Manche Menschen glauben, es gäbe kein Leben außerhalb der so genannten Zivilisation. Aber es existiert, manchmal ist es komplizierter und bringt eine Reihe von Herausforderungen mit sich, aber es verschwindet nicht. Die Bewohner*innen von Orbita wissen das aus eigener Erfahrung.
Das geheimnisvolle Orbita ist ein gespenstischer Ort, der sich seit fast einem halben Jahrhundert in den Kiefernwäldern der Region Tscherkassy vor der weiten Welt versteckt. Hier gibt es nur 70 Einwohner*innen, zwei gut erhaltene fünfstöckige Wohnhäuser, die Überreste eines Kraftwerks und zwei weitere leerstehende Hochhäuser — ehemalige Wohnheime. Eine Wohnung kann man für 4.000 Dollar kaufen, zehnmal billiger als in Kyjiw oder Lwiw. Doch es gibt nicht viele Käufer*innen. Vergilbte Zettel, auf denen für leere Wohnungen geworben wird, hängen an den Fenstern, von denen aus der grüne Wald fast bis zum Horizont reicht.Die wenigen Journalist*innen und Tourist*innen, die Orbita besuchen, nennen es eine Geisterstadt oder ein zweites Tschernobyl. Offiziell ist es keine Stadt, sie ist nicht einmal auf den Landkarten verzeichnet. Und radioaktive Strahlung gibt es hier auch keine.
„Hier gibt es auch keine Geister“, sagt die 32-jährige Olena Hromova, die hier lebt. Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie hat in dieser Gegend ihr ganzes Leben verbracht und drei Kinder zur Welt gebracht. „Orbita ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Als meine Eltern jung waren, wurde hier mit dem Bau eines Atomkraftwerks begonnen. Dann versuchte man, ein Ölkraftwerk zu bauen. Jetzt heißt es, dass in ein paar Jahren mit dem Geld von Investoren ein neues Atomkraftwerk gebaut werden soll“, sagt Olena, während sie ihr Baby in den Schlaf wiegt. Ihr sieben Monate alter Sohn Anton ist der jüngste Bewohner von Orbita. Und Olena ist die einzige kinderreiche Mutter. „Hier ist alles einzigartig“, scherzt sie. Aber aus irgendeinem Grund macht sie dieser Witz traurig.
Tschernobyl ohne Strahlung
Die Geschichte von Orbita ist eng mit der von Tschernobyl verbunden. Doch die Stadt wurde weniger von der radioaktiven Wolke als vom Fluch der Tschernobyl-Katastrophe getroffen — der Angst vor der Atomkraft. Das erste Projekt wurde 1970 entwickelt. Orbita wurde damals nach dem Wärmekraftwerk benannt, das hier stand. Die Sowjetregierung hatte ehrgeizige Pläne. Sie wollte 20.000 Mitarbeiter*innen des künftigen Kernkraftwerks unterbringen. Diese Stadt der Ingenieure und Bauarbeiter sollte aussehen wie ihr Gegenstück — die Stadt Prypjat.
In den 1980er Jahren wurden Wohnheime, fünfstöckige Wohnhäuser, ein Kaufhaus, eine Schule, eine Kantine, ein Klub und sogar eine Eislaufbahn und ein Fußballplatz gebaut. Doch der schlimmste Atomunfall der Geschichte führte dazu, dass die Pläne zur Fertigstellung des Atomkraftwerks Tschyhyryn schnell aufgegeben wurden. Heute ist Orbita nur noch verzeichnet als eine Straße des Nachbardorfes Witowe im Kreis Tschyhyryn.
„Es gibt hier nur noch einen einzigen Job. Eine Frau vom Versorgungsunternehmen kommt, um Orbita zu reinigen“, sagt Mykola Vashchenko, das Dorfoberhaupt von Witowe. Das ganze Leben des 68-jährigen Mykola ist mit diesen Orten verbunden. Er zog in den ersten Jahren des Baus des Kernkraftwerks nach Witowe. Dann ist die Stadt erst entstanden und anschließend nach und nach vor seinen Augen gestorben.

