Eine Kurzgeschichte von Bernardeta Babáková   Dann war aus der Abteilung zur Selbsthilfeliteratur ein Schluchzen zu hören

Frau sitzt und stützt die Stirn auf das Knie Foto: Verne Ho via unsplash | CC0 1.0

Zur Arbeit gehen, von der Arbeit kommen, Verpflichtungen, Freizeit, alltägliche Interaktionen mit anderen Menschen. Nichts Besonderes oder eine dauernde Herausforderung? Was (er)trägt die Nusle-Brücke in Prag und was eine junge, arbeitende Frau? Bernardeta Babákovás Kurzgeschichte handelt davon, dass unsere Resilienz nicht unerschöpflich ist.

Zur Arbeit gehen, von der Arbeit kommen, Verpflichtungen, Freizeit, alltägliche Interaktionen mit anderen Menschen. Nichts Besonderes oder eine dauernde Herausforderung? Was (er)trägt die Nusle-Brücke in Prag und was eine junge, arbeitende Frau? Bernardeta Babákovás Kurzgeschichte handelt davon, dass unsere Resilienz nicht unerschöpflich ist.

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Der Info-Punkt und der Ausleihtresen wurden nach der Renovierung zusammengelegt und so musste Nadja jetzt Bücher ausleihen, Bestätigungen für die Zahlung von Mahngebühren ausdrucken, Bibliotheksausweise ausstellen, Mahnungen versenden, Bestellungen bearbeiten, Fragen zu den geänderten Öffnungszeiten beantworten und erklären, welche Bücher direkt in den Regalen gefunden werden können und welche nur über den Katalog, oder wie das Bestellsystem funktioniert, und wie das W-LAN-Passwort lautet. All das jedoch für den immer noch gleichen Lohn gemäß Entgelttabelle, der sich über die Jahre nur um ein paar Prozent erhöht hat. Setzte man das in Relation zur Inflation verdiente Nadja für die doppelte Arbeit weniger als vor der Renovierung. Der Chef hatte alle einbestellt und ihnen einfach einen Zusatz zu ihrer Arbeitsplatzbeschreibung zur Unterschrift vor die Nase gehalten.

„Eine Optimierung ihrer Position, nur eine Formalie.“ Nadja und ihre Kolleginnen hatten den Wisch also unterschrieben. Statt einer festen Unterlage für die Vertragsunterzeichnung gab ihnen der Chef eine Hochglanzbroschüre mit dem Titel Anführer essen als letztes. Ein halbes Jahr lang hatten Nadja und die anderen Kolleginnen für einen Baby-Strampler gesammelt. „Die Ärztin hat mir ein Risiko-Attest ausgestellt, ich muss das hier echt nicht haben“, hatte die damals schwangere Kollegin gesagt und sich fester in ihren dicken Pullover gekuschelt. Der Serviceschalter befand sich seit der Renovierung genau gegenüber der Tür, die sich aber nicht richtig schließen ließ, sodass Nadja ständig im Durchzug stand. Von Mai bis September ließ es sich mit einer Packung Taschentücher pro Tag aushalten, für den Rest des Jahres mummelte sie sich in Poncho und Halstuch ein. Und außerdem war der Schalter von allen Seiten einzusehen, so dass sie nicht einmal etwas essen konnte, während sie für die Anfragen der Nutzerinnen und Nutzer bereitstand. Sich kauend über die Bücher zu beugen, war nicht sehr repräsentativ.

„Du wirst das bis auf Weiteres hier erst mal alleine schaffen müssen“, meinte der Chef schulterzuckend. Im Zuge der Renovierung hatte er sich einen neuen massiven Tisch für sein Büro angeschafft. Nadja wollte tief Luft holen, sie überlegte einen Moment, wie es sein konnte, dass er sie duzte, während sie ihn siezte, obwohl er sich das bisher nicht herausgenommen hatte. Doch das war ein Fehler, denn er ließ sie ab da nicht mehr zu Wort kommen.

„Du bist nicht von hier, stimmts? Das ist deine erste Arbeitsstelle, richtig? Frau Staňková hat Zucker und einen kranken Sohn. Und weißt du, wie viele Überstunden sie hat? Jeden Monat mindestens 30. Wenn ein neues Schuljahr anfängt oder aufhört auch mehr. Und sie lässt keine einzige Veranstaltung aus, sie fehlt nie. Wann hast du dich das letzte Mal in unser Veranstaltungsprogramm eingebracht?“ Er schüttelte den Kopf und um zu unterstreichen, dass die Unterhaltung beendet war, blickte er wichtigtuerisch auf seinen Monitor.

