Die Peripherie hat viele Gesichter, und genauso facettenreich ist auch das dortige Leben. Entscheidend sind die Wege, die die Menschen an den Rand geführt haben, aber auch die Politik des Staates beziehungsweise der jeweiligen Städte gegenüber solchen randständigen Lokalitäten und ihren Bewohner*innen.
Früher lebte meine Freundin Margita mit ihrer Familie in der Hvězdová, doch im vergangenen Jahr brannte ihre Wohnung ab. Die Stadt siedelte die neunköpfige Familie daraufhin in eine Einraumwohnung ein paar Straßen weiter um. Dass das Feuer ausbrach, war nicht ihre Schuld – vermutlich handelte es sich um eine Nachlässigkeit seitens des Eigentümers, in diesem Fall der Stadt. Wie es tatsächlich dazu kam, erfuhr jedoch niemand aus der Familie. Sie bekamen keinen Schadenersatz und mussten fast ein ganzes Jahr in der kleinen Ersatzwohnung bleiben. Ohne Privatsphäre, ohne Möbel und ohne Möglichkeiten, sich aus dieser beengten Lage zu befreien. Erst vor einigen Monaten haben sie nun endlich einen neuen Wohnraum zugeteilt bekommen. Ich schleppe mich über die Tkalcová zu ihrer neuen Adresse. Während ich den Müll von der Straße kicke, frage ich mich, wie es in ihrem neuen Zuhause aussieht.Super-duper Geschichte und Krieg
Das „Cejl“, wie wir, die dort nicht wohnen, diesen Bezirk von Brno nennen, ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination von Lage und Kolorit. Im Unterschied zu vielen anderen sogenannten sozialen Brennpunktgebieten, ob im In- oder im Ausland, befindet sich das Cejl fast im Zentrum der Stadt; laut Kataster liegt ein großer Teil im Bezirk Brno-Mitte. Die Bebauung entstand im Zuge der Industrialisierung – mehr Fabriken, mehr Arbeiter*innen, mehr Pawlatschenhäuser für ihre Familien [Die Bezeichnung Pawlatsche leitet sich vom tschechischen Wort „pavlač“ ab und bedeutet Balkon oder Galerie. Damit werden die (oft) schmalen, offenen Holzgänge bezeichnet, die die einzelnen Wohnungen im Innenhof miteinander verbinden und über eine Außentreppe erreicht werden. Anm. d. Übersetzerin]. Neben den Arbeiterfamilien wohnten hier aber auch Familien von deutschen Unternehmer*innen sowie jüdische Fabrikbesitzer*innen, die Fabriken entlang der Křenová besaßen. Vor allem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen blühte hier das Leben. Damals entstanden hier eine Rüstungsfabrik und in den 1930er Jahren auch ein Heizwerk. Mit dem Zweiten Weltkrieg unterbrach diese vielversprechende Entwicklung abrupt.Nach dem Krieg siedelte man in die leeren Häuser der ermordeten Jüdinnen und Juden und vertriebenen Deutschen mehrheitlich Roma an, die als billige Arbeitskräfte vor allem aus der Slowakei nach Brno kamen. So sind letztendlich auch die Familien meiner Freund*innen hier gelandet – ihre Väter kamen wegen der Arbeit. Als sich nach dem Regimewechsel 1989 die Grenzen öffneten, bedeutete dies zwar mehr Möglichkeiten, aber zugleich auch weniger Arbeit. Heute nagen die Söhne der Väter von damals am Hungertuch. Eine Anstellung gibt es hier für sie nicht. Angewiesen auf einmalige Arbeitsangebote sind sie paradoxerweise gefangen in ihrem ausgegrenzten Mikrokosmos.