Der Dorfvorsteher von Witowe, Mykola, erinnert sich an die verlassenen Wohnheime als sie noch belebt und beleuchtet waren. | Foto: © Oleksii Filippov
„Die Kraftwerke waren geschlossen, es gab keine Arbeit, und jedes Jahr wurde es schlimmer. Früher gab es hier das beste Kaufhaus weit und breit, wo man Kleidung, Spielzeug und Delikatessen kaufen konnte. Die Wohnheime waren voller Menschen. Abends war es hier so hell, alles war beleuchtet“, sagt der Mann und deutet auf zwei verlassene neunstöckige Gebäude, durch deren Gänge der Winterwind weht. Kein Fenster, keine Lampe ist mehr zu sehen. Neben den Hochhauskästen steht ein zweistöckiges Gebäude mit Säulen am Eingang und einem rostigen Schild mit der Aufschrift „Kaufhaus“, innerhalb dessen Mauern Bäume wachsen. „Alles, was hier aus Metall war, wurde in den 90er Jahren gestohlen und verkauft“, erklärt Mykola, warum der grüne, moosbewachsene Boden von Orbita aussieht, als hätten Bagger ihn aufgerissen.

Einst das beste Kaufhaus weit und breit | Foto: © Oleksii Filippov
Das heutige Erscheinungsbild der Stadt ähnelt dem Schauplatz des beliebten ukrainischen Computerspiels Stalker. Und genau das zieht die Tourist*innen an. „Ab und zu kommen Leute hierher, meistens junge Leute. Sie fotografieren, rennen durch die Einöde. Nach Tschernobyl kommt man nicht mehr, aber hierher kann man kommen. Aber die Wohnheime sind baufällig, die Treppen und das Dach können einstürzen. Es ist gefährlich hier. Einmal ist sogar ein Tourist vom Dach gefallen“, sagt Mykola mit verdächtig wenig Mitgefühl in der Stimme. Die Einheimischen mögen es nicht, wenn jemand kommt, um ihr hartes Leben als Unterhaltung zu sehen. So behandeln sie auch Journalist*innen. Es ist äußerst schwierig, die Orbitaner*innen zum Reden zu bringen. Sie betreten ihre Wohnungen und ziehen sogar die Vorhänge an den Fenstern zu, sobald eine Kamera in Sicht ist.

Orbitas verlassene Korridore | Foto: © Oleksii Filippov
Der Punkt der Unbesiegbarkeit
Nur die Hromovs verstecken sich nicht. Olena, ihr 36-jähriger Mann Anton und ihre drei Kinder — die vierjährige Sabrina, die zweijährige Bozhena und der sieben Monate alte Anton Antonovych, wie ihn seine Mutter scherzhaft nennt. Sie leben in einem der beiden fünfstöckigen Plattenbauten — die einzige Insel der Zivilisation in der Stadt. Im Gegensatz zu den heruntergekommenen Wohnheimen sind die beiden Häuser sauber und aufgeräumt. Nebenan gibt es zwei Spielplätze, gepflegte Blumenbeete, Gewächshäuser, mehrere Garagen, eine Heizungsanlage und Ställe mit Hühnern und Gänsen.Direkt im Hof des Wohnblocks hat die Familie ein provisorisches Sommerhaus errichtet. Es gibt eine Garage für den Mann, einen Schuppen mit Brennholz, eine Bank, einen Tisch und einen Grill. In der Nähe ist ein Wald, so dass immer etwas da ist, um ein Feuer zu machen, sich zu wärmen oder das Abendessen zu kochen. Orbita gibt den Menschen ein Stück Freiheit. „Während der Stromausfälle nannten wir diesen Ort den einzigen ‚Punkt der Unbesiegbarkeit´ in Orbita“, sagt Olena, während ihre Kinder mit den örtlichen Katzen spielen. Es gibt keine anderen Kinder in der Siedlung, außer in den Ferien, wenn die einheimischen Rentner*innen ihre Enkelkinder zu Besuch haben.

