Altkatholizismus  Wenn Tradition sich mit Offenheit verbindet

Ein Ritual verbindet in einem wundersamen Moment menschliche Schicksale an einem Ort. Aufnahme von einer Priesterweihe (2025) in der Prager Kathedrale St. Laurentius auf dem Petřín.
Ein Ritual verbindet in einem wundersamen Moment menschliche Schicksale an einem Ort. Aufnahme von einer Priesterweihe (2025) in der Prager Kathedrale St. Laurentius auf dem Petřín. Foto: Jiří Vopálenský | © Člověk a víra - clovekavira.cz

Tradition wird oft so wahrgenommen, als sei sie an sich schon ein Argument gegen Offenheit, insbesondere wenn es um den Glauben geht. Die Altkatholische Kirche beweist, dass Tradition und gesellschaftliche Offenheit keine Gegensätze sein müssen. Ein Essay von Journalist und Theologe Ľubomír Jaško.

Bild eins: Der altkatholische Gottesdienst in Utrecht ist würdevoll. Die Gläubigen empfangen in der traditionellen sakralen Umgebung der Kirche kniend nebeneinander die Eucharistie. Brot und Wein werden ihnen vom Priester in einem prachtvollen liturgischen Ornat gereicht.

Bild zwei: Eine der altkatholischen Gemeinden in Prag feiert den Sonntagsgottesdienst in der Kapelle der Heiligen Maria Magdalena in der Nähe der Čech-Brücke, wo selbst am Sonntagvormittag Touristenbusse parken. Der Gottesdienst wird von Marek „Bendy“ Ružička geleitet. Wenn die Temperaturen nicht gerade unter dem Nullpunkt liegen, steht er in Shorts und T-Shirt, über dem er seine Priesterstola trägt, vor dem schlichten Altar. Er kommt ohne liturgische Bücher aus. Die Predigt hat die Form eines Dialogs mit den Anwesenden, und nach der Sonntagsliturgie gehen die meisten Gottesdienstbesucher im Stadtteil Holešovice noch in die Kneipe U Houbaře.

Auch so kann ein Ritual in Form einer Alternative zum Katholizismus aussehen. Pluralität ist kein Fehler in den Einstellungen. Vielfalt ist eine Grundvoraussetzung und eine Folge des Glaubens. Und die Suche nach authentischen Wurzeln führt zu Überraschungen.

Nicht alt, sondern ursprünglich

Ich denke, der größte Schwachpunkt der altkatholischen Kirche ist wohl ihre Bezeichnung. Sofort denkt man an die Anhänger des Konzils von Trient, die sich gegen die Moderne auflehnen, vom Weihrauch benommen sind und von der zerfallenden Welt isoliert leben. Aber eigentlich ist alles ganz anders. Die altkatholische Bewegung entstand als Reaktion auf das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit aus dem 19. Jahrhundert. Sie verbündete sich mit dem alten Bistum Utrecht, das sich schon Jahrhunderte zuvor Rom nicht unterworfen hatte.

Der Papst wurde zu einem religiösen Autokraten. Deshalb konzentrierten sich die Altkatholik*innen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, der Schweiz und auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie auf die gemeinsame Lehre, zu der sich seit den Anfängen des Christentums alle immer und überall bekannten. Diese Kontinuität oder Verbindung mit den Wurzeln des Christentums bewahrte die altkatholische Bewegung vor dem Schicksal einer verrückten Sekte oder einer kurzlebigen Rebellion.

Die grundlegende Ambition der Altkatholiken war die Rückkehr zu den Anfängen des christlichen Glaubens, die Bereitschaft, Christus ohne politische und machtpolitische Verzerrungen und barocke Verzierungen nachzufolgen, Bescheidenheit in den Erwartungen und Distanz zu allen Formen religiöser Manipulation. Die Kirche kehrte zu demokratischen Elementen in der Entscheidungsfindung zurück, damit auch die einfachen Gläubigen Gehör fanden und sich bei Bedarf für Veränderungen einsetzen konnten. Während das Erste Vatikanische Konzil (1870) auf der Ablehnung der modernen Welt beruhte, wollten die Altkatholikinnen und Altkatholiken genau in einer solchen Welt leben, also in einem natürlichen Umfeld, das neue Herausforderungen mit sich bringt. Sie wollten sich nicht gegen Themen wie Menschenrechte, Demokratisierung, Religionsfreiheit, die Überlegenheit des individuellen Gewissens gegenüber Institutionen oder die Gleichstellung der Geschlechter wehren. Der altkatholische Theologe Petr Jan Vinš aus Tschechien fasste die altkatholische (auch liturgische) Erneuerung auf sehr einfache Weise zusammen: „Sie war nie ein archäologisches Projekt, sondern ein spiritueller Prozess.“