„Lass die ihren Scheiß doch alleine machen“, bekam Nadja öfter zu hören, wenn es ihr und ihrer Mutter endlich gelang, sich zu treffen. Meistens folgte dann ein Minivortrag darüber, dass selbst eine Verkäuferin bei Lidl mehr verdiente. Nadja hatte Mitleid mit den Verkäuferinnen. Sie waren für sie so etwas wie mythische Figuren aus einer Volksweisheit. Immer, wenn sie mit ihrem Einkauf in einer langen Schlange an irgendeiner Kasse stand, musste sie an die Worte ihrer Mutter denken.

Nadja hatte aber keine Lust zu kündigen, sie mochte ihre Arbeit, auch wenn das niemand von ihr erwartete. Sie freute sich auf das morgendliche Ankommen im menschenleeren Lesesaal, darauf, wie die Glühbirnen langsam heller wurden, wie sich ihr Leuchten an der Decke entlang bis zu den hintersten Regalen ausbreitete. Es bereitete ihr Vergnügen, über den flauschigen blauen Teppich zu gehen, der dank der fleißigen Arbeit der Putzkolonne jeden Morgen vor Ankunft der ersten Besucher wieder frisch war.

Die Vorstellung, in einer Bibliothek zu arbeiten, hatte ihr immer schon gefallen. Sie hatte sich das von dem Moment an gewünscht, als sie in der Kinderabteilung ihre ersten Disneybücher ausgeliehen hat. Damals durfte man nur fünf Bücher pro Person pro Monat ausleihen, so wenige, dass Nadja schon nach der ersten Woche die Bücher wieder von vorn lesen musste. Sie freute sich darauf, eines Tages lesen zu können, was ihr in die Hände fiel, so viel und so oft sie wollte.

Sie war zufrieden mit dem System, an das sie sich bei der Arbeit gewöhnt hatte, sie mochte die Stammgäste und die vielen Schülerinnen und Schülern, die zweimal jährlich zur Prüfungszeit in die Bibliothek strömten. Sie mochte sogar diesen Sonderling mit seiner Plastiktüte und dem immer gleichen Hemd, der sich vor allem für die Lebensgeschichten bekannter Mörderinnen interessierte. Nadja liebte es, wenn neue Bücher geliefert wurden, die sie dann in den Katalog einpflegen und anschließend ins entsprechende Regal räumen konnte, oder wenn sie Bestellungen heraussuchte. In letzter Zeit fielen ihr immer wieder Publikationen zu Psychologie, psychischer Gesundheit oder Anleitungen für ein zufriedenes Leben in die Hände. Sie verknüpfte den jeweiligen Titel immer mit den Händen der Leserin (gepflegt, mit Gelnägeln, mit Ringen, bunt lackiert, mit französischer Maniküre, mit einer Tätowierung) und deren Gesicht. Ambitionen – Wie große Karrieren gelingen. Die 1%-Methode. Schluss mit Prokrastination. Das Erwachen der inneren Göttin. Wie ich Dinge geregelt kriege. Darm mit Charme. Das Montessori Baby. Manchmal überraschte es sie, welche Leserin mit welchem Buch ein Paar bildete. Sie kam zu dem Schluss, dass nur schöne, fast schon perfekte Frauen diese Art Bücher lasen, wahrscheinlich, um noch perfekter zu werden. Es gab ebenfalls eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Männern, die sich mit dieser Art Literatur befassten. Sie liehen sich Titel aus wie Sieger werden, Design your life, Auf der Straße des Erfolgs (Success habits) oder Die vier Versprechen. Diese Männer sahen den Fotografien der Autoren auf den Buchumschlägen verblüffend ähnlich. Das verwirrte sie manchmal. Doch weil sie so eine professionelle Fachkraft war, checkte sie während der Arbeit keine Männer ab. Die Titel dieser Publikationen fand Nadja eigentlich ziemlich interessant, doch leider hatte sie sich gerade dazu entschlossen, ein weiteres Mal die komplette Serie Der dunkle Turm von Stephen King zu lesen.

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Eines Dienstagnachmittags, Mitte August, war es an Nadja, die undankbare Aufgabe zu übernehmen, alle Tische abzugehen und die Lesenden darauf hinzuweisen, dass die Bibliothek an diesem Tag bereits um 15:00 Uhr schloss. Sie begann ihre Runde schon um 14:20 Uhr, weil die Bibliothek groß war und Nadja sich nicht gerne beeilte. 25 Minuten bevor die Bibliothek zumachte, würde aus den knackenden Deckenlautsprechern in drei Sprachen die Schließzeit angekündigt werden. Als sie sich dem Mann mit der Plastiktüte näherte, sah der sie erschrocken an und deckte eilig die Seite ab, auf der er gerade gelesen hatte. Nadja war das sichtlich unangenehm, als hätte sie ihn beim Umkleiden überrascht oder die Türklinke einer besetzten Toilette heruntergedrückt. Sie beschloss, einfach weiterzugehen.

