Narva, die drittgrößte Stadt Estlands, war wegen ihrer überwiegend russischsprachigen Bevölkerung lange kulturell und mental isoliert. Von Russland nur getrennt durch den schmalen gleichnamigen Fluss, wird Narva immer wieder als mögliches erstes Ziel einer russischen Aggression auf NATO-Gebiet genannt. Sicherheitspolitische Interessen zwingen den estnischen Staat, mehr für die Integration der russischsprachigen Minderheit zu tun – Bemühungen, die häufig von tiefsitzendem Misstrauen zeugen. In Narva selbst aber tritt eine junge Generation heute selbstbewusst für ihre Identität und Freiheit ein. Wir haben einige Akteur*innen dieses Wandels getroffen.
Der Regen prasselt an diesem Julinachmittag in Tallinn, doch für Svetlana Ivanova zählt nur der Moment. Schulter an Schulter mit 31.000 Sängerinnen und Sängern stimmt sie beim Laulupidu in einen mächtigen Gesang ein. Das estnische Liederfest ist mehr als nur ein Konzert – es ist ein Symbol nationaler Identität, und außerdem eine lebendige Erinnerung an die Singende Revolution, mit der die Est*innen einst der sowjetischen Besatzung trotzten.Für die 41-jährige Chorsängerin aus Narva ist dieser 5. Juli 2025, ein persönlicher Wendepunkt. Zum ersten Mal steht ein erwachsener russischsprachiger Chor aus der Grenzstadt auf dieser symbolträchtigen Bühne. „Ich fühlte mich wie ich selbst“, sagt Ivanova. „Nicht als Russin in Estland. Nicht als ‚russischsprachige Estin‘. Einfach ich – erleichtert, zutiefst glücklich und endlich zugehörig.“
Svetlana Ivanova aus Narva während des estnischen Liederfestes Laulupidu im Juli 2025 | Foto: © Isabelle de Pommereau
Narva, einst ein bedeutendes Industriezentrum, hat sich vom wirtschaftlichen Kollaps nach dem Zerfall der Sowjetunion nie ganz erholt. Die Arbeitslosenquote liegt heute bei fast 10,5 Prozent – deutlich über dem Landesdurchschnitt. Narva gilt bis heute als „Ort für sich“ – sprachlich, kulturell und mental oft isoliert vom Rest des Landes, und wo nationale Ereignisse wie das estnische Sängerfest lange kaum Resonanz fanden.
In diesem Jahr hingen am Unabhängigkeitstag an fast jedem Haus in meiner Straße estnische Fahnen. Vor fünf Jahren – keine einzige.“
Kleine, große Veränderungen
Die Annäherung zwischen estnisch- und russischsprachiger Bevölkerung ist eine der sensibelsten Aufgaben der postsowjetischen Ära – und seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine 2022 noch dringlicher geworden. Wegen ihrer Grenzlage und demografischen Struktur gilt die Stadt Narva als geopolitischer Brennpunkt. Die Sorge ist real, Moskau könnte die russischsprachige Bevölkerung mit gezielter Propaganda beeinflussen. Der Krieg und die darauffolgenden politischen Maßnahmen gegenüber Estlands russischer Minderheit haben nicht nur die Spannungen zwischen Est*innen und Russ*innen verschärft, sondern auch Familien in Narva gespalten.Umso symbolträchtiger ist, dass Ivanovas Chor am estnischen Liederfest teilnahm – ein verhaltenes, aber bemerkenswertes Zeichen für Wandel, ausgerechnet in einer Zeit, in der Narva stärker als je zuvor im Fokus geopolitischer Spannungen steht.
„Kleine, aber große Veränderungen“, nennt das Martin Tikk. Der 28-Jährige zog Anfang 2021 nach einem Bachelor in Naturtourismus aus Tartu nach Narva – aus reiner Neugier und Abenteuerlust, wie er lachend sagt: „Narva ist eine Stadt, wo man einfach nicht hingeht.“ Was er dort vorfand, schockierte ihn: kaum junge Leute mit Estnischkenntnissen, dafür jede Menge russische Propaganda. Also gründete er ehrenamtlich einen Jugendsprachklub, um Jugendlichen die estnische Sprache näherzubringen. Er blieb – und wurde zu einem wichtigen Akteur des Wandels. Als 2023 Narvas erstes staatliches estnischsprachiges Gymnasium eröffnete, übernahm Tikk dort die Rolle des Tanzlehrers und Community-Koordinators. Seine Aufgabe ist es, Schulklassen und Jugendliche mit regionalen Theatern, Tanzgruppen und zivilgesellschaftlichen Initiativen zu vernetzen.