Die Bratislavská-Straße und eines der Murals, das sie schmückt. | Foto: © Bára Bažantová
(Soziale) Peripherie mitten in der Stadt
Das heutige Cejl habe ich für mich während der Covid-Pandemie entdeckt. Ich kam hierher, um mit dem Hund Gassi zu gehen, in der bräunlichen Brühe der Svratka zu baden oder Wodka mit den obdachlosen Menschen zu trinken, die sich ja nicht wie alle anderen in ihrer Wohnung hätten einschließen können. In dieser Zeit habe ich auch Margitas Kinder kennengelernt. Der Schulunterricht fand damals nur online statt, und da sie zu Hause keinen Computer hatten oder jemanden, der ihnen mit den Hausaufgaben hätte helfen können, bedeutete es für sie einen fließenden Übergang in die Schule des Lebens. Kinder, die in der Nachmittagssonne Zigarettenstummel vor dem Tabakladen sammeln, der hier allabendlich die geschlossenen Lokale ersetzt. Musik, die sich aus den offenen Fenstern direkt auf die Straße ergießt, abgebröckelter Putz an längst sanierungsbedürftigen Häusern und Gehwege voller Müll. Man kann darin auch die Kehrseite des Kapitalismus sehen, genauso wie das unbändige und blühende Leben, das sich den Regeln widersetzt. Was aber noch mitgedacht werden sollte, ist die Tatsache, dass sich kaum jemand von den hiesigen Bewohner*innen dieses Leben freiwillig ausgesucht hat.Die, die hier geboren werden, besuchen hiesige Schulen, gehen in hiesige Läden einkaufen und abends ihre Verwandten besuchen, die ein paar Straßen weiter wohnen. Die Nähe zum Stadtzentrum mindert keineswegs die soziale Kluft, die Grenzen des Stadtviertels sind von innen nach außen kaum passierbar. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Armen aus den hiesigen Romafamilien mit „Cejl“ eine konkrete Straße meinen, die diesen historischen und ursprünglich deutschen Namen („Zeile“) trägt, während andere, „breiter“ aufgestellte Outsider damit das ganze Viertel bezeichnen. Umkehrt funktioniert es eben anders.
Während der Raum für sozial ausgegrenzte (meist Roma-)Familien immer kleiner wird, entsteht anstelle ihrer alten Häuser ein schickes Wohnviertel, fast als würde hier die Gentrifizierung die entsprechende South-Park-Folge von 2015 kopieren. Künstlerische Intervention an vormals grauen Wänden, neue Wohnungen zu horrenden Preisen, die diversen Developern gehören, und hinter den Fenstern das vibrierende exotische Leben, das sich aus den übriggeblieben Pawlatschenhäusern auf die Straße drängt. Zu sich hinein lädt dieses Leben allerdings von den heutigen Künstler*innen und Investor*innen niemand ein.

Der Bauträger Domoplan besitzt viele Grundstücke in der Nähe der Bratislavská Straße | Foto: © Bára Bažantová
Brno = eine Vorstadt Wiens?
Das Haustor von Margitas neuem Haus ist eisern und ramponiert, auf den Klingelschildern keine Namen, vor der Tür wartet eh ständig jemand. Als ich durch die Doppeltür in die Wohnung komme, treffe ich in der Küche die ganze Familie und noch ein paar mehr Menschen, die ich noch nicht kenne. Margita legt Jitrnice [Würste aus Schweineinnereien, Anm. d. Red.] auf den Tisch, drückt mir sofort einen Schnitzel in die Hand, und will mir gleich ihr neues Zuhause zeigen. Eine geräumige, schlecht gedämmte und (bis auf die Größe) ziemlich kärgliche Wohnung mit beschlagenen Fensterscheiben. An denen, so wurde es mir einmal erzählt, erkennt man einen armen Haushalt. Wir verhandeln miteinander, welches der Kinder mit mir einen Ausflug nach Wien machen darf. Am Anfang beharre ich noch darauf, nur eine der älteren Töchter mitzunehmen, aber am Ende fahren die jüngste von ihnen und der älteste Sohn mit.Mit dem Zug sind es keine zwei Stunden, doch für die Kinder ist es eine Reise in eine andere Welt. Alles wirkt so imposant, wie es nur Wien kann. Aber wir bleiben nicht im Zentrum, sondern wollen noch weiter – zu unserem Schlafplatz auf einem der Wagenplätze am Stadtrand.
Vom Wiener Hauptbahnhof dauert es dorthin fast genauso lange wie die ganze Strecke von Brno nach Wien. Es ist Freitagabend und aber selbst tagsüber sind die Verbindungen nicht so gut. Und danach müssen wir noch eine halbe Stunde laufen, die Kleine kann nicht mehr und ich muss sie immer wieder tragen. Wir laufen an der Donau entlang, vorbei an den Gleisen und gepflegten Schrebergärten. Als wir von irgendwoher laute Romamusik hören, funkeln dem großen Bruder die Augen, am liebsten würde er in die Richtung rennen. Am Wegesrand ruhen Lastwagen, hinterm Zaun riecht es nach Pferden und auf der anderen Seite ragt die Kuppel eines buddhistischen Tempels empor. Wir haben das Ziel unserer Reise erreicht.

