Erinnerungen an Roman: „Die Prozesse um den Maidan laufen noch. Elf Jahre sind vergangen. Mein Sohn wäre jetzt 30 Jahre alt, ein Erwachsener. Er hat viel gelacht, hatte Sinn für Humor. Ich frage mich oft: Wie wäre Roman heute? Ich glaube, er wäre in die Ostukraine gegangen, um zu kämpfen.

Die schrecklichen Nachrichten kommen immer im Februar. Es ist der Jahrestag, an dem mein Sohn ermordet wurde. Und jetzt die Beerdigung seines Onkels, der mit 40 Jahren im Krieg gegen Russland gefallen ist. Jedes Jahr bete ich, dass der Februar nicht so hart wird. 

Ich habe viel über den Sinn des Lebens nachgedacht, seit ich Roman verloren habe. Beobachte den Wind, die Sonne, die Vögel, die Schmetterlinge. Ich spüre das Leben ganz bewusst – sogar in einer Mücke.“

Ihor Tkachuk

Ihor Tkachuk (1. September 1975 in Znamensk/Kaliningrad - 20. Februar 2014 in Kyjiw)

Ihor Tkachuk (1. September 1975 in Znamensk/Kaliningrad - 20. Februar 2014 in Kyjiw) | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Ihor starb an einer Schussverletzung am Kopf. Die Trauerfeier wurde von seiner Frau Maria Tkachuk gehalten. Maria züchtet seitdem Blumen und verschickt sie in die ganze Ukraine.

Marias Erinnerungen an Ihor: „Ihor war ein wunderbarer Mensch – gerecht, ehrlich und mutig. Er wollte immer Gutes tun und glaubte aufrichtig an Gott. Er versuchte, religiöse Fragen zu verstehen, studierte die Bibel, ging in die Kirche. Ich sah ihn jeden Tag beten. Es war etwas ungewöhnlich: Er ging nach draußen, verschränkte die Arme, schloss die Augen und betete.

Er lehrte seine Kinder, ehrlich und höflich zu sein. Unsere Familie war nicht reich, aber wir waren glücklich.

Im Januar 2014 beschloss Ihor, auf den Maidan zu gehen. Er glaubte fest daran, dass wir unser Schicksal ändern können, wenn diese kriminelle Regierung gestürzt wird. Am 20. Februar um 9:49 Uhr wurde Ihor von der Kugel eines Berkut-Polizisten getötet. Mit ihm ist unsere glückliche Zukunft gestorben.

Es schmerzt mich, dass die Mörder nach elf Jahren immer noch nicht bestraft wurden. Ich bin sicher, dass Gott, zu dem Ihor so aufrichtig gebetet hat, die Mörder von Ihor und unserem Sohn Yevgeniy bestrafen wird. Unser Sohn war 23 Jahre alt, als er von einem betrunkenen Autofahrer getötet wurde – mein fröhlicher, aufrichtiger und liebenswürdiger Sohn.“

Oleksandr Kapinos, genannt „Kremin“

Oleksandr Kapinos, genannt „Kremin“ (10. März 1984 im Dorf Dunayiv, Region Ternopil - 19. Februar 2014 in Kyjiw)

Oleksandr Kapinos, genannt „Kremin“ (10. März 1984 im Dorf Dunayiv, Region Ternopil - 19. Februar 2014 in Kyjiw) | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Oleksandr war Landwirt, Bürgerrechtler und Mitglied der Partei Swoboda. Er starb im Alter von 29 Jahren.

Oleksandr wollte die Traditionen seines Dorfes am Leben erhalten. Seine Schwester Natalia führt heute fort, was er begonnen hat. Sie gibt Seminare für Kunstlehrer*innen und unterrichtet an Schulen, damit die Kinder ukrainische Bräuche, Handarbeiten und Traditionen kennenlernen.

Natalias Erinnerungen an Oleksandr: „Während der Revolution der Würde war der Maidan ein Zentrum der Freiheit und der traditionellen Kultur. Nach der Ermordung der Himmlischen Hundert haben sich viele Ukrainer bewusst ihren kulturellen Wurzeln zugewandt.

