Kriegskinder — so wird künftig die heranwachsende Generation der heutigen Ukraine bezeichnet. Viele von ihnen mussten die Schrecken des Krieges zweimal erleben — zuerst im Osten der Ukraine und dann mit Beginn der Großinvasion im Jahr 2022. Einige von ihnen können ihre Traumata mithilfe eines Kindermärchens über den Krieg überwinden. Wie genau, erzählt Rita Caterpillar, Autorin des Projekts und Gründerin des Pariser Kulturvereins D.U.S.T..
Kinder und Krieg – eines der tragischsten Themen in der Kunst. Und diejenigen, die heute diese Kunst erschaffen, sind mit Beginn des Krieges selbst mit einem wenig beneidenswerten Schicksal konfrontiert worden.Nehmen wir zum Beispiel Ulyana Danyluk. Die ehemalige Schauspielerin, Regisseurin und Gründerin des inklusiven Kindertheaters Ki La Ba in Wyschhorod ist alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern. Sie ging nach Italien, um dort ihr Glück zu suchen. Doch weder Rampenlicht noch Proben im Kreise lebhafter Kinder erwarteten sie dort. Ohne Beziehungen und Sprachkenntnisse konnte sie ihre Familie nur durch Überstunden in einer lokalen Fabrik ernähren.
Auch die Schauspielerin Iryna Rura vom Akademischen Theater des Gebiets Cherson erlitt ein ähnliches Schicksal. Im Jahr 2021 ging ihre Karriere steil bergauf: Sie erhielt Hauptrollen im Theater und im Kino. Es schien, als stünde ihr eine große Zukunft bevor. Als sie 2022 auf Umwegen aus dem besetzten Cherson ins Ungewisse aufbrach, betrachtete sie es als großen Erfolg, eine Stelle als Verkäuferin und Beraterin im Zara-Geschäft in Paris zu bekommen. So lernten wir uns kennen. Ich sah ihre Anzeige in einer Gruppe für Ukrainer*innen im Ausland: „Mädels, Ukrainerinnen, es gibt die Möglichkeit, als Verkäuferin bei Zara zu arbeiten. Französischkenntnisse sind nicht erforderlich.“
Doch alle, die ausgewandert waren — sei es ins sonnige Italien oder ins romantische Paris — hatten nur eines im Sinn: Wie können sie als Künstler*innen, obdachlose Geflüchtete mit vorübergehendem Aufenthaltsstatus in Europa der Ukraine helfen und die eigenen Fähigkeiten zur Verbesserung der Situation einsetzen? Alle hatten ihre eigenen Gründe, sich in der Situation der erzwungenen Emigration wiederzufinden: Die Coronavirus-Pandemie stürzte den Kultursektor in den Niedergang und trieb seine Akteur*innen in hohe Schulden und Kredite. So verband in der Emigration jedes vertraute Wort, das in der anonymen Schlange vor dem Asylamt fiel – „Theaterfakultät“, „Filmproben“, „Absolvent der Karpenko-Kary-Universität“ – die Gesprächspartner*innen durch eine feste Freundschaft und große Träume für die langen Jahre im Exil.
Stell dir vor, deine ganze Welt passt jetzt in einen Koffer. Du entscheidest selbst, was du mitnimmst und was du zurücklässt.
Die Idee eines mobilen therapeutischen Theaters kam unerwartet. Während ihrer langen Irrfahrt durch die Fremde erfanden Ulyana und ihre ältereTochter Ivanna Märchen für die jüngere Tochter — über den großen Ozean voller unbekannter Wesen, über zufällige Begegnungen mit seltsamen Kreaturen, die ihre Sprache nicht verstanden. Ein Jahr vor dem Krieg schloss Ivanna ihr Designstudium in Kyjiw ab und bereitete zusammen mit dem inklusiven Theater ihrer Mutter ein Theaterbuch vor. Es sollte eine kleine Schachtel mit einer Bühne und ausgeschnittenen Figuren werden. Die Pläne sind nicht aufgegangen.Zur gleichen Zeit scheiterte auch meine Karriere als Drehbuchautorin und Psychologin, die mit kreativen Menschen arbeitet. Fasziniert von Jungs Theorien, entdeckte ich eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen den Geschichten aus der Pappschachtel und den Archetypen, die in der projektiven Psychotherapie verwendet werden. Carl Gustav Jung unterschied grundlegende Archetypen, das sind universelle Bilder und Verhaltensmuster, die im kollektiven Unbewussten existieren und sich in Mythen, Märchen, Träumen, Kunst und im Leben der Menschen manifestieren. Ein gewöhnliches Kinderbuch wurde zu einem Instrument, um jedes Problem eines Kindes zu bearbeiten und bot Hoffnung auf Heilung von den Traumata des Krieges und der Emigration.