Der Wiener Bauwagenplatz | Foto: © Bára Bažantová
Andere Länder, andere Ränder
Das Tor, durch was wir hineingehen, ist ebenfalls aus Eisen, so wie das, an dem heute am frühen Abend unsere Reise begann. Aber das warʼs dann auch mit den Ähnlichkeiten. Hinter dem Tor erstreckt sich eine breite Fläche mit Wohnwägen und Bauwägen mitsamt hübschen Vorgärten. Es gibt auch ein aus gefundenem Material zusammengezimmertes Häuschen, eine offene Bühne und ein Gemeinschaftsbad mit Sauna. Wir bekommen einen Gästewagen zugewiesen, bereits geheizt, das gestapelte Holz reicht für die ganze Nacht.Die links-anarchistisch orientierte Bewohnerschaft zahlt der Stadt (der das Grundstück gehört) eine symbolische Miete, etwa 120 Euro pro Kopf. Sie leben hier schon seit fünf Jahren und haben alles selbst gebaut. Neben dem Gemeinschaftsbad mit Sauna haben sie auch einen Gemeinschaftsraum mit Beamer, Bar und einem großen Kamin. Ich warte, ob die Sprache auf die Gefahr einer baldigen Räumung kommt, aber unsere Gastgeberin, die Österreicherin Clara, spricht nur von langsam steigenden Mieten. Sie und alle anderen hier machen einen sehr ruhigen Eindruck, überall ist es aufgeräumt und gemütlich. Der Gemeinschaftsraum wird von niemanden beansprucht und wir fühlen uns hier genauso zu Hause wie alle anderen. Die Kinder haben ein wenig Angst vor den vielen freilaufenden Hunden, aber nach der ersten Nacht ist auch sie verflogen.
Am Morgen fahren wir aus der Peripherie Richtung Nordwesten, in die Innenstadt. Unterwegs machen wir einen Halt am Prater. Es ist Samstagvormittag und trotz des sonnigen Wetters, kriecht uns der späte Herbst unter die Kleider, der Prater ist ziemlich leer. Wir laufen durch den Vergnügungspark mit seinen Attraktionen, die ein bisschen wie Filmkulissen wirken, verstaubt und verbraucht. An der Achterbahn sehen die Kinder einen schwarzen Jungen, der Bruder kann von ihm kaum die Augen lassen. Er bleibt stehen, schaut ihn an, hält es irgendwann nicht mehr aus und spricht ihn auf Tschechisch an. Der Junge versteht kein Wort und verschwindet hinter den Spaßkulissen. Die Kinder dürfen sich ein paar Attraktionen aussuchen, aber fast alles macht ihnen Angst und mir wird erst später klar, dass sie wahrscheinlich zum ersten Mal im Leben an so einem Ort sind.
Wie hoch ist niedrigschwellig
Anders als ich es vermute, wollen die Kinder überallhin zu Fuß laufen, wahrscheinlich um möglichst viel zu sehen. Also laufen wir zum Hundertwasserhaus, dann durch die Innenstadt, machen einen kurzen Halt im Stephansdom und verbringen den Rest des Nachmittags im Naturkundemuseum. Da kommen wir kostenlos rein, für Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre ist der Eintritt frei und für uns Erwachsene gibt es den Kulturpass. Der Kulturpass ist eine magische Karte, die in Wien Menschen mit geringem Einkommen, sozialschwachen Familien, Arbeitslosen, Geflüchteten, Obdachlosen und anderen ausgegrenzten Gruppen die Türen verschiedener Kultureinrichtungen öffnet. Obwohl es sich in erster Linie um eine formale Gefälligkeit handelt (die Un/Zugänglichkeit solcher Räume ist für soziale Randgruppen leider nicht nur die Frage des Eintrittsgeldes), ist es ein wichtiger Schritt für einen niedrigschwelligen Zugang zur Kultur.In Tschechien bemüht sich seit 2021 die Initiative Snížit kultuře práh (etwa: Die Schwelle zur Kultur senken) um ein ähnliches Programm, ergänzt um eine Art organisierte Begleitung durch Kulturmittler*innen. Die Informationen über die Weiterentwicklung des Projekts enden mit einem Bericht von 2023 und der Übernahme der Schirmherrschaft durch die Regierungsbeauftragten für Menschenrechte. Ob es nach und nach gelingt, ein von Stadtverwaltungen finanziertes Projekt nach dem Wiener Modell zu realisieren, bleibt offen, und angesichts der sehr zurückhaltenden Einstellung der tschechischen Politik zur Fragen der sozialen Ausgrenzung halte ich mich lieber mit meiner Einschätzung zurück.
