Vom alten KZ-Außenlager zum Punk-Klub  „Wenn wir den Ort nicht nutzen, wer dann?“

Vom alten KZ-Außenlager zum Punk-Klub - „Wenn wir den Ort nicht nutzen, wer dann?“ Foto: © Andrzej Wisniewski

Früher Zwangsarbeitslager, später verlassene Ruine, dann besetzt von einer Gruppe Punks, die in den 90er Jahren einen Schutzraum brauchten – heute ist das Exil e.V. eines der letzten Bollwerke gegen rechte Agitation in Eberswalde (Brandenburg). Doch die Zeit arbeitet gegen den Verein.

Der Linienbus hält direkt gegenüber der Straße Am Bahnhof Eisenspalterei. Obwohl es noch früh am Abend ist, liegt der Weg bereits in der nahezu vollständigen Dunkelheit des Dezembers. In der Straßeneinfahrt flackert auf einem Holz-Aufsteller ein schwacher LED-Pfeil – ein erster Hinweis auf das, was später stattfinden wird.

Der Wind trägt leise Musik durch die Nacht. Nach einigen Metern wird eine schwache Lichterkette sichtbar, die an einem schweren Metalltor weht. Daran ein sternförmiges Blechschild, die Lettern „Exil“ ausgestanzt. Dahinter stehen zwei verklinkerte Baracken. Zwischen ihnen führt ein Weg in den großen Hinterhof. Menschen wärmen sich an einem Lagerfeuer, Flaschen stoßen leise aneinander, Gespräche füllen den Hof.
Wenn wir den Ort nicht übernommen hätten, gäbe es ihn heute nicht mehr. Oder er wäre eine tote Gedenkstätte, die niemand besucht.“
 

Jeder Gig beginnt mit Geschichte

Drei Ska-Punk-Bands stehen heute auf dem Line-Up. Während der Soundcheck läuft, dreht Lars, Booker und Tontechniker des Exils, an einem Mischpult den Bass lauter. Die tiefen Frequenzen vibrieren in dem langen, schwarz gestrichenen Raum mit den niedrigen Decken. An den Wänden hängen hunderte Poster von Veranstaltungen aus den letzten 25 Jahren – Punk, Metal, Rock, Reggae. Im hinteren Teil stehen große Sofas und ein Tischkicker. Besonders präsent sind die Flaggen mit „Punk is not dead“, „Nazis raus (endlich)“ und eine geballte Faust, darüber „Kein Bock auf Nazis“.
 
Lars am Mischpult

Lars am Mischpult | Foto: © Andrzej Wisniewski


Lars schiebt die Regler zurück auf Null. Alles sitzt. Seine Haare sind kurzgeschoren, er trägt Springerstiefel und eine Bomberjacke mit Pins. 2003 kam er zum ersten Mal in das Exil, um mit seiner Schülerband zu proben. Hier fand er Gleichgesinnte, wurde erst Vereinsmitglied, dann Vorsitzender des Vereins.

Im Backstage hat es sich eine Band auf den Ledersesseln bequem gemacht. Einige sind das erste Mal im Exil. Lars setzt sich dazu, begrüßt alle. Dann fragt er: „Wer von euch kennt die Geschichte von dem Ort noch nicht?“

Einer hebt die Hand. Lars richtet sich auf.

„Okay, also im Grunde genommen sind wir hier in einer Baracke. In einer der zwei letzten überirdischen Baracken vom Außenlager des KZ Ravensbrück.“

Der Raum wird still.
 
Backstage

Backstage | Foto: © Andrzej Wisniewski

Ein Ort der Zwangsarbeit für Frauen

Zwischen 1943 und 1945 wurden in diesen Baracken bis zu 800 Frauen aus Polen und verschiedenen Teilen der Sowjetunion als Zwangsarbeiterinnen für die Rüstungsfirma Ardelt Werke ausgebeutet. Sie mussten zwölf Stunden täglich schuften, schweres Metall schleppen, schweißen, feilen, ohne Handschuhe. Wer nicht mehr konnte, fiel um. Wer umfiel, wurde geschlagen. Sie litten unter Hunger und Kälte, schliefen in dreistöckigen Pritschen. Im Winter wickelten sie sich in Packpapier, das sie aus der Fabrik gestohlen hatten.