Die Bibliothek war fast menschenleer. Im Gegensatz zum draußen herrschenden Wetter war es drinnen verdächtig kühl. Die auf Hochtouren laufende Klimaanlage erlaubte es Nadja, für einen Moment zu vergessen, dass sie schon die zweite Woche jeden Morgen in einer aufgeheizten Wohnung aufwachte, müder als am Abend davor. Die Klimaanlage dröhnte und das nervte sie. In dem nahezu menschenleeren Lesesaal war dieses Dröhnen kaum zu überhören. Mehr noch nervte Nadja allerdings die quietschende Tür und das Surren des Servers und des Technikpanels, das sich direkt hinter dem Service-Punkt befand.

„Daran gewöhnst du dich“, hatte ihr Chef gesagt und abgewunken, als Nadja sich eine Woche nach der Renovierung über das nervtötende weiße Rauschen beschwert hatte. „Ein bisschen was musst du schon aushalten! Du arbeitest ja nicht im Maschinenraum eines Schiffes, sondern in einer Bibliothek, dem ruhigsten Ort der Welt!“ Er klopfte mit der Hand auf etwas, was Nadja an ein Lehrbuch erinnerte, der einzige Gegenstand auf dem massiven Tisch ihres Chefs. Speak So Your Audience Will Listen.

Am vergangenen Freitag hatte Nadja bemerkt, dass ihr Auge immer wieder zuckte. Übers Wochenende hatte es sich gebessert. Heute war Dienstag und sie merkte, dass der Tic zurückkam. Sie bog um eine Ecke, zwischen Die Psychologie des Kindes und Paarbeziehungen im 21. Jahrhundert saß der letzte Besucher an diesem Feriennachmittag. Er hätte ihr Mitschüler sein können, wenn sie noch zur Schule gegangen wären.

„Die Bibliothek schließt heute schon um 15:00 Uhr.“ Er beachtete sie nicht. Also trat sie einen Schritt näher und erhaschte einen Blick auf das Buch, über das er sich gerade beugte, Die Brücken von Prag. Nadja hüstelte und versuchte es noch einmal. „Die Bibliothek schließt in einer halben Stunde.“

Er musterte sie von Kopf bis Fuß, sein Blick wirkte leicht geringschätzig und sein Mund stand offen. „Du willst mir also sagen, dass du hier um Drei Schluss machst, Püppchen?“ Er schmatzte, verzog das Gesicht zu einem leichten Grinsen und klappte theatralisch das Buch zu.

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Am Donnerstag gesellte sich zu ihrem Augenzucken auch noch ein Pfeifen in den Ohren. Schon an ihrer Haustür und dann den ganzen Weg zur Arbeit hatte sie das Gefühl, der Quelle des weißen Rauschens immer näher zu kommen. Sie konnte es nicht verdrängen, das Rauschen irritierte sie ständig und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es sich heimlich und heimtückisch in ihrem Ohr einnistete, wie einer dieser gefährlichen Ohrenkneifer-Käfer, dass es sich zwischen ihrem Steigbügel und dem Amboss festsetzte und sie es nie mehr loswerden würde.

Am Freitag ging Nadja auf dem Weg zur Arbeit bei ihrer Hausärztin vorbei, um die Testergebnisse ihrer Vorsorgeuntersuchung abzuholen. „Sie haben Leukozyten im Urin“, sagte die Ärztin und zog dabei die Augenbrauen hoch. „Hatten Sie eine Erkältung oder sind Sie im Sommer in kaltem Wasser geschwommen? Sind Sie in nassen Badesachen herumgelaufen?“ Nadja musste blinzeln. Ob sie sich bei dieser Hitze draußen eine Erkältung geholt hätte? „Ich verschreibe Ihnen Antibiotika, keine Süßigkeiten, kein Alkohol, gehen Sie nicht baden, meiden Sie feuchte Luft und Durchzug.“ Wie soll das bitte gehen?