Auch ich habe mich verändert. Ich bin entschlossener geworden. Die Angst, etwas nicht zu schaffen, ist verschwunden. Ich habe mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten und weiß, dass das Wichtigste ist, ein Ziel vor Augen zu haben.“

Frauen im Krieg

Marushkas Triptychen Frauen im Krieg entstanden zwischen 2016 und 2017. Sie sind eine künstlerische Reaktion auf die ersten Jahre des russischen Krieges in der Ostukraine, als täglich neue Todesnachrichten eintrafen und sich die Bilder von Beerdigungen tief in das kollektive Gedächtnis einbrannten.

Die unzähligen Fotos von Frauen, die ihre im Krieg gefallenen Männer, Brüder und Söhne zu Grabe tragen, haben bei Marushka einen tiefen Eindruck hinterlassen und sie zu den Triptychen Frauen im Krieg animiert.

Bis heute werden Menschen in der Ukraine durch russische Waffen getötet. Täglich sterben Männer und Frauen, Soldat*innen und Zivilist*innen. Wohl auf jedem Friedhof selbst in abgelegenen Dörfern der Ukraine gibt es frische Gräber mit einem Meer von Blumen und ukrainischen Nationalflaggen. Hier liegen Menschen, die für die Freiheit ihres Landes gestorben sind.

„Diese Serie habe ich den Frauen gewidmet, die den Krieg überleben. Meine Triptychen erzählen vom weiblichen Blick auf den Krieg, von Trauer und Würde und von der Stärke, die bleibt, wenn alles andere bricht“, sagt Marushka über diese Serie. „Der Krieg geht vorbei. Die Frau bleibt. Und das Kind.“

Frau und Krieg

„Frau und Krieg“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 70×100 / 30×90 cm

„Frau und Krieg“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 70×100 / 30×90 cm | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Valentyna Korolko am Sarg ihres Mannes Mykola. Links und rechts ihre beiden Kinder. Mykola Korolko (19. Mai 1988 in Toboly, Oblast Wolhynien - 21. Juli 2014 in Horjiwka, Oblast Luhansk) war Scharfschütze in der ukrainischen Armee. Er starb während der Kämpfe um die Stadt Luhansk.

Marushka hat mit Valentyna Korolko gesprochen und ihre Erinnerungen festgehalten. Im Interview sagt sie über Mykola: „Zu Beginn der Maidan-Revolution kam unsere jüngste Tochter zur Welt. Mein Mann sagte, er müsse auf Dienstreise. Erst später erfuhr ich, dass er zu den Protestierenden auf den Maidan gefahren war. Von dort ist er direkt an die Front gegangen. Er erzählte mir nichts davon. Als ich von seinem Tod erfuhr, konnte ich es nicht glauben. Mein Jüngster war damals sieben Monate alt, unsere Älteste zwei Jahre.“

Der russische Großangriff 2022 erwischte Valentyna und ihre Kinder in Butscha. „Wir kamen unter russische Besatzung und flohen nach Irpin. Mein Auto wurde von Panzern überrollt. Wir haben alles überlebt: Hausdurchsuchungen, Fliegerbomben, Einkesselung. Wie durch ein Wunder sind wir entkommen“, erinnert sich Valentyna. „Ich glaube an den Sieg der Ukraine. Deshalb baue ich weiter an meinem Haus in Butscha. Gerade habe ich einen Zaun gebaut.“

Sonnenfinsternis

„Sonnenfinsternis“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 80×100 / 50×70 cm

„Sonnenfinsternis“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 80×100 / 50×70 cm | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Eine Frau trauert am Grab ihres Mannes – während über ihr eine Sonnenfinsternis stattfindet. Die verdeckte Sonne erinnert an ein Brot: Symbol des Lebens, der Ehe und des Glücks in der Familie. In der ukrainischen Kultur begleitet Brot das Leben von der Geburt bis zur letzten Ruhe.

Rosen mit Dornen

„Rosen mit Dornen“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 60×80 / 40×60 cm

„Rosen mit Dornen“, Triptychon, 2016 – Acryl auf Leinwand, 60×80 / 40×60 cm | © Marushka | Foto: © Chris Jordan

Ein junger Soldat wird in Luzk beerdigt. Seine Mutter beugt sich über seinen Kopf, der von einem Notverband umhüllt ist. Rosen bedecken seinen Körper. Auf den Seitentafeln sind seine trauernde Schwester und seine Freundin dargestellt.

 

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