Rita Caterpillar bei der Premiere der ersten Kindervorstellung in Paris | Foto © Vereinigung D.U.S.T.
Zur gleichen Zeit, im Jahr 2023, zwischen Paris und Berlin, unternahm der aus Odessa stammende Konstantin Novitsky erste Schritte in Richtung einer großen Regiekarriere.
Ein Kindermärchen über den Krieg? Aber wie meinst du das?
Stell dir vor, eine Mutter hat Angst, ihrem Kind die ganze Wahrheit zu sagen: warum man sich nach dem Heulen der Sirenen in der Dunkelheit verstecken muss, warum sie jetzt mit vielen fremden Menschen im Keller übernachten und sich von allen Spielsachen verabschieden müssen, die nicht in einen kleinen Rucksack passen. Während der schwarze Himmel von den Blitzen der Raketenexplosionen durchzogen wird, erzählt sie ihrer Tochter ein Märchen über den Kampf ums Licht. Und die Evakuierung in einem dunklen, überfüllten Zug wird zu einem spannenden Abenteuer auf dem Weg zum Licht.
Ich verstehe. Ich sehe schon alles vor mir. Leg auf – in zwei Wochen liegt das Stück auf deinem Schreibtisch.
Das einzige Problem war, dass alle, die bereit waren, an dem Projekt mitzuarbeiten, in verschiedenen europäischen Städten und Ländern verstreut lebten. So entstand der Name unserer soziokulturellen Initiative „Na Plotu“ (На Плоту – Auf dem Floß): Wir versammelten uns wie auf einem schwimmenden Stück Heimat, um gemeinsam für die Zukunft der Ukraine zu arbeiten. Das Problem der Entfernungen lösten wir, wie es auch während der Corona-Pandemie üblich gewesen war: Das Team traf sich zu Planungen und Lesungen des Drehbuchs via Zoom. Dank des deutsch-ukrainischen Programms „Culture Helps“ unter der Leitung von „zusa culture“ (Deutschland) und „Insta Osvita“ (Ukraine) wurde in Kyjiw die Pilotauflage der ersten Theaterbücher gedruckt. Auf der Grundlage des Pariser „Atelier des artistes en exil”, einer Vereinigung, die Künstler*innen aus aller Welt unterstützt, fand im März 2024 die erste Präsentation des Projekts in Europa statt. Vor dem Hintergrund der Ausstellung Childhood in War des polnischen Kriegsreporters Patryk Jaracz wurde dort eine Pressekonferenz mit dem Theaterteam für emigrierte Künstler*innen, Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen im Bereich der Kunsttherapie durchgeführt. Das waren die ersten praktischen Vorträge über die Verwendung von Antikriegsmärchen zur Erhaltung der psychischen Gesundheit junger Ukrainer*innen.
Wir haben das Stück bereits auf Theaterbühnen, in Veranstaltungssälen und in Zentren für Geflüchtete aufgeführt. Rund 1.000 Kinder und Eltern haben uns bereits kennengelernt. Und dank des Theaterbuchs kann das Konzept des Märchenspiels auch ohne unsere Anwesenheit funktionieren. Wir führen regelmäßig Online-Beratungsgespräche mit Tipps zur Verwendung solcher Bücher in der Traumaarbeit durch. Kinder, die in ihrer neuen Umgebung Konflikte haben und ihren Schmerz nicht mit Erwachsenen teilen können, öffnen sich im Dialog mit ihren Lieblingsfiguren, indem sie in die Rolle ihrer Heldinnen und Helden schlüpfen, oder lösen sogar Schwierigkeiten durch Dialoge mit Antagonisten im Theaterkarton. Das Hauptziel ist es, jede Lebensgeschichte aus der Position des Opfers in die von starken und unabhängigen Held*innenen zu versetzen, die das Drehbuch ihres Lebens selbst und in Echtzeit schreiben. Unserer Meinung nach beginnt jeder Sieg – ob groß oder klein – genau mit dieser Erkenntnis.
„Jedes Mal, wenn ich gezwungen war, durch die Welt zu reisen, habe ich viele mutige und starke Kinder und Jugendliche gesehen. Sie alle glauben fest daran, dass das Licht über die Dunkelheit siegen wird! Ich habe mit ihnen in Geflüchtetenunterkünften, in Luftschutzbunkern, in Bussen, die weit weg von zu Hause fuhren, und in anderen Ländern gesprochen. In diesem Werk habe ich viele wichtige Ideen und Symbole zu einer Kette aus Ereignissen und Gedanken über Krieg, Migration und die Angst, sich in der Dunkelheit der Ereignisse zu verlieren, zusammengefügt. Für mich selbst habe ich eine Lösung gefunden: Ich muss leuchten und mein Licht mit denen teilen, die es am meisten brauchen“, sagt Ivanna Danyluk, die Autorin des Buches.
Zur gleichen Zeit, im März 2024, wurde Kaum ein Märchen in Paris zum ersten Mal ukrainischen Kindern gezeigt. Die Geschichte über das kleinen Glühwürmchen, das in eine hoffnungslose Dunkelheit gerät, in der alle Angst vor dem Licht haben, und wie es seine Angst überwindet und den gesamten Ozean vor der Diktatur des unersättlichen Kalmars rettet, wurde von ukrainischen geflüchteten Darsteller*innen auf der Bühne erzählt. Das Buch mit dieser Geschichte gelangte in die Hände von 300 Familien und Zentren für Kriegsvertriebene. Unterstützt wurde die Aufführung von der berühmten ukrainischen Künstlerin Nataliya Buzko (Star der international bekannten Fernsehsendung Maski Show und Mitbegründerin des Odessa Clown House). Ihre Stimme verkörpert die verzweifelte Medusa, die als Symbol für unsere Verteidigerinnen und Verteidiger steht. Zudem hat die ukrainische Band Okean Elzy dem Stück ihren Song Choven (Човен – Boot) geschenkt.
„Ich denke, dass unsere Arbeit nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene interessant sein kann. Wir behandeln Themen, die vielen Ukrainern sehr nahe sind – Krieg, Verlust, Not und die Suche nach dem Guten in der Dunkelheit der Realität –, aber so, dass es für Kinder interessant ist und Erwachsene es verstehen können“, sagt Denis Fesenko, der in der Aufführung den Seewolf spielt.
„Ich habe einen jüngeren Bruder. Ich beobachte, wie er erwachsen wird und wie er mit den neuen Herausforderungen des Lebens kämpft. Ich wünsche mir sehr, dass er das Gute nicht vergisst, vor allem in solch schwierigen Zeiten. Meine Rolle als Schauspielerin ist es, den Kindern Glauben und Selbstvertrauen zu vermitteln, Vertrauen in eine strahlende Zukunft und darauf, dass sie nicht allein sind“, sagt Viktoria Shepsheley, Darstellerin der Hauptrolle des Glühwürmchens.
Dieses Projekt betrifft nicht nur den Krieg in der Ukraine. Es betrifft jeden Krieg und erzieht die nächsten Generationen so, dass sie das Schicksal vermeiden, das uns widerfahren ist. Es geht darum, dass Solidarität und gegenseitige Unterstützung das Wertvollste sind, was wir haben, und dass wir nur gemeinsam alle Wendungen des Schicksals überwinden können. Kriege müssen ein Ende haben.
„In dieser schwierigen Zeit denkt niemand an die ukrainischen Kinder. Sie haben nicht mehr ihr gewohntes Umfeld. Sie haben keine Möglichkeit, eine Aufführung in ihrer Muttersprache zu sehen. Kaum jemand macht sich Gedanken darüber, was in ihren Seelen vorgeht“, sagen dankbare Eltern, die als Geflüchtete hierher gekommen sind.
Derzeit bauen wir eine Zusammenarbeit mit dem Akademischen Puppentheater Wolhynien auf, um das Theaterstück nicht nur in Europa, sondern auch in der Ukraine zu zeigen — in Zentren für Binnenertriebene, Notunterkünften und Krankenhäusern. Der Initiative haben sich die ukrainische Wohltätigkeitsorganisation „Für die Freiheit und Zukunft der Ukraine“, der Lwiwer Fonds „West-Ost“ und die Wohltätigkeitsorganisation „Nesham“ aus Odesa angeschlossen. Es besteht die Hoffnung, dass die kleinen ukrainischen Zuschauer*innen diesen Krieg gemeinsam mit den Held*innen bald gewinnen können.
„Aus dem Krieg haben wir gelernt, dass das Einzige, was Wert und Sinn hat, das Leben selbst ist. Nichts als das Leben. Und das Glück, das das Leben erfüllt, liegt in kleinen Dingen. Wie zum Beispiel einem 50-minütigen Märchen. Aber wie viel Liebe steckt darin ... Menschliche, bedingungslose Liebe. Vor drei Jahren waren wir noch Fremde, jeder mit seinen eigenen Dingen in unterschiedlichen Städten beschäftigt. Heute überqueren wir unentgeltlich Landesgrenzen, um 50 Minuten Freude zu schenken — einfach so. Darin liegt die Liebe und das Glück. Das ist das pure Leben“, erklärt Iryna Rura, die die weitere Hauptrolle des Haifischleins spielt.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Oktober 2025