ACHTUNG! Das hier ist keine Reportage. Es ist eine wahre Geschichte von einem wahren Ort, an dem noch vor fünfzehn Jahren die selbsternannte Nachbarschaftswache der (inzwischen verbotenen) rechtsextremen Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit (DSSS) mit weißen Armbinden und in langen Ledermänteln regelmäßig patrouillierte.
Am Samstag erwache ich mit einem fürchterlichen Kater nach der Freitagsschicht in der Bar. In einer idealen Welt würde ich den Job längst nicht mehr machen, jedes Mal schmerzt es dann am Körper und an der Seele. Jetzt drängt sich zwischen den zugezogenen Vorhänge das Grau der Hauptstadt ins Zimmer. Draußen ist es ungefähr genauso grauenvoll, wie ich mich fühle, also entscheide ich, lieber gleich von hier zu verschwinden. Ich will in den Norden, in die Plattenbausiedlung Janov bei Litvínov, wo ich seit vier Jahren regelmäßig für diverse Projekte hinfahre.Die Überdruckkammer
Mir ist klar, dass ich in meinem desolaten Zustand nicht direkt nach Janov fahren kann. Dort gibt es genug Kummer und Probleme, da muss ich nicht noch mit meinen eigenen ankommen. Zum Glück steht mir Ústí nad Labem im Weg – diese Überdruckkammer, die die kultivierte Welt mit ihren nicht endenden Podcastfolgen von der komplizierten Realität der privatisierten Plattenbauten in der Siedlung von Janov trennt, dort wo Menschenrechtsaktivist*innen um jede einzelne Parkbank einen harten Kampf mit der Stadt führen. In Ústí will ich bei meiner Freundin Mamba übernachten. Vom Erbe ihrer Großmutter hat sie sich ein Häuschen mitten in einem so genannten Brennpunktviertel gekauft – in Předlice. Von ihrem schmalen Garten schaut sie in die Straße Marxova auf die Häuser des hiesigen Developerbosses Boris Rudý [Tschechisch: Rot, Anm. d. Ü.], und scherzt, dass sie jetzt miteinander in Konkurrenz stünden.Als ich aus dem Zug steige, geht es mir nicht mehr so schlecht und es wird immer besser, während ich durch die Straße Prostřední trotte. Es ist kalt. In den letzten zwei Tagen ist die Altweibersommertemperatur in den Herbst gerutscht. Trotzdem stehen hier mehrere Grüppchen auf der Straße. Manche unterhalten sich mit den Nachbarn, die aus den Fenstern lehnen, der laufende Fernseher im Hintergrund. Auf einmal bildet sich mitten auf der Straße eine Menschentraube. Und ich muss an einen der Programmpunkte der offen rassistischen Vereinigung Besserer Norden (Lepší sever) denken (in den Landkreiswahlen bekam diese noch recht neue Gruppierung nicht unerhebliche 7 Prozent), die sich in ihrem Programm sehr resolut gegen solche Menschenansammlungen auf der Straße positioniert.
Bevor mir Mamba die Tür aufmacht, hat sich die Traube schon wieder aufgelöst, übrig bleibt nur eine still gewordene Straße im Nebel. Keine einzige Kneipe, der Laden schon lange geschlossen, weder Gaststätten, Cafés oder Parks in der Nähe. Nicht einmal Bänke. Ich überlege, was die Menschen an solchen Orten wohl an ihren Abenden tun, wenn sie nirgendwohin gehen können. Da ahne ich noch nicht, dass ich es bald in Janov am eigenen Leib erfahren werde.

Die Siedlung Janov | Foto: © Bára Bažantová
Was die Augen nicht sehen
In Janov verbringe ich normalerweise die meiste Zeit mit Kindern. Sie sind viel zugänglicher, unmittelbar, und im Unterschied zu den Erwachsenen haben sie noch nicht die hier seit Generationen gewachsene Apathie verinnerlicht. Apathie ist eine ungesunde, aber sehr gut funktionierende Lebensstrategie. Ein Versteckspiel.Auf der Treppe sitzt ein beleibter Mann, unter der Treppe auf dem Gehweg eine Roma-Mutter mit sieben Kindern, eins hält sie im Arm, die anderen stehen unsicher herum. Der Typ will sie nicht reinlassen, sagt, dass sie und ihresgleichen nur zum Stehlen hierher kommen, Wohnungen ausrauben. Hat schon die Polizei gerufen. Die kommen dann, im Ausweis der Mutter und der älteren Kinder steht die Adresse des Hauses mit dem beleibten Mann auf der Treppe. Der Typ verschwindet wortlos im Hausflur und schließt die Tür hinter sich.