Sie kennen sich mit Namen

Natürlich bildeten sich auch Rituale heraus. Symbolische Handlungen gehören zu Religionen einfach dazu, und auch zu den Anhänger*innen Jesu Christi. Das Christentum ist sozial und kommt daher nicht ohne Gemeinschaft und Teilen aus. Dies geschieht beim gemeinsamen Essen – beim Brechen des Brotes und beim gemeinsamen Trinken aus dem Kelch.

Aber man beschränkte sich nicht darauf, die goldenen Kelche loszuwerden und die Messbücher wegzuwerfen, die überwiegend in roter Farbe gedruckt waren, um die für die Geistlichen, die die Messe zelebrierten, verbindlichen Textstellen hervorzuheben. Viel Aufmerksamkeit widmeten die Altkatholik*innen der Atmosphäre der Gottesdienstgemeinschaft. Ihre Mitglieder treffen sich in der konkreten Realität ihres Lebens. Seit mehr als hundert Jahren sprechen sie in den Gottesdiensten ihre jeweilige Landessprache und nicht mehr das tote Latein. Heute ist das auch in der römisch-katholischen Kirche selbstverständlich, aber in den Zeiten vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) war so etwas nicht möglich.

Der erste altkatholische Gottesdienst auf Tschechisch wurde 1898 in Zürich gefeiert, und František Iška, der ihn zusammengestellt hatte, definierte bereits damals die Verständlichkeit als wichtiges Merkmal des Gottesdienstes. Aus Respekt vor der altkirchlichen Tradition sollten liturgische Gewänder angezogen werden, sie sind jedoch nicht zwingend erforderlich. Die Sympathie für die östliche liturgische Tradition unterstreicht hingegen den ökumenischen Charakter des altkatholischen Gottesdienstes. In Prag fanden die ersten altkatholischen Gottesdienste (bezeichnenderweise) in sogenannten zivilen Räumlichkeiten statt. Zunächst in einer Wohnung in der Nähe des heutigen I. P. Pavlova-Platzes, später in einem Saal im Sofien-Palast (Žofín) und in einer ehemaligen Druckerei in der Jeruzalémská-Straße. Die Behörden standen diesen Neuerungen skeptisch gegenüber und verboten einige Zusammenkünfte sogar oder lösten sie gewaltsam auf.

Eine kleine, intime Gemeinschaft leibhaftiger Gesichter ist eine andere Form des Feierns als eine Massenzeremonie, die die dekorative und folkloristische Funktion der Religion unterstützt. In den Prager Rotunden, Kapellen oder im Gemeinschaftszentrum in Bratislava treffen sich höchstens zwanzig Menschen. Hier bleibt deshalb niemand anonym und passiv am Rande.
 
Niemand sollte am Rand bleiben. Eine der altkatholischen Gemeinden Prags feiert den Sonntagsgottesdienst in der Rotunde St. Maria Magdalena in der Nähe der Čech-Brücke.

Niemand sollte am Rand bleiben. Eine der altkatholischen Gemeinden Prags feiert den Sonntagsgottesdienst in der Rotunde St. Maria Magdalena in der Nähe der Čech-Brücke. | Foto: Jiří Vopálenský | © Člověk a víra - clovekavira.cz

Eine Gemeinschaft ohne offizielle Bestätigung

Die altkatholische Art der Liturgiefeier spiegelt mit ihrer Intimität die Mentalität dieser Kirche wider. Meistens nehmen daran „bewusste Menschen“ teil. In einigen Regionen der Niederlande, der Schweiz oder Deutschlands kann man als Altkatholik oder Altkatholikin geboren werden, doch viele werden vor allem aufgrund ihrer eigenen Entscheidung Altkatholik*innen. Sie wählen einen neuen Weg, ohne ihren persönlichen Lebensweg zu vergessen. Sie wissen, dass ihre Leidenschaft für die ursprünglichen Quellen des Glaubens nicht den Weg in ein buddhistisches Kloster bedeutet, sondern die Bereitschaft, eine katholische Alternative zu finden, die Modernität mit den ursprünglichen Quellen der Tradition verbindet.