Auch am Freitag schloss die Bibliothek wieder um 15:00 Uhr. Die Ferien waren noch nicht vorbei. Nadja rieb ihre Hände aneinander und legte sie sich dann auf den Bauch. Es war ihr egal, dass man sie von allen Seiten beobachten konnte. Auch, dass man sie durch die großen Fensterscheiben sehen konnte, hinter denen Jungs mit Skateboards und ohne T-Shirts herumlungerten. Ihr Chef war freitags meistens nicht da, also ließ sie die Erinnerungsrunde zu den Bibliotheksnutzern aus. Sollte doch der schnarrende Lautsprecher sich um den Rausschmiss kümmern. In Gedanken versunken streichelte sie ihren Bauch, fühlte nach der Stelle, wo sie ihre Blase vermutete. Einmal hatte sie irgendwo etwas über Heilende Berührungen gelesen. Sollte sie ihrer Ärztin von dem ständigen Durchzug erzählen? Oder, dass ihr der Rücken weh tat, weil sie den ganzen Tag saß? Dass sie Angst vor diesem Dröhnen in ihrem Kopf hatte, das nicht aufhören wollte? Konnte es sein, dass das ungesund war? Und hatte es vielleicht irgendeinen Einfluss auf ihr Gehirn? Könnte man sie nicht vielleicht ins Archiv versetzen? Oder ihr Chef eine Aushilfe finden, damit sie sich am Service-Punkt abwechseln und zweimal am Tag im Personalraum verschwinden könnte, um außerhalb des Sichtfeldes der gesamten Bibliothek etwas zu essen? Der Leser der Biografien berühmter Mörderinnen bat um die Verlängerung eines Buches über die tschechoslowakische Massenmörderin Olga Hepnarová. Nadjas Augen blieben an seiner Plastiktüte hängen, die er daraufhin eilig hinter seinem Rücken versteckte.

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Diese Woche dröhnte es in Nadjas Kopf besonders heftig, selbst nachdem sie Feierabend gemacht hatte. Sogar in der Nacht, wenn sie aufwachte, dröhnte es in ihrem Kopf, und soweit sie sich daran erinnern konnte, was sie geträumt hatte, war dieses Dröhnen auch in ihren Träumen präsent.

Im Lesesaal ertönte ein helles Piepen, das Warnsignal war angesprungen.

Nadja sprang hinter ihrem Pult hervor. „Dieses Buch können Sie nicht mitnehmen, das ist ein Präsenzexemplar!“ Sie eilte auf einen jungen Mann zu, der sich Brücken der Welt – Von der Antike bis in die Gegenwart unter den Arm geklemmt hatte. Sie wollte ihm das Buch wegnehmen, aber er wich plötzlich zurück, sodass Nadja ins Leere griff.

„Ich gebʼ das nicht her“, flüsterte er lasziv und wich noch ein Stück zurück. Sie blinzelte und sah sich hilflos im Lesesaal um, ob ihr vielleicht jemand zu Hilfe eilte. Sie fühlte sich einsam und verzweifelt. Der Mann mit der Plastiktüre hatte sich unter einem Tisch verkrochen.

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„Denkst du, ich sollte nochmal heiraten?“, fragte Nadjas Mutter, als es den beiden endlich gelungen war, nach drei Wochen einen Termin zu finden, an dem die Mutter keine Schicht hatte oder nach einer Nachtschicht zu müde war und Nadja nicht den ganzen Tag arbeiten musste.

Nadja zuckte mit den Schultern. „Bist du glücklich?“

„Ich würde es gerne sein können.“ Die Mutter zündete sich eine Zigarette an. Nadja rümpfte angeekelt die Nase. Ihr fielen ein paar blaue Flecken am Handgelenk ihrer Mutter auf, doch die steckte ihre Hand samt Feuerzeug gleich wieder in ihre Tasche. Es folgte keinerlei „Und was ist mit dir?“.

Nadja war sich sicher, dass es nicht mehr viel bedurfte, bevor sie in Tränen ausbrach. In den zurückgegebenen Büchern über Architektur und Brückenbau tauchten regelmäßig Nachrichten auf. Von so unschuldigem Kram wie „Wann wirfst du mich wieder raus?“ oder „Catch me if you can“, über Zitate aus Songs, die Nadjas Großmutter gefallen hätten, bis hin zu direkten, fast schon schlüpfrigen Aufforderungen zu konkreten Handlungen, Bemerkungen zu ihrem Körper und idealisierte Akte von ihr. Dass sie das sein sollte, hatte der Künstler mehrfach deutlich gemacht, indem er die Skizzen einer Nackten mit Nadjas Gesicht an verschiedenen Stellen der Bibliothek platziert hatte.