Martin Tikk zog Anfang 2021 nach einem Bachelor in Naturtourismus aus Tartu nach Narva. Als 2023 Narvas erstes staatliches estnischsprachiges Gymnasium eröffnete, übernahm Tikk dort die Rolle des Tanzlehrers und Community-Koordinators. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Es geht nicht darum, ob Narva sich Tallinn nähert oder entfernt. Sondern darum, dass die Stadt in ihre Rolle hineinwächst – als lebendiger, bedeutsamer Teil dieses Landes.“
Und nicht nur militärisch, auch kulturell rückt Narva stärker in den Fokus: Ende Juni 2025 fanden hier erstmals die Global Estonian Culture Days statt – ein weiteres deutliches Signal, dass diese Stadt zu Estland gehört.
Doch Narvas Wandel wird nicht ausschließlich von oben gesteuert. Ivanovas Auftritt auf dem Laulupidu mit ihrem 2018 gegründeten Tandem-Chor ist Teil einer wachsenden „kulturellen Infrastruktur“, sagt Anna Farafonova, die Leiterin des estnischen Sprachhauses, einer Anlaufstelle für Integration, die nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014 entstand. „Auch wenn der Krieg den Dialog mit russischsprachigen Gemeinschaften dringlicher gemacht hat, sind viele Entwicklungen, die wir heute sehen, keine bloße Reaktion auf den Krieg“, betont die gebürtige Narvaerin. „Sie sind das Ergebnis langjähriger Bemühungen von Einzelpersonen, die an diese Stadt glauben.“
„Es geht nicht darum, ob Narva sich Tallinn nähert oder entfernt“, sagt Farafonova. „Sondern darum, dass die Stadt in ihre Rolle hineinwächst – als lebendiger, bedeutsamer Teil dieses Landes.“
Sankt Petersburg liegt näher
Der Kulturunternehmer Allan Kaldoja wuchs in der Nähe von Narva auf – als Angehöriger der kleinen estnischsprachigen Minderheit. Schon früh zog ihn der besondere Charakter der Grenzstadt in den Bann: ihre historische und geopolitische Lage, ihre Widersprüche und die „Zerbrechlichkeit als Grenze der Zivilisation“, wie er es nennt.Vom estnischen Ufer des Flusses Narva aus, nur wenige hundert Meter entfernt von seinem unabhängigen Theater Vaba Lava, das er 2018 gründete, zeigt Allan Kaldoja auf die russische Flagge, die über der mittelalterlichen Festung von Iwangorod weht. Nur 135 Kilometer entfernt liegt Sankt Petersburg, näher als Tallinn.
Nirgendwo wird die komplexe Geschichte zwischen Estlands estnisch- und russischsprachigen Gemeinschaften so deutlich wie hier. Nach der sowjetischen „Befreiung“ 1944 war Narva, das von den Nazis fast vollständig zerstört worden war, gezielt russifiziert worden. Die meisten estnischen Einwohner*innen wurden vertrieben oder starben in sibirischen Arbeitslagern. Neue Arbeitskräfte aus anderen Teilen der Sowjetunion zogen in die Stadt: Narva brauchte dringend Menschen zum Wiederaufbau, und gleichzeitig sollte die einheimische Bevölkerung zur Minderheit werden. Ein großer Teil der estnischen Vergangenheit der Stadt wurde so ausgelöscht.
Als Estland 1991 seine Unabhängigkeit zurückerlangte, war Narva de facto eine russisch geprägte Stadt. Für viele bedeutete die Unabhängigkeit nicht Befreiung, sondern den Verlust von Jobs und Identität. Die estnische Staatsangehörigkeit erhielten nur diejenigen automatisch, die vor 1940 in Estland gelebt hatten; alle anderen mussten schwierige Sprachtests bestehen. Viele, die nicht bestanden oder darauf verzichteten, blieben staatenlos.
Heute, mehr als 30 Jahre später, haben von den rund 58.000 Bewohner*innen Narvas etwa ein Drittel die russische Staatsangehörigkeit. Die überwiegende Mehrheit spricht zu Hause Russisch. Die Stadt unterscheidet sich damit stark vom Rest Estlands, wo ethnische Russ*innen etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Im ganzen Land gibt es rund 83.500 registrierte russische Staatsbürger*innen und etwa 70.000 Menschen mit einem „grauen Pass“ – sie haben weder die estnische noch die russische Staatsbürgerschaft, rechtlich zwischen den Ländern schwebend. Ein kleiner Vorteil für sie: die visafreie Einreise nach Russland.