Der ganze Ausflug ist wie ein Märchen. Draußen scheint die Sonne und unser temporäres Zuhause, in das wir abends zurückkehren, ist ein Ort, wo wir die Erlebnisse des Tages verarbeiten können, gemeinsam kochen und viel Spaß haben. Ich muss über uns Erwachsene ein bisschen schmunzeln, wenn ich darüber nachdenke, was die Kinder neben dem Besuch im Prater am meisten beeindruckt hat: Droschken, Straßenkünstler*innen und das Beschenken von Bettelnden auf den belebten Wiener Prachtstraßen.

Wiener Prater | Foto: © Bára Bažantová
Deutlich näher
Entfernung ist ähnlich wie Zugänglichkeit ein relativer Begriff, auch dann, wenn sie klar definiert ist. Für die Bewohner*innen des Wiener Wagenplatzes ist es kein Problem, wegzugehen oder auch zu jeder Zeit wieder zurückzukommen. Größenteils sind es weiße Menschen zwischen zwanzig und vierzig, die Hunde statt Kindern haben. Roma gibt es hier keine. Nicht, dass ihnen der Raum ideologisch verschlossen wäre, aber zwischen diesen beiden Gruppen gibt es im Alltag kulturell, politisch oder sozial kaum Überschneidungen. Die Wagenplatzbewohner*innen wurden, bis auf einige Ausnahmen, meist nicht in ihre jetzige Situation hineingeboren. Sie haben sich aktiv für diesen randständigen Lebensstil entschieden – ihre Bescheidenheit ist angelernt und nicht unverzichtbar, und die Peripherie nicht unausweichlich, sondern das Ergebnis einer freien Entscheidung für eine bestimmte Lebensform aus politischer Überzeugung.Dank diesem Bewusstsein, aber auch dank ihrer ethnischen und sozialen Zugehörigkeit steht ihnen im Unterschied zu meinen Bekannten, die ebenfalls, nur ein wenig anders, am gesellschaftlichen Rand leben, der Weg in die Mitte offen. Genauso wie sie in der Lage sind, sich Bedingungen zu schaffen, die ihren Bedürfnissen und Wünschen entsprechend – egal, ob es sich um die Miethöhe oder das Maß ihrer Privatsphäre handelt.
Ähnliche Paradoxe und damit zusammenhängende Fragen nach dem Erleben von Unfreiheit oder von Emanzipationsprozessen (den inneren oder jenen, die einen von den Mechanismen der Unterdrückung befreien) lasten an mir am Ende des Wochenendes wie eine schwere, dichtgewebte Decke. Und nicht nur an mir. Als wir zurückfahren, spricht die Kleine kein Wort. Als wäre ihre Fröhlichkeit der vergangenen Tage auf einmal verflogen, in ihren Augen glänzen Tränen. Nachdem ich es schaffe, ihr ein wenig Essen und eine heiße Schokolade einzuflößen, sagt sie, dass sie über etwas nachgedacht habe, was sie aber nicht beschreiben könne. Und obwohl ich nur erahnen kann, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen würde – hätte sie die passenden –, fühle ich mit ihr. Mit meinen widersprüchlichen Gefühlen darüber, ob der Dialog zwischen diesen beiden Welten überhaupt von jemandem gewollt wird, verlasse ich später Margitas Wohnung. Und damit auch all ihre Bewohner*innen, die keine andere Wahl haben, verlasse all die nach Aufmerksamkeit hungernden Gesichter, die Zimmer, aus denen jeweils unterschiedliche Musik schallt, und wo sich subtile Gefühle wie fröhliche Erinnerungen im Geschrei der Kinder verflüchtigen.