Altkatholik*innen machen die Einladung zum Gottesdienst nicht von einer offiziellen Mitgliedschaft in der Kirche abhängig oder dem Bruch der Verbindungen zu der Kirche, in die die Menschen hineingeboren wurden. Sie sind kein Club, sie laden alle zum Festmahl ein. Beim Brechen des Brotes kontrollieren sie keine Heiratsurkunden oder Scheidungsurteile. Die Altkatholik*innen sind im Sinne des Evangeliums davon überzeugt, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen kein Hindernis für die Erlösung und kein moralisches Versagen ist. Sie ist Teil der Lebenssituation. Wenn jemand deswegen im normalen Leben oder in seiner ursprünglichen Kirche abgelehnt und ausgegrenzt wird, wollen die Altkatholik*innen ihm Freiraum geben. Die Sakramente sind Nahrung für die Wandernden und Armen, keine Belohnung für die Vollkommenen und moralisch Bewährten. In diesem Sinne bricht der Gottesdienst buchstäblich mit dem Konzept der Sünde, durch das Menschen stigmatisiert, isoliert und zu Objekten scheinbar ethischer Urteile degradiert werden.

Teil der Eucharistie in der altkatholischen Auslegung ist die Beichte. Wer möchte, kann seine Verfehlungen zu einem anderen Zeitpunkt persönlich „ins Ohr“ des Priesters bekennen. Die Lossprechung von den Sünden erfolgt jedoch nach der gemeinsam erklärten Reue für alle im Rahmen des Sonntagsgottesdienstes.

Genau diese Art des Denkens dokumentiert das Ausmaß der christlichen Freiheit. Die Geistlichen haben sich das Thema der Vergebung nicht zu eigen gemacht. Sie entscheiden nicht darüber, wer Absolution erhalten darf und wer nicht. Sie bewerten weder die Schwere der Verfehlungen noch stöbern sie taktlos in den dunklen Ecken der Seelen von Gläubigen herum. Sie streben nicht nach geistlicher Vorherrschaft. Die Sünde hat vor allem eine soziale Dimension, und so findet auch ihre Vergebung in der Gemeinschaft statt.

Im römisch-katholischen Umfeld ist die Liturgie eher kanonisch geprägt: Hier gibt es Vorschriften und scholastische Spekulationen darüber, wann genau, unter welchen Bedingungen, bei welcher Beschaffenheit von Wein und Brot und bei der Aussprache welcher Worte das Brot zum Leib und der Wein zum Blut Christi wird.

Den Altkatholiken ist ein solches „technisches“ Denken fremd. Sie verstehen die Grenzen menschlicher Versuche, Gottes Welt zu beherrschen, und lassen die Liturgie daher freier ablaufen, und ohne Angst davor, ob die rituellen Handlungen gültig sind oder nicht. Die Zeremonien werden von keiner zentralen kirchlichen Behörde überwacht, sondern die Art und Weise der Feier entwickelt sich allmählich weiter und passt sich den Vorstellungen der Teilnehmer*innen an. Die Gebete richten sich nicht nur an die traditionellen Heiligen, sondern unter ihnen tauchen – unabhängig von einer formellen Erklärung – auch Namen von Märtyrern der Neuzeit auf, wie etwa Dietrich Bonhoeffer und Bischof Oscar Romero.

Keine Panik vor dem Unbekanntem

Angela Berlis, Presbyterin der altkatholischen Kirche der Niederlande, gibt bei Berichten über ihre Erfahrungen mit der Akzeptanz von Frauen am Altar zu, dass dies für die meisten Gemeinden ein neues Gefühl ist. Skepsis erlebt sie jedoch nur in seltenen Fällen. Die meisten Gottesdienstbesucher*innen akzeptieren, dass die Frömmigkeit und die spirituelle Atmosphäre durch eine Frau in liturgischer Kleidung in keiner Weise beeinträchtigt werden.

Berlis spricht über die thematischen Unterschiede, die Menschen von einer Frau im Priesteramt bei Predigten oder Gesprächen erwarten. Es geht nicht darum, was besser oder schlechter ist. Es ist einfach an der Zeit für eine neue Art des Dialogs, in dem nicht nur Mitbrüder, sondern auch Mitschwestern Geistliche sind. Der Weg zur Entscheidung der altkatholischen Kirchen, Frauen zum Weihesakrament zuzulassen, war nicht einfach. Es handelte sich um eine komplexe Entscheidung in einem Gewirr von theologisch-biblischen, anthropologischen und psychologischen Zusammenhängen. Die ersten Presbyterinnen wurden 1996 geweiht. Im Gegensatz zu protestantischen Bewegungen handelt es sich hierbei um ein katholisches Verständnis des Priestertums. Priester und Priesterinnen ohne die Einschränkung durch das Zölibat sind nicht nur Prediger*innen, sondern vom Bischof geweihte Spender*innen der Sakramente.