Sabrina und ihre Katze | Foto: © Oleksii Filippov
Doch damit enden die Annehmlichkeiten von Orbita. Der Laden ist schon lange geschlossen, es gibt kein Krankenhaus, und die nächste Schule und der nächste Kindergarten sind 15 Kilometer entfernt in Witowe. Ein Schulbus fährt zweimal täglich. Die Häuser haben Strom, Gas und Wasser. Für alles andere muss man in die Stadt fahren. Deshalb ist ein Auto eine wichtige Voraussetzung für das Leben hier. Von Orbita nach Tschyhyryn führt eine Straße aus Betonplatten, an der die Träger der Fernwärmeleitungen stehen. Die Rohre selbst und die Heizung sind längst nicht mehr da. Auch sie wurden gestohlen und als Metall verkauft. Heute kommt nur noch einmal in der Woche ein Lastwagen der Ukrposhta, der ukrainischen Post, nach Orbita. Er bringt Rentenzahlungen, Zeitungen und Nebenkostenabrechnungen. In den Briefkästen der verlassenen Wohnungen stapeln sich seit Jahren die Quittungen mit den Schulden.
Das Neujahrsfest feierte die Familie Hromov allein. Verwandte und Freund*innen aus anderen Regionen kamen wegen der Straßenkontrollen und der Abgeschiedenheit der Geisterstadt nicht. Mehr als einmal dachten Olena und Anton daran, wegzuziehen. Doch der Krieg hielt sie davon ab. „Hier hört man kaum Fliegeralarme. Und es gibt keine Raketenangriffe. Manchmal fliegt eine Drohne über uns hinweg. Aber ich fühle, dass es hier sicherer für meine Kinder ist als in Kyjiw oder Lwiw. Ich bin Baggerfahrer, reiße Gebäude ab und weiß, wie leicht die Decken von Kindergärten und Schulen einstürzen. Der Gedanke, dass meine Kinder während eines Beschusses in einem solchen Kindergarten sein könnten, macht mir Angst“, erklärt Anton, warum er sich weiterhin von der Zivilisation fernhält.
Ein Versteck mitten im Wald
Der Krieg hat auch das zurückgezogene Leben in Orbita verändert. Seit 2014 kommen neue Bewohner*innen — aus dem Osten und aus Städten an der Frontlinie. Die ersten kamen aus der Region Donezk. Die rekordverdächtig günstigen Wohnungen in Orbita waren die einzige Unterkunft, die sich die Menschen leisten konnten, die alles verloren hatten. Die zweite Phase des Zuzugs begann mit dem Ausbruch des totalen Krieges.„Wir sind kurz vor dem 24. Februar hier angekommen. Man sagt, dass Ratten die ersten sind, die ein sinkendes Schiff verlassen. Nach meinem Horoskop bin ich also eine Ratte. Es war, als hätte ich gespürt, dass wir gehen müssen“, sagt Olha, eine 78-jährige Rentnerin, die mit ihrem Mann Anatolij nach Orbita gezogen ist, scherzhaft und traurig zugleich.
Olha erzählt ihre Geschichte, während sie in der kleinen Küche ihrer Zweizimmerwohnung Kaffee kocht. Sie und Anatolij sind beide Ökonomen und haben ihr ganzes Leben in Krywyj Rih verbracht. Nach ihrer Pensionierung wollten sie an einen ruhigen Ort in der Natur ziehen. Über Freunde erfuhren sie von Orbita. Das Haus, das sie als Sommerhaus zum Pilze sammeln und Angeln gekauft hatten, wurde in den ersten Kriegstagen zur Rettung für die ganze Familie.

Olha vor ihrem neuen Heim | Foto: © Oleksii Filippov
„Sie können sich nicht vorstellen, was hier im Februar und März 2022 los war. Drei Familien kamen zu uns — meine Tochter, meine Enkelin und ihr Mann sowie Verwandte. Wir waren insgesamt 16 Personen, die sich zwei Zimmer teilten. Der Mann meiner Enkelin hat am meisten gelitten. Er ist IT-Spezialist und sobald er sich über Zoom unterhalten wollte, kam sofort jemand ins Zimmer. Er rannte in ein anderes Zimmer. Oh mein Gott, so war das!“ Der 81-jährige Anatolij klatscht in die Hände. Aber man spürt, wie stolz er ist, dass er und seine Frau alle ihre Lieben in Sicherheit bringen konnten.

