Die 28-jährige Sascha Bergasowa hat in Sumy ein Großplakat an einer Straße anbringen lassen. Darauf zu sehen ist das Porträt ihres Verlobten Serhij Katschan, Soldat. Im November wäre er 37 geworden. Serhij fiel im Juli 2024 in der Region Luhansk, doch beerdigt werden konnte er erst acht Monate später. Seitdem lernt Sascha, ohne ihn zu leben. Sie hält an ihren Erinnerungen fest, kämpft gegen das Vergessen und spürt täglich, wie schwer Trauerarbeit in einer Gesellschaft wiegt, der die Worte für den Verlust fehlen.
Sich an die Erinnerung festhalten
Wer bin ich? Ich bleibe Teil von dir,Lass mich doch gehʼn.
Ich schütze dich mit mir.
Ich ging fort, ließ meine Flügel liegen.
Komm, geh auch du.
Lass deine Segel wehen.
Vor Kurzem ließ sich Sascha diese Zeilen tätowieren. Die roten Buchstaben auf ihrer Schulter ahmen die Handschrift ihres toten Geliebten nach. Es ist eine Strophe aus dem Lied Harmaty (Гармати – Kanonen) des Musikprojekts Jura Samojlow. Hurtom.
Am 20. Juli 2024 fiel ihr Verlobter, Kommandant Serhij Katschan, an der Front bei Luhansk. Heute ist es Saschas wichtigstes Ziel, die Erinnerung an ihn zu bewahren. Lange Zeit arbeitete sie als Software-Testerin in der IT-Branche. Nach Serhijs Tod wollte sie nicht in diese Sphäre zurückkehren. Sie brauchte Arbeit unter Menschen, um nicht ständig mit sich allein zu sein. So wurde sie Kellnerin und Barkeeperin im Café Che’s in Sumy.
Kennengelernt hatte sich das Paar 2016 über gemeinsame Freunde. Schon damals fiel ihr seine offene, herzliche Art auf. Jahrelang hatten sie wenig Kontakt, bis sie sich 2021 wiedersahen.
Serhij liebte es, Sascha aus dem Haus zu holen, um etwas zusammen zu unternehmen: Spaziergänge, Schlittschuhlaufen, Skifahren im Gebiet Kossiw.
„Er war ein wunderbarer Mensch. Das sage ich nicht nur, weil ich ihn liebte, sondern weil das nicht nur meine Meinung ist“, sagt Sascha. „Ruhig, ausgeglichen, aber auch für jeden Spaß zu haben. Er traf sich gern mit Freunden und trieb viel Sport: Freistilringen, Tischtennis, Laufen, Skifahren. Und er entspannte beim Zocken, um von der Arbeit abzuschalten.“
Alle ein, zwei oder mehr Monate: Wir sahen uns immer seltener
Als der große Krieg begann, überlegte Serhij, zur Armee zu gehen. Sascha bat ihn zu warten, was ihn zunächst zurückhielt. Doch als Reserveoffizier (er hatte an der Universität den Militärlehrgang absolviert) erhielt er bald Post: Seine Firma bekam eine Liste von 12 Mitarbeitern, die auch Reserveoffiziere waren. Sie mussten ihre Daten aktualisieren und sich beim Wehramt melden. Serhij war bereit, bestand die Musterung und wurde einberufen.Im April 2023 begann seine Ausbildung, erst an der Militärakademie in Odessa, dann in Schytomyr, wo er zum Leutnant ernannt wurde. Sascha verlor in dieser Zeit durch eine Kürzung ihren Job. Für eine neue Stelle musste sie nach Litauen ziehen. Sie zögerte. „Serhij überzeugte mich: ‚Es macht keinen Unterschied, ob ich 300 oder 1000 Kilometer weit weg bin‘“, erinnert sie sich. Sie zog um, und es war schwer. Ein neues Land, ein neuer Job, während ihr Verlobter zum ersten Mal in Stellung ging. „Aber Serhij unterstützte mich. Er meinte, alles würde sich regeln und wir würden uns bald wieder sehen“.
Im Herbst trainierte Serhij in Polen und Deutschland. Im Winter trat er seinen Dienst dort an, wo er hinwollte, und zwar als Kommandant eines Luftlandezugs in der 81. separaten Luftlandebrigade. Kurz vor Neujahr 2024 ging er erstmals an die Frontlinie: Bilohoriwka, Sektor Luhansk. Er war nicht nur Kommandant, sondern inoffiziell die „rechte Hand“ des Kompaniechefs, führte neue Rekruten in ihre Stellungen und überwachte regelmäßig die Lage am Beobachtungsposten.
Die seltenen Treffen wurden noch rarer, als er an die Luhansk-Front verlegt wurde. Die Distanz und die Sorge belasteten Sascha schwer, sie stand unter enormem Stress. Im Februar 2024 vereinbarte sie Fernarbeit und kehrte nach Sumy zurück. Im Folgemonat wollte Serhij Urlaub nehmen, doch im letzten Moment wurde er gestrichen. Die Lage an der Front war kritisch, es fehlten Männer. Also sahen sich die beiden erst Anfang April wieder, nachdem er verwundet worden war.
„Eines Tages schickte Serhij eine Videonachricht auf Telegram. Ich klickte auf den Kreis mit seinem Gesicht und hörte die Stimme: ‚Hallo Häschen. Ich werde heute evakuiert, bin auf eine Mine getreten, ein paar Splitter haben mich erwischt. Bitte keine Sorge. Alles wird gut‘“, erzählt Sascha. Es stellte sich heraus, dass Serhij eine Gruppe Soldaten zu einer Stellung führte. Fünf Minen hatte er umgangen, die sechste löste er aus. Ein Splitter durchschlug sein Bein, er erlitt Prellungen im Lendenbereich und ein Knalltrauma. Da seine Verletzung im Vergleich zu anderen als „leicht“ galt, wurde er erst am nächsten Morgen evakuiert. Unterwegs beschossen die Russen das Evakuierungsfahrzeug. Kameraden neben Serhij wurden verletzt. Er leistete Erste Hilfe: Einem legte er ein Tourniquet an, einem anderen tamponierte er die Wunde und verband sie. „Er hat ihnen das Leben gerettet, dank seiner Besonnenheit. In schwierigen Situationen konnte er immer schnell und ruhig handeln“, sagt Sascha.
In diesen Tagen bemerkte Sascha, wie sehr der Krieg Serhij bereits gezeichnet hatte. Er war müde, ausgezehrt. Deshalb fasste er den Plan, als Ausbilder in den rückwärtigen Dienst zu wechseln. Mit seiner Kampferfahrung und der Verwundung hatte er Anspruch darauf. Noch während des Urlaubs schaffte er es, seine Lebensläufe zu verschicken. Danach kehrte er an die Front zurück. Sascha fuhr nach Litauen.
„Zwei Ausbildungszentren standen bereit, ihn zu übernehmen. Doch seine Vorgesetzten legten ihr Veto ein. Die Personaldecke an der Front war zu dünn, jeder Mensch war unersetzlich. Sascha ist überzeugt: Um eine solche Versetzung gegen den Mangel durchzusetzen, hätte es Protektion von ganz oben gebraucht, nämlich Beziehungen, die Serhij nicht hatte. Also blieb ihm keine Wahl: Er kehrte in den Sektor Luhansk zurück und kämpfte weiter. Bis zu seinem letzten Tag.“
„Erst acht Monate nach seinem Tod konnten wir ihn beerdigen”
Im Juli 2024 wurde Serhij mit seiner Einheit verlegt. Als Kommandant übernahm er eine neue Stellung. Er hatte Sascha vorgewarnt: Es würde eine Zeit der Funkstille geben. Doch das beruhigte sie nicht. Eine dunkle Vorahnung ließ sie nicht schlafen, sie bekam kaum einen Bissen herunter. Am 24. Juli dann die Nachricht von seiner Mutter: „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll… Serhij wird vermisst.“ Minuten später rief seine Schwester an, um dasselbe zu berichten.„Ich wusste instinktiv: Er ist tot. Ich rief den stellvertretenden Kompaniechef an. Er bestätigte, dass es Zeugen gab, durfte aber wegen der laufenden Ermittlungen nicht mehr sagen. An die Tage danach habe ich kaum Erinnerung. Ich weiß nur noch, dass ich meine Sachen packte und nach Sumy fuhr. Ich war so erschöpft, dass ich mein IT-Projekt in den Sand setzte. Deadline verpasst, Job weg“, erzählt Sascha.
Zwei Monate später kam die Gewissheit: Am 20. Juli war Serhij unter Mörserbeschuss geraten. Ein Splitter traf ihn tödlich am Hals. Der Evakuierungstrupp kam nicht durch. Vier Monate lang lag sein Leichnam am Ort des Todes. Der massive Beschuss machte eine Bergung unmöglich. Weitere vier Monate vergingen, bis er endgültig evakuiert werden konnte. Russische Drohnen machten Jagd auf jedes Fahrzeug, also entschieden die Soldaten nach der harten Logik: Kein weiteres Leben riskieren für einen Toten.
„Die Zeit des Wartens habe ich wie in Trance verbracht. Es dauerte so lange, ich fand nirgends Ruhe. Mal brach ich hysterisch zusammen, mal flüchtete ich in Aktionismus, etwa indem ich Spenden für die Armee sammelte. Erst im März 2025 wurde Serhij beerdigt. Damit begann für mich das eigentliche Trauern. Das Schlimmste daran ist das Gefühl, als würde dich etwas unaufhaltsam in die Tiefe ziehen.“
Da Sascha und Serhij nicht verheiratet waren, durfte sie nicht entscheiden, wo ihr Verlobter beerdigt wird. Serhijs Eltern bestanden auf einer Bestattung in Bilopillja. Sascha bat darum, zumindest die Abschiedsfeier in Sumy abzuhalten: Dort lebten viele seiner Bekannten, Freund*innen und Kolleg*innen. Die Eltern stimmten zu.
Der schwere Weg der Trauer und die Erwartungen der anderen
Nach der Beerdigung versuchte Sascha, standzuhalten. Doch der Schmerz wuchs ins Unerträgliche, wurde körperlich spürbar. Sie suchte Hilfe bei einem Psychotherapeuten, der ihr Antidepressiva verschrieb [In der Ukraine stehen einige Fachärzte für Psychiatrie auch als ausgebildete Psychotherapeuten zur Verfügung – Anm. d. Ü.]“„Es gibt Phasen, da fühle ich mich relativ normal“, sagt sie. „Aber sobald mich etwas triggert oder an ihn erinnert, überrollt mich die Trauer. Das kann ein gemeinsames Foto sein, das mir zufällig in die Hände fällt, oder ein Spaziergang durch eine Straße, in der wir oft waren. Egal wo ich hingehe, ich sehe ihn überall.“
Saschas Weg durch die Trauer ist schwer, und oft machen ihn die Menschen um sie herum noch steiniger durch Erwartungen, Vergleiche oder bloße Hilflosigkeit. Manche wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, andere wollen die Anstrengung nicht auf sich nehmen.
„Dabei ist es schon wertvoll, einfach nur da zu sein“, meint Sascha. „Wer nicht weiß, wie er unterstützen soll, sollte das am besten offen sagen. Aber manche drängen sich mit Ratschlägen auf: ‚Du musst dich zusammenreißen und weitermachen.‘ Manchmal vergleichen sie dein Leid sogar mit dem anderer: ‚Schau auf Lena, die hat es auch schwer.‘ Das ist das Schlimmste, was man tun kann. Oder sagen: ‚Du bist noch jung, du wirst noch ein glückliches Leben haben.‘ Woher wollen sie das wissen? Ich habe mir mein glückliches Leben mit Serhij vorgestellt. Und ihn gibt es einfach nicht mehr.“
Heute hält sich Sascha an den gemeinsamen Erinnerungen fest. Ihre größte Angst ist, dass Serhij vergessen wird. Manchmal schneidet sie Videos aus alten Aufnahmen zusammen oder teilt gemeinsame Fotos. Im November wäre Serhij 37 geworden. Zu seinem Geburtstag hat sie in Sumy ein Großplakat mit seinem Foto aufhängen lassen.
„Ich weiß nicht, ob die Leute auf das Banner achten“, sagt sie. „Manchmal fährt man die Straße entlang, und die Gesichter fliegen nur so an einem vorbei. Aber vielleicht schaut jemand Serhij an. Vielleicht erkennt ihn einer. Und vielleicht erinnert sich ein anderer an ihn.“
„Wir müssen wahres Mitgefühl lernen, nicht Mitleid.“
In unserer Gesellschaft wird nicht über den Tod gesprochen, erklärt Dajana Tarasjuk, eine praktizierende Psychologin und Beraterin für positive Psychotherapie aus Sumy. „Wenn jemand einen geliebten Menschen verliert, wissen wir einfach nicht, was wir sagen sollen. Deshalb kommen Phrasen auf wie: ‚Gott nimmt die Besten‘, ‚Halte durch für die anderen‘ oder ‚Wenigstens ist er ein Held‘.“„Menschen, die so etwas sagen, glauben, sie würden Unterstützung leisten. Manchmal kennen sie keinen anderen Weg, das auszudrücken. Für die Hinterbliebenen sind diese Worte jedoch toxisch. Die Gesellschaft drängt Trauernde in eine ausweglose Situation. Einerseits wird erwartet, man solle sich schnell zusammenreißen: Die Beerdigung ist vorbei, neun Tage sind vergangen, es sei Zeit, wieder zur Arbeit zu gehen und den Verlust nicht mehr zu erwähnen. Versucht die Person das, wird sie verurteilt: ‚Seht, wie schnell er oder sie vergessen hat‘.“
Praktische Psychologin, Beraterin für positive Psychotherapie, Dajana Tarasjuk. | Foto: © privat
„Wer bemitleidet wird, fühlt sich minderwertig. Mitgefühl hingegen ist der Versuch, die Schwere der Erfahrung zu verstehen und wirklich Anteil am Schmerz zu nehmen. Und damit das Gefühl vermitteln, dass es einem wirklich nicht egal ist. Man das den Trauernden nicht zur ‚gläsernen Vase‘ machen, die man nicht anzufassen wagt. Schreibt SMS, ruft an, fragt, ob er oder sie rausgehen möchte. Selbst eine Absage ist schon Unterstützung. Das ist besser als Schweigen und Distanz. Wenn man nicht weiß, was man sagen soll, ist es am ehrlichsten, das zuzugeben oder zu schweigen. Das ist menschlicher als eine weitere Floskel darüber, dass ‚alles gut wird‘ oder ‚die Zeit heilt‘.“, so Psychologin Dajana Tarasjuk.
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November 2025