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Ich bau mir eine perfekte Brücke (Já postavím si bezvadný most)
die Pfeiler hat, so stark (pevné pilíře a bude jich dost)
dass sie so viel tragen kann (aby udržely aspoň tolik)
wie meine Liebe wiegt (co láska má váží)


Hatte das Dröhnen in ihrem Kopf etwa nachgelassen? Gab es hier jetzt auch akustische Halluzinationen? Statt der normalerweise ertönenden Aufforderung, die Bibliothek zu verlassen, weil sie in 15 Minuten schließen würde, erfüllte ein heiseres, krächzendes Duett den Lesesaal.

Dann gehe ich dorthin, wo du mich nicht erwartest (Pak přejdu tam, kde mě nečekáš)
Die Brücke ist klein, doch sie gehört uns (malý je most, ale rozhodně náš)
Und es gewinnt, wer versucht die Entfernung (a vyhrává ten, kdo se vzdálenost)
zu überbrücken (překlenout snaží)


[der Song Mosty (Brücken), Text: Michal Bukovič, Musik: Graham Russell]

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Die amüsierten Blicke der nachmittäglichen Besucherinnen und Besucher flogen zwischen den Lautsprechern und der errötenden Nadja hin und her. Ein junger Mann näherte sich ihr von den Regalen her, bis sie nur noch das Pult des Service-Punkts von ihm trennte, auf das er überdies seine geballten Fäuste legte. Die neugierigen Blicke hafteten noch immer auf ihnen. „Ich hätte vielleicht lieber Die Eiskönigin für dich bestellen sollen, was?“

Nadja holte endlich tief Luft. Sie kramte angestrengt in ihrer Erinnerung, wohin sie gehen musste, um die Sicherung herauszudrehen.

„Herrgott, der ist ja völlig übergeschnappt“, sagte sie, blickte sich um und lachte kurz auf, eine Oktave höher, als sie es normalerweise tat. „Das hat er bestimmt aus irgendeinem Ratgeber!“

Aber weil sie ja so professionell war, wusste sie, dass sie noch eine Sache zu erledigen hatte.

„ALLE RAAAAUUUS!“, schrie sie. Es war ohnehin schon 15:03 Uhr.

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Nadja fühlte, dass sie sich einen Nagel eingerissen hatte, als sie versuchte den Sicherungsschrank zu aufzumachen. Aus den Lautsprechern und durch den leeren Gang, auf dem vor ein paar Minuten die letzten eiligen Schritte der Nutzerinnen und Besucher verklungen waren, schallte ihr immer noch das inzwischen etwas verzerrt klingende Duett entgegen. Der Gesang zerfiel, die einzelnen Stimmen zogen sich in die Länge, sie klangen wie unter Wasser, als würden sie vom Boden einer Blechwanne widerhallen. Sie drehte die Sicherungen heraus, es kribbelte in ihren Fingerspitzen und einige Funken stoben unter ihrer Hand hervor. Dann war alles still.

Nadja betrachtete ihre geschundenen Hände, atmete flach und schnell. Sie lehnte sich an die kühle Metalltür des Schrankes. Dann kehrte sie langsam in den Lesesaal zurück. Sie konnte kaum die Füße heben und schlurfte durch den Raum. Beim vorletzten Tisch ließ sie sich auf einen Stuhl fallen. Vielleicht sollte sie noch ein wenig aufräumen, die Bücher an ihren Platz stellen, ein paar Überstunden am Altar der Institution opfern. Aber was, wenn sie das alles nicht mehr aushielt? Was, wenn sie sich nicht endlos überfordern, zurücknehmen und anpassen konnte?

Eines der herumliegenden Bücher war offengeblieben. Es zeigte eine Doppelseite zur Dokumentation der Belastungsprobe der Nusle-Brücke. Im November 1970 hatten Statiker die Belastbarkeit der Brücke getestet, indem sie 66 Panzer auf die Brücke fahren ließen, die vom 50 Kilometer entfernt liegenden Regiment aus Rakovník nach Prag beordert worden waren.
Die Brücke hielt stand.
Dann wurde die Dynamik geprüft, wofür die Statiker und Projektierer Raketentriebwerke einsetzten.
Die Brücke hielt stand.

Nadja war sich sicher, dass sie sämtliche Verteilerteckdosen ausgeschaltet hatte. Die Klimaanlage lief nicht und die Luft begann allmählich stickig und wärmer zu werden.

Im gesamten Gebäude war es still, nur dieses aufdringliche Rauschen in ihrem Kopf wollte und wollte nicht aufhören.

Und dann war aus der Abteilung zur Selbsthilfeliteratur ein Schluchzen zu hören.

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