Die Weihe von Frauen wurde zum Auslöser wichtiger Debatten über die Notwendigkeit, das von Vorurteilen geprägte Denken zu bereinigen. Auch dank der Ordination von Frauen wird die Vorstellung einer Kirche gestärkt, die nicht institutionell über dem Leben der Menschen steht, sondern eine Kirche der Menschen und für die Menschen ist. Dieser bahnbrechende Schritt spiegelt das altkatholische Denken wider. Es ist nicht nur wichtig, sich daran zu erinnern, wie die Dinge früher waren, sondern auch darüber nachzudenken, wie sie jetzt und hier und in Zukunft sein können und sein sollten. 

Dank der Frauen, die Gottesdienste leiten, spiegelt die Liturgie das reale Leben wider, in dem jede*r zu Großem berufen ist. Konsequentes Handeln im Respekt der menschlichen Sehnsüchte (unabhängig vom Geschlecht) ist mehr als Panik vor dem Unbekannten.

Ein Ritual, das menschliche Erwartungen wecken kann

Rituale finden nicht in einem Vakuum statt. Viele faszinieren durch ihre Altertümlichkeit. Sie sind Erinnerung, Andenken und Vermächtnis zugleich. Sie stellen unveränderliche Formen in einer fließenden Welt dar. Der Priester in seiner Robe, der seine Hände zum Segen über die Gemeinde erhebt, das Austeilen von Brot und Wein oder der Text des Messkanons – all das besteht seit Jahrhunderten.

Die Teilnehmer*innen oder Adressat*innen der Rituale leben jedoch nicht in einem historischen Vakuum. Sie kommen aus dem realen Leben, belastet, abgestumpft und gereift durch die Realität, in die Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Sie sind keine Blumen aus spirituellen Gewächshäusern. Die altkatholische Alternative ist ein Versuch, diese Spannung zu erfassen. Die Rückkehr zu den authentischen Anfängen der christlichen Tradition ist paradoxerweise mit modernem Realismus vereinbar.

Symbolisches Handeln ist nach wie vor wertvoll, obwohl wir die Fähigkeit verloren haben, es zu verstehen – wir haben aufgehört, die Bedeutung von Farben, Räumen, zeremoniellen Gesten, Priestergewändern und der Poesie von Gebeten oder Segnungen wahrzunehmen. Es wäre sehr schade, die Altäre wegzuwerfen und sonntags nur noch zu grillen. Religiöse Rituale können dem Glauben schaden, aber im besten Fall verleihen sie ihm Körper, Geschmack, Duft und Farben.

Der Katholizismus ist nicht nur die Religion des Vatikans, die zwar spektakulär und global ist, aber oft auch arrogant und falsch im Umgang mit Zweifelnden. Der altkatholische Ritus ist ein Versuch, den Glauben auf taktvolle und bescheidene Weise zu feiern, demokratischer und freundlicher. In einer religiösen Welt, in der exklusive Ansprüche auf die Wahrheit vorherrschen, hat Pluralität kaum eine Chance. Dabei ist Gott eine Metapher für Vielfalt. Die Menschen nehmen sie jede Sekunde ihres Lebens wahr, in ihren Beziehungen, in den Farben der Natur und in den Arten, wie Menschen seit Jahrhunderten Gott verehren.

Wer in der Euphorie einer begeisterten Masse nach Kraft sucht, wird enttäuscht werden. Andere – Suchende – werden sich jedoch zu Hause und in Sicherheit fühlen. Die Fähigkeit des Rituals, auch heute noch menschliche Erwartungen zu wecken, ist so etwas wie eine Vorahnung des Göttlichen, das Ende der Kälte und Entfremdung. In einem wundersamen Moment verbindet ein Ritual die Schicksale der Menschen an einem Ort miteinander. Es verbindet sie in einer außergewöhnlichen Form der Solidarität, wenn sie füreinander beten. Es handelt sich um eine „Unterbrechung“ des Alltäglichen, die Feierlichkeit wirkt wie eine Therapie.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

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