Wenn man sich entscheidet, etwas nicht zu sehen, dann muss es das auch nicht geben. Ob Rassisten oder Roma. Die Apathie ist eine Zuflucht, eine Art Eskapismus, die Möglichkeit, nicht wahrzunehmen. Die Siedlung Janov ist die materialisierte Apathie. Nur die Kinder können hier noch träumen, die Probleme der Erwachsenen erreichen ihre Welt bloß als ein Echo der Wirklichkeit. Wenn sie Glück haben. Wenn nicht, bricht der Damm viel schneller und die Flut von Gewalt, Geschrei, Verzweiflung und Drogensucht reißt ihre Kindheit viel schneller fort als sie lesen lernen.

Die Siedlung Janov | Foto: © Bára Bažantová
Wer mit den Wölfen heulen will
Dieses Mal will ich nicht die Kinder, sondern ihre Eltern besuchen, Plattenbaueingang für Plattenbaueingang. Nicht funktionierende Klingeln, abgeschlagener Putz und überheizte und feuchte Wohnungen mit kaputten Bädern. Manche hier sind so oft umgezogen, dass ich sie ohne fremde Hilfe nicht wieder finden würde. Oben in der Straße Lučná treffe ich ein paar Bekannte, manche von ihnen sind Eltern der Kinder, die ich von den Sommercamps kenne. Sie sitzen am Bordstein, es ist kalt, aber die zwei Bänke, die die lokalen und auswärtigen Aktivist*innen erkämpft haben, sind beide besetzt. Jemand reicht mir ein Bier. Es ist halb drei, also gut, eins, ich will ja nicht unhöflich sein. Noch bevor ich es austrinke, steht schon die nächste Dose vor mir. Sie sind alle etwa in meinem Alter, um die vierzig, maximal fünfzig. Sie haben erwachsene Kinder und kleine Enkel. Als es dämmert, dirigiert uns eine der Frauen zu sich nach Hause. Schwer zu sagen, zum wievielten Mal ich schon das lädierte Treppenhaus eines dieser Plattenbauten betrete, der Aufzug bleibt immer wieder stecken, die Tür schließt nicht ganz. Die Wohnung ist überheizt. Frau S. bietet Kaffee (Instant oder türkisch) und Abendbrot an, Herr K. holt eine Plastiktüte mit Crystal Meth heraus.Es wird Bier und Schnaps getrunken. Das Wohnzimmer ist verraucht, die Kinder kommen und gehen, Frau S. versucht sie immer wieder, ins Kinderzimmer zu verbannen, aus dem sie gleich wieder rausrennen. Wenn sie weiter rumzicken, öffnet sie eine Tüte Chips und führt sie wie eine Rattenfängerin raschelnd zum Rechner. Kurz darauf erscheint in der Tür ein weiterer Papa, offenbar etwas überreizt, so um die dreißig. Alle Erwachsenen schließen sich daraufhin in einem Zimmer ein, und ich bleibe allein mit dem älteren Sohn auf dem Sofa sitzen. Der Kleinere hat gerade sein Pausenbrot verspeist, er will zur Mama und klopft an die Tür. „Jetzt nicht, Míša“, weist ihn der große Bruder zurecht, und ich denke darüber nach, ob er die ganze Situation versteht. Ich versuche ihn abzulenken, aber er behält die Tür im Auge. Was er sich dabei wohl denkt, ob er ahnt, was hier jetzt vor sich geht? Weiß er, warum die Tür verschlossen ist? Es ist gegen zehn Uhr abends, ich will den Kleinen ins Bett bringen, ihm eine Geschichte vorlesen, aber er weigert sich, will nicht schlafen, und wenn dann schließlich doch, würde er dabei auf dem Tablet was gucken.
Seine Mama merkt, dass ich versuche, ihn ins Bett zu bekommen und schickt ihn Zähne putzen. Es gibt kein heißes Wasser, der Boiler ist kaputt, aber wenigstens die Zähne. Das Wohnzimmer verschwindet in Rauchschwaden, einzelne Wörter rollen wie Perlen einer gerissenen Kette durch den Raum, ich habe keine Ahnung, was gerade erzählt wird, vermutlich ist es auch egal. Die Kinder sind immer noch wach, aus dem Zimmer nebenan dröhnt Musik, der Wohnzimmertisch füllt sich mit leeren Flaschen, die Aschenbecher quellen über wie die Rauchervariation eines chinesischen Tischbrunnens. Der Kleine bringt mir von draußen eine Margerite, umarmt mich, ich will ihn überreden, ins Bett zu gehen, aber er ist beharrlich und ich gebe es langsam auf. Es wird immer mehr von allem. Lärm, Musik, Alk, Crystal, Kippen. Auf dem Klo läuft das Wasser aus dem Spülkasten in Strömen, ich lege ein Brett, das im Flur herumsteht, auf den Boden und trete drauf. Ich kann nicht mehr.

Die Siedlung Janov | Foto: © Bára Bažantová
Degeši – Rituell unrein
Frau S. (die Mutter) weist mir ein Bett zu in einem Zimmer mit violettem Lampenschirm an der Decke, der aussieht wie die Kuppel der Wiener Secession, nur mit Veilchen statt mit goldenen Blättern. Ich schlafe sofort ein, und wache auch sofort wieder auf, zumindest gefühlt. Durch die offene Tür kriecht der Zigarettendunst herein zusammen mit Fetzen einer lebhaften Unterhaltung, aha, alle also noch wach. Am Tisch sitzt der Kleine am Rechner: „Wo ist denn deine Blume?“, fragt er mich und ich zeige auf meine Wollmütze. Er lacht zufrieden. „Warum bist du nicht in der Schule?“ frage jetzt ich. Vermutlich weiß er es nicht mal und zuckt nur die Schultern. Frau S. antwortet auf meine Frage, dass es kein warmes Wasser gebe und sie nicht wolle, dass die Kinder wie Degeši – also Asis in die Schule gehen. Solche Gründe kenne ich allzu gut. Kein warmes Wasser, Zahnschmerzen, Läuse, jemand muss auf den Hund/die Katze/die Cousine aufpassen. Hauptsache, nicht wie Degeši dastehen.Der Kleine hängt mir am Hals. „Bleib noch“, flüstert er, „bleib noch hier“. Ich erkläre, dass ich jetzt nach Hause muss, ich passe auf einen Hund auf, aber vor allem muss ich hier raus. Das sage ich natürlich nicht, aber man sieht es mir vermutlich an. Ich spüre, wie meine Augen tief in die Augenhöhlen, in den Kopf fallen, ertrunken und ergraut. Ich rieche nach Schnaps. Durchs Fenster fällt die Sonne hinein, bringt den Veilchenschirm zum Leuchten. Ich verabschiede mich schnell, will die Kindern noch zum Spazieren mitnehmen, aber sie dürfen nicht, weil sie ja nicht in der Schule sind. Also müssen sie am Rechner sitzen und warten, bis Mama und Papa etwas runterkommen.

Die Siedlung Janov | Foto: © Bára Bažantová
„Kollektive Begräbnisstätte der Träume und Hoffnungen“
Mama und Papa sind von Räumung bedroht. Sie zahlen zwar die Miete, auch die Nebenkosten, aber sie wollten einen Wohngeldantrag stellen und da kam raus, dass ihre Wohnung nicht als Wohnraum zugelassen wurde. Die Eigentümerin will keine Probleme haben und schmeißt sie lieber raus. Wohin gehen? Sie wissen es nicht. Die Platten in der Umgebung sind alle in Privatbesitz von einzelnen Eigentümern oder Genossenschaften, immer mehr städtische Häuser werden abgerissen, die Mieten steigen, der Wohnraum wird knapp. Arbeit? Ja, die gibt es, aber viel zu wenig und nur sporadisch und ziemlich schlecht bezahlt, tja. Bleibt nur die Apathie in Form eines Tütchens mit Crystal. Ich laufe herunter auf die Straße Krušnohorská. Als ich hier zum ersten Mal war, stand hier noch ein Haus. Ein Jahr später brannte es nieder. Damals dachte ich, dass da jemand Kabel verbrennt oder so, aber nein, es war ein richtiges Feuer, die Flammen schlugen hoch und verschluckten nach und nach alle Stockwerke. Anstelle des Hauses ist jetzt eine Rasenfläche, da stehe ich nun und schaue nach oben, die Siedlung liegt vor mir wie auf dem Präsentierteller.Schön hier. 2024 besuchte diese kollektive Begräbnisstätte der Träume und Hoffnungen sogar der Präsident. Er sprach von möglichen Enteignungen von Häusern und Wohnungen, wenn sich die Eigentümer an fremdem Elend bereichern, aber das war im Sommer. Jetzt ist Herbst und die Apathie fällt von den Bäumen herunter und legt sich zusammen mit den bunten Blättern über Janov.
Schön hier, wenn man nicht hier geboren wurde. Die Menschen sind einander umso näher, je größer die Distanz zum Rest der Gesellschaft. Gemeinsam halten sie sich im Vergessen fest und man könnte sagen, sie seien befreit vom Trubel der (kapitalistischen) Kulturzentren. Sie verspüren nicht dieses einschränkende Bedürfnis, Teil von etwas sein zu müssen.
Sie spüren es nicht, weil sie nirgendwohin gehören.
März 2025