Wegen des Krieges ist die „Freundschaftsbrücke“ nach Iwangorod heute für Autos gesperrt. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Die Bronzene Nacht, wie die Krawalle genannt wurden, war ein erster Weckruf – verbunden mit der Erkenntnis, dass der Staat sich stärker um seine russischsprachige Minderheit kümmern musste, insbesondere in der Grenzstadt Narva, um die Stabilität des Landes zu sichern. Trotz erster Maßnahmen wie der Einführung eines öffentlich-rechtlichen Radiosenders auf Russisch blieb Narva lange sowjetisch geprägt, mit leeren Fabriken, misstrauischen Behörden und eingefrorenen Machtstrukturen. In Wohnzimmern, auf der Straße und in den Schulen dominierten weiterhin die russische Sprache und, wie viele berichten, auch die russische Mentalität. Die lokale Verwaltung war von Vetternwirtschaft und Korruption durchdrungen, und in Unternehmen sowie Institutionen wirkte eine tief verwurzelte sowjetische Denkweise nach, sagt Kaldoja – und viele andere bestätigen dies. Was der Stadt fehlte, so Kaldoja, war ein zivilgesellschaftliches Herzstück – ein Ort für Dialog, Kreativität und Austausch.
Die Politiker sagten plötzlich: ‚Oh, wir müssen etwas für Narva tun!‘ Vorher hat sich kaum jemand wirklich für die Stadt interessiert.“
Eine Bühne gegen Misstrauen
In Tallinn hatte Kaldoja, der zuvor Rechtswissenschaften und anschließend Theologie in Tartu studiert hatte, mit dem von ihm initiierten ersten Vaba Lava (deutsch: „Freie Bühne“) gezeigt, wie postindustrielle Räume zu lebendigen Kulturzentren werden können. Doch sein Herz schlug für Narva. Seine Vision: das 11.000 Quadratmeter große Areal des stillgelegten Rüstungswerks Baltijets in ein Theaterzentrum zu verwandeln, mit Ateliers und Festivals– ein Bollwerk gegen das Autoritäre und eine Einladung zur Teilhabe.Aber Narva war nicht Tallinn – Investor*innen winkten ab. Also kaufte Kaldoja das Gebäude selbst, „in dem Wissen“, wie er sagt, „dass Narva eines Tages scharfgestellt wird.“ 2014, als Russland die Krim annektierte, richtete sich die Aufmerksamkeit der Welt plötzlich auf die Grenzstadt: Könnte Narva als Nächstes betroffen sein?
Die Sorge war nicht unbegründet – in Narva fanden sich viele der offiziellen Rechtfertigungen Moskaus für frühere Aggressionen wieder: eine fast vollständig russischsprachige Bevölkerung, die nur geringe Kenntnisse der Amtssprache hat und überwiegend russische Medien konsumiert, und die laut Kreml-Propaganda „diskriminiert“ und „unterdrückt“ werde – genau wie im Fall der Krim oder des Donbas. Die direkte Lage an der russischen Grenze und die symbolische Bedeutung der „Rückkehr“ einer vermeintlich russischen Stadt auf dem Gebiet von EU und NATO befeuerten die Befürchtung, Narva könne Ziel einer russischen „Schutz- oder Befreiungsaktion“ werden. „Die Politiker sagten plötzlich: ‚Oh, wir müssen etwas für Narva tun!‘“, sagt Kaldoja. „Vorher hat sich kaum jemand wirklich dafür interessiert.“
Die Regierung unternahm massive Investitionen. In Narva entstanden das erste staatliche estnischsprachige Gymnasium und eine estnische Immersionsgrundschule. Der russischsprachige öffentlich-rechtliche Sender ETV+ nahm seinen Betrieb auf und Integrationszentren wurden zugesagt.
Mit drei Millionen Euro Fördermitteln, aber ohne städtische Unterstützung, wie er betont, konnte auch Kaldoja sein Projekt verwirklichen. Seit 2021 beherbergt das neue Vaba Lava Narva-Kulturzentrum nicht nur ein Theater mit Black Box und Studiosaal – beliebt bei Jugendlichen –, sondern auch das „Haus der estnischen Sprache“ und ein Café. Gespielt werden Stücke, die provozieren – über Ideologie, Identität und Freiheit.
Theatergründer Allan Kaldoja rief noch kurz vor dem großangelegten Krieg gegen die Ukraine das Festival für Freiheits-Theater Valbādus ins Leben. Vom 15. bis 19. August 2025 fand das Festival zum vierten Mal statt. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Die seit Jahrzehnten verschleppte Sprachreform erhielt einen deutlichen Schub: Bis 2030 soll in allen Schulen verpflichtend nur noch auf Estnisch unterrichtet werden. Besonders umstritten war die Verfassungsänderung im März 2025, die das Kommunalwahlrecht für Drittstaatsangehörige abschafft – betroffen sind vor allem Einwohner*innen mit russischem und belarusischen Pass und die Staatenlosen mit „grauem Pass“.
In Narva jedoch lösten die Maßnahmen mitunter Entsetzen aus. Besonders ältere Einwohner*innen nannten sie überstürzt und kritisierten, dass sie ohne Rücksprache beschlossen wurden.
Ein Vorbild im Klassenzimmer
Aljona Kordonschuk kennt diese Bruchlinien wie kaum eine andere. Seit 2024 leitet sie eine estnische Immersionsgrundschule, die den Übergang zur Landessprache erleichtern soll, ohne die russischsprachige Identität der Kinder zu negieren. Kordonschuks Biografie erzählt die geteilte Identität der Region. Estnisch lernte sie erst im Studium – und verliebte sich in die Sprache. Ihr Vater, einst Boxtrainer der sowjetischen Nationalmannschaft, verlor 1991 nicht nur seinen Beruf, sondern auch sein Zugehörigkeitsgefühl. Den estnischen Pass bekam er nie, lebt bis heute mit einem „grauen Pass“, spricht kein Estnisch und ist überzeugt, die Ukraine habe den Krieg begonnen.
Aljona Kordonschuk mit ihrem Sohn. Seit 2024 leitet sie eine estnische Immersionsgrundschule, die den Übergang zur Landessprache erleichtern soll, ohne die russischsprachige Identität der Kinder zu negieren. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Trotz aller Widerstände bemüht sie sich weiterhin, ein Vorbild zu sein: „Ein Mensch, der Narva liebt, Estland liebt, dessen Muttersprache nicht Estnisch ist, der es aber fließend spricht – und das auch weitergibt.“ Estnischsprachigen Unterricht verbindet sie an ihrer Schule auch mit Theaterprojekten, Lesezirkeln und Ausflüge, damit die Schüler*innen die Sprache als Brücke und nicht als Mauer erleben.
Kunst bringt andere Hautfarben, andere Werte, andere Perspektiven nach Narva. Und genau das zählt.“
Kunst gegen die Kluft
Als Johanna Rannula Ende 2021 in die Grenzstadt Narva zog, war sie sich über die tiefen Gräben zwischen der russisch- und der estnischsprachigen Bevölkerung bewusst. „Der Riss war immer da. Aber wir dachten, er heilt langsam. Dann kam die Sache mit dem Panzer – und damit die Erkenntnis: Die Entfremdung sitzt tiefer, als wir dachten.“Rannula, Stadtforscherin und Kuratorin, übernahm 2021 die Narva Art Residency (NART). Die Residenz befindet sich in der ehemaligen Direktorenvilla der gigantischen Kreenholm-Textilfabrik, einst eine der größten Baumwollspinnereien Europas. Heute ist die historische Industriearchitektur aus Backstein ein elegantes Relikt und ein Symbol für den Wandel der Stadt.
Johanna Rannula, Leiterin der Narva Art Residency. Die Residenz befindet sich in der ehemaligen Direktorenvilla der gigantischen Kreenholm-Textilfabrik, einst eine der größten Baumwollspinnereien Europas. | Foto: © Isabelle de Pommereau
„Ich bin Estin, meine Eltern sind Esten. Ich habe diese Identität quasi umsonst bekommen“, sagt sie. „Aber hier haben 90 Prozent der Menschen keine so einfache Identität wie ich. Hier kann man auch sagen: ‚Ich bin eine russischsprachige Bürgerin Estlands, fühle mich aber vom estnischen Staat nicht vollständig unterstützt.‘“
Die Narva Art Residency ist Rannulas Antwort auf diese Kluft: ein Ort für neue Perspektiven und Fragen ohne einfache Antworten. Ihre Arbeit versteht sie als „eine Art kulturelle Missionsarbeit“, um Narvas Bedeutung zu zeigen. In diesem Jahr arbeiten 25 Künstler*innen aus Mexiko, Simbabwe, Litauen und der Ukraine mit den Menschen vor Ort. Kunst soll zum Alltag werden, mit Workshops in Schulen, Wandmalereien in Hinterhöfen und Performances in Gärten. „Kunst bringt andere Hautfarben, andere Werte, andere Perspektiven nach Narva