In seiner Freizeit geht Anatolij mit seinem Hund im Wald spazieren. | Foto: © Oleksii Filippov
Heute kommen nicht mehr so viele Gäste zu dem Ehepaar. Aber es sind neue Nachbar*innen hinzugekommen. „Die Leute haben angefangen, hier Wohnungen zu kaufen. Mehrere Wohnungen wurden von Leuten aus Dnipro gekauft. Eine hat ein junges Paar aus Kyjiw gekauft. Manche kommen, um den Beschuss zu vermeiden. Es gibt einen Soldaten, der mit einer Verletzung aus dem Krieg zurückkam und sich hier ausruht — er sammelt Pilze und geht im Wald spazieren“, erzählt Olha.

Das Ehepaar hat in der Nähe ihres Hauses ein Gewächshaus gebaut. Hier bauen sie Gurken und Tomaten an. | Foto: © Oleksii Filippov
Das modernste Städtchen
Im vergangenen Sommer wurde das beschauliche Orbita von einer Nachricht aufgerüttelt. Die NNEGC Energoatom kündigte Pläne an, das stillgelegte Atomkraftwerk Tschyhyryn fertigzustellen und vier neue Blöcke zu bauen. Die offizielle Erklärung von Enerhoatom-Chef Petro Kotin klang ehrgeizig: „Energoatom beabsichtigt, Orbita wiederzubeleben und es zu einer der modernsten Städte wie Netischyn, Piwdennoukrajinsk oder Warasch zu machen. Die erfolgreiche Umsetzung dieser Pläne ist zweifellos eine bedeutende Investition in den Wiederaufbau nach dem Krieg und in die Energiesicherheit des Staates.“Seitdem wurden jedoch keine Schritte zum Bau des Kraftwerks unternommen. Dennoch sieht Dorfvorsteher Mykola darin eine neue Hoffnung für Orbita. Ihm zufolge haben die lokalen Behörden sogar beschlossen, ein 40 Hektar großes Grundstück für den Bau eines neuen Kernkraftwerks zur Verfügung zu stellen. „Orbita hat eine schöne Natur, eine gute Lage und vom Krieg ist hier nichts zu spüren. Alles, was fehlt, sind Arbeitsplätze, um die Stadt zu beleben“, hofft Mykola.

Der Kraftwerksschornstein ist alles, was von dem ehrgeizigen Bauprojekt übrig geblieben ist. | Foto: © Oleksii Filippov
Das sehen auch die Stadtplaner*innen so. Arbeitsplätze sind eine Grundvoraussetzung für die Wiederbelebung der Stadt. „Damit die Menschen zurückkehren und die Binnengeflüchteten aus den frontnahen Gebieten in die Stadt kommen, muss es Arbeit geben. Die Menschen gehen dorthin, wo es Arbeit gibt. Nur wenn es Arbeit gibt, macht es Sinn, Versorgungsleitungen zu verlegen, soziale Einrichtungen und Verkehrsverbindungen zu bauen“, sagt der ukrainische Stadtplaner und Bauunternehmer Ihor Raikov und blickt auf eine Karte der Region um Tschyhyryn und Orbita.
Ihor ist zuversichtlich, dass die Ankunft einiger Dutzend Binnengeflüchteter in Orbita eher ein einmaliger und besonderer Fall ist. Der Experte hält verlassene Städte für eine strategisch schlechte Wahl, um Geflüchtete aufzunehmen: „Menschen, die traumatische Kriegserfahrungen gemacht haben, sollten in die Gesellschaft integriert und nicht an abgelegenen Orten abgeschottet werden.“ Gleichzeitig sieht der Experte, der sich inzwischen den ukrainischen Streitkräften angeschlossen hat, die Chance, dass Orbita zu einer Stadt der Erholung und des Wiederaufbaus wird: „Wenn die Unterkünfte und die Infrastruktur wiederhergestellt sind, könnte diese Stadt ein Rückzugsort für das Militär und für diejenigen werden, die während des Krieges gelitten haben. Der Wald, die Stille, das Wasser — es könnte wirklich eine Kurstadt werden.“

Der Blick aus dem Fenster in den Wald | Foto: © Oleksii Filippov
Kurstadt klingt viel besser als Geisterstadt oder gar Atomkraftwerk. Nur Olena hat Angst, vom Unmöglichen zu träumen: „Meine Eltern haben mir erzählt, dass Orbita ein Ort ist, an dem alles beginnt, aber nichts endet.“
März 2025