Disability Pride Month  Der Kanarienvogel in der Kohlegrube

Der Kanarienvogel in der Kohlegrube Foto: Alpha Perspective via unsplash | CC0 1.0

Behindertenrechte sind weltweit in Gefahr. Welch weitreichende Folgen das für Bürger*innenrechte im Allgemeinen haben kann, zeigen historische Parallelen. Statt behinderte Menschen in Zeiten der Polykrisen zu opfern, sollte sich die Gesellschaft vielmehr ein Beispiel an deren Resilienz nehmen. Ein Kommentar von Andrea Schöne.

Der Juli ist Disability Pride Month – der Monat, den behinderte Menschen weltweit nutzen, um auf ihre Rechte und Lebenswelten aufmerksam zu machen. Oder: Einfach ihre Existenz und ihren Widerstand in einer Welt zu feiern, die sie eigentlich gar nicht haben möchte.

Disability Pride Month

Der Disability Pride Month geht auf die Verabschiedung des Americans With Disabilities Act  am 27. Juli 1990 zurück. Das US-amerikanische Bundesgesetz schreibt die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vor.

Die ersten Disability Pride Paraden, welche ähnlich wie die Pride Paraden für queere Menschen funktionieren, fanden in den USA statt. Inzwischen gibt es auch in deutschen Städten Disability Prides, etwa in Berlin, München oder Hannover. Besonders viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommt Disability Pride in Deutschland leider bis heute nicht.

Keine Beachtung von Behindertenrechten im Wahlkampf

Bei mir persönlich kommt eher wenig Feierlaune auf, wenn ich daran denke, wie stark Behindertenrechte in Deutschland vernachlässigt werden oder gar unter Beschuss sind. Im Bundestagswahlkampf spielte Inklusion kaum eine Rolle. Laut einer Umfrage des gemeinnützigen Vereins Aktion Mensch und dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos befürchteten Anfang Januar 2025 ungefähr zwei Drittel aller Befragten mit einer Behinderung, dass Themen wie Teilhabe und Inklusion im künftigen Bundestag als deutlich weniger wichtig erachtet werden könnten. Sie forderten von der Bundesregierung den Erhalt und Ausbau von sozialen Sicherungssystemen wie Krankenversicherung oder Bürgergeld, barrierefreiem Wohnraum und bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Bundeskanzler Friedrich Merz jedoch bezeichnete erst Anfang Juni die Ausgaben für die Jugend- und Eingliederungshilfe, welche unter anderem die Teilhabe behinderter Menschen im Alltag ermöglicht, als „nicht länger akzeptabel“.

Weltweit immer mehr Einschränkungen von Behindertenrechten

Als behinderte Journalistin mit einem Studium in Geschichtswissenschaften beunruhigen mich diese Entwicklungen enorm, da sie mich nur allzu sehr an die Situation vor etwas mehr als 100 Jahren erinnern. Ebenso wie in der Covid-19-Pandemie wurde das Lebensrecht behinderter Menschen auch während der Spanischen Grippe der Jahre 1918 bis 1920 infrage gestellt. Es war auch damals weltweit die Rede von Ressourcenknappheit, wie die US-Historikerin Dagmar Herzog in ihrem Buch Eugenische Phantasmen aufzeigt.

Die US-amerikanische Autorin Sara Nović, die selbst taub ist, warnte erst vor wenigen Monaten angesichts der dramatischen Einschnitte im sozialen Bereich und der Einschränkungen von Bürgerrechten für behinderte Menschen durch die Trump-Administration an, wie gerade die Beschneidung von Behindertenrechten ein erstes Signal sein kann für weitaus größere Einschnitte in allen Bürger*innenrechten. Im Hinblick auf die Auswirkungen der Klimakrise bemüht Nović das Bild des Kanarienvogels in der Kohlegrube. Kanarienvögel reagieren weit sensibler auf giftige Gase als Menschen, weshalb sie in früheren Jahrhunderten von Grubenarbeitern mit unter Tage genommen wurde. Starb der Vogel, brachten sich die Bergleute in Sicherheit. Erkennen heutige Gesellschaften die Gefahr?

Die Geschichte zeigt eine Parallele, die uns heute zu denken geben sollte. Die ersten systematisch vom NS-Regime Ermordeten waren jüdische behinderte Menschen in Behinderteneinrichtungen in Deutschland und im überfallenen Polen. Eugenisches Gedankengut, das in Nazi-Deutschland besonders radikal angewandt wurde, hatte aber auch zur gleichen Zeit in den USA und vielen weiteren Ländern weltweit Fürsprecher*innen und führte zu Migrationsbeschränkungen behinderter Menschen und zu Zwangsterilisationen. Auch in Deutschland wurden erst Ende Januar 2025 behinderte Menschen offiziell als NS-Verfolgte anerkannt. Achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts.
Behinderte Menschen mit ihren Erfahrungen und Fähigkeiten, mit widrigen Lebenssituationen und Diskriminierungen zurechtzukommen, sind geradezu prädestiniert, um sie als Löser*innen von Problemen, die die gesamte Gesellschaft betreffen, einzubinden.

Stolz sein zu überleben

In unserer Zeit der Polykrisen sollten Behindertenrechte eine große Rolle spielen, da behinderte Menschen bei kriegerischen Auseinandersetzungen, Pandemien und Naturkatastrophen ein besonders hohes Risiko tragen, großen Schaden zu erleiden oder gar zu sterben. So bestätigt eine Studie der Universität Harvard, dass das Risiko behinderter Menschen bei Naturkatastrophen zu sterben zwei bis vier Mal höher ist. Danila Zizi, die Programmdirektorin für Syrien der Hilfsorganisation Handicap International, sagte mir erst kürzlich, eine der größten Auswirkungen des 14-jährigen Krieges in Syrien ist, dass fast ein Drittel der Bevölkerung eine Behinderung als Kriegsfolge von sich tragen, aber im öffentlichen Leben und beim Schulbesuch stark ausgegrenzt werden. Gerade hier wäre Inklusion ein Schritt zu heilen, Frieden zu finden. Gerade hier zeigt sich aber auch, unter welch widrigen Umständen behinderte Menschen überleben.

Behinderung ist keine Schwäche. Behinderung ist aber auch keine Superkraft. Dennoch kann gerade die „Zwangsresilienz“ behinderter Menschen insbesondere Nichtbehinderten eine Lehre sein. Behinderte Menschen mit ihren Erfahrungen und Fähigkeiten, mit widrigen Lebenssituationen und Diskriminierungen zurechtzukommen, sind geradezu prädestiniert, um sie als Löser*innen von Problemen, die die gesamte Gesellschaft betreffen, einzubinden. Zusammenarbeit und Kooperation hält die Welt zusammen. Nicht Gewalt und das vermeintliche Recht des Stärkeren. Das wussten schon unsere Ururahnen. Entgegen weit verbreiteter Annahmen zeigen Ausgrabungen aus prähistorischen Gesellschaften der Altsteinzeit, dass behinderte und kranke Menschen ein voller Bestandteil der Gesellschaft waren und nicht zum Sterben zurückgelassen wurden.

Mehr Aufmerksamkeit und Interesse für die Lebenswirklichkeiten behinderter Menschen kann sowohl in Kriegssituationen als auch in der Klimakrise weltweit lebensrettend sein. Darum feiere ich die Widerstandskraft behinderter Menschen weltweit, auch für mein eigenes Überleben. Und als Warnung nicht erneut der „Kanarienvogel in der Kohlegrube“ zu sein.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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