Nach dem Krieg wurden die Baracken von sowjetischen Truppen weiter genutzt. In der DDR wurden sie als Uniform-Schneiderei genutzt. Danach standen sie leer und sollten abgerissen werden. Bis sie 1997 von einer Gruppe Punks besetzt wurden. Sie machten den Ort zu ihrem Schutzraum und brachten ihre Musik mit.

Die 90er: Als Eberswalde eine Hochburg für Neonazis war

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR erstarkte die Neonazi-Szene, vor allem im industriell geprägten Eberswalde. Die „Baseballschlägerjahre“ begannen, rechte Gewalt wurde alltäglich. Wer nicht dem rechten Dress- und Stylecode entsprach, konnte zur Zielscheibe und auf offener Straße gejagt werden. 1990 wurde Amadeu Antonio, ein angolanischer Vertragsarbeiter, von Neonazis erschlagen. Sein Tod machte bundesweit Schlagzeilen als erster rassistisch motivierter Mord nach der Wende. Doch für viele Gastarbeiter*innen blieb der Alltag von Angst geprägt – nicht nur hier im nordöstlichen Brandenburg.

In dieser Zeit war das Exil für Punks, Linke und alle, die sich gegen rechte Gewalt stellten, einer der wenigen Orte, an dem sie sicher waren.

Zum Gedanken an den in Eberswalde ermordeten Amadeu Antonio wurde 1998 die Amadeu Antonio Stiftung gegründet. Ihr erklärtes Ziel ist es, die deutsche Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu stärken. Mehr Infos: amadeu-antonio-stiftung.de

 
Wir bräuchten mehr, die mit uns zusammen Flagge zeigen.“

Widerstand braucht Räume

2003 wurde aus der besetzten Baracke ein offizieller Verein. Die Punks, die vorher Schutz suchten, begannen, selbst Strukturen aufzubauen. Sie renovierten die Gebäude, schufen Proberäume, eine Bar, Schlafräume für Bands. Aus einem Rückzugsraum wurde ein Zentrum für Jugendkultur und zeithistorische Bildung.

Heute symbolisiert das Exil ein tolerantes Eberswalde. Lars ist sich sicher: „Wenn wir den Ort nicht übernommen hätten, gäbe es ihn heute nicht mehr. Oder er wäre eine tote Gedenkstätte, die niemand besucht.“

Bis heute erinnert in der hinteren Ausstellungsbaracke ein in den Boden eingelassener Schaukasten an die Frauen, die hier arbeiteten. Darin: Flugabwehrraketen und Stoffpuppen.
 
Erinnerung an die einstige Nutzung der Baracke und an die Frauen, die hier inhaftiert waren

Erinnerung an die einstige Nutzung der Baracke und an die Frauen, die hier inhaftiert waren | Foto: © Andrzej Wisniewski


2011 kamen drei polnische ehemalige Inhaftierte das Exil besuchen. Dank ihrer Erinnerungen konnte eine Dauerausstellung entstehen: „Begegnung mit Eberswalde: Hier gibt es keinen Hass mehr“.
 
Dauerausstellung „Begegnung mit Eberswalde“

Dauerausstellung „Begegnung mit Eberswalde“ | Foto: © Andrzej Wisniewski

„Wenn wir was machen, dann machen wir friedlichen Protest“

Im Gegensatz zu den 90erm sind die Angriffe auf das Exil heute subtiler geworden. Rechte Aufkleber über dem Vereinslogo, Buttersäure-Anschläge, eine immer wieder zerstörte Gedenktafel. Mittlerweile ist sie nicht mehr aus Glas, sondern eine massive Metallstele.
 
Gedenkstele

Gedenkstele | Foto: © Andrzej Wisniewski


Die jüngste Provokation liegt nur wenige Monate zurück. Als FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, eine der prominentesten Befürworter*innen der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, im April in der Stadthalle gegenüber vom Exil sprach, demonstrierten rund 120 selbsternannte „Friedensdemonstrant*innen“ mit rechten Parolen auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers. Für die Vereinsmitglieder war das ein gezielter Affront. „Von mir aus können sie ihren Mist erzählen, aber doch nicht hier“, sagt Lars. Sie reagierten mit lautem Punkrock. „Wenn wir was machen, machen wir friedlichen Protest“, sagt Paula, stellvertretende Vereinsvorsitzende.
 
Lars, Paula und Marshall vor der Ausstellungsbaracke

Lars, Paula und Marshall vor der Ausstellungsbaracke | Foto: © Mareike Hoeck

Ein Jugendclub ohne Jugend?

Doch wie lange kann das Exil seine Präsenz noch behaupten? Der Verein hat ein Nachwuchsproblem. Die Punks von damals sind heute Mitte 40 oder 50, viele sind weggezogen. „Wir sind zwar immer noch ein Kulturverein, aber kein Jugendverein mehr“, sagt Lars. Der Verein zählt etwa 25 Mitglieder, aber nur der harte Kern von vier bis sechs Leuten ist noch aktiv.

Die linke Szene habe sich verändert. Viele junge Menschen organisieren sich heute anders gegen rechts, online, in temporären Bewegungen, weniger in festen Vereinsstrukturen. Doch das Exil braucht Menschen vor Ort. „Wir bräuchten mehr, die mit uns zusammen Flagge zeigen“, betont Lars.

Der Kampf um die Erinnerung

Denn während das Exil um seine Zukunft kämpft, erstarkt die AfD zur stärksten politischen Kraft im rund 41.000 Einwohner*innen zählenden Eberswalde. 36 Prozent stimmten hier bei der Bundestagswahl im Februar 2025 für sie, darunter viele junge Wähler*innen. In den Parteiprogrammen wirbt die AfD mit Schlagworten wie „Erinnerungskultur aufbrechen“. Was gemeint ist: Das Relativieren der NS-Verbrechen.

Gegen diese Verwässerung der Vergangenheit kämpft das Exil an. Jeder Band, die aus aller Welt hierherkommt, wird die Geschichte erzählt.

Martin, Bassist der Band Frau Vorne und die Hintermänner, steht am Lagerfeuer. Sein Basskoffer lehnt neben ihm. „Jemand aus meiner Familie ist in Ravensbrück [Ort eines riesigen Konzentrationslagers für Frauen, rund 60 Kilometer nordwestlich von Eberswalde, Anm. d. Red.] gestorben“, erzählt er. „Darüber wurde bei uns nie viel gesprochen.“ 1987 ist er mit seinen Eltern aus Polen nach Deutschland gekommen. Heute, fast vierzig Jahre später, erfährt er, dass nur eine Zugstunde von Berlin entfernt ein ehemaliges KZ-Außenlager zu einem Kulturzentrum wurde. „Dass an so einem Ort heute Musik gespielt wird, dass Menschen zusammenkommen und es laut ist – das rührt mich.“
 

Das Exil: Ein Bollwerk gegen das Vergessen

Im Backstage bereiten sich die Musiker*innen auf ihren Auftritt vor. Doch eine Frage bleibt: „Was haben die ehemals hier inhaftierten Frauen gesagt, als sie den Ort so gesehen haben?“

Lars lächelt. „Klar, die haben erst mal geguckt – alles schwarz gestrichen, überall Plakate. Aber dann haben sie gesagt: ‚Wir finden das gut, was ihr hier macht. Dass hier Leute aus aller Welt herkommen. Dass hier Musik ist, Freude herrscht. Und dass hier kein Hass mehr ist.‘“

Dann steht Lars auf. Gleich wird er die erste Band ankündigen, sich bedanken, bei den anderen Vereinsmitgliedern, „denn alleene schaffste dit nich.“ Die ersten Gitarrenakkorde werden loskrachen. Die Bässe werden wummern. Irokesen und Glatzen nebeneinander tanzen, lange Haare fliegen.

Es wird so laut sein, dass der Sturm, der draußen an den Balken zerrt, nicht zu hören ist.
 
Dancefloor

Dancefloor | Foto: © Andrzej Wisniewski

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Empfehlungen der Redaktion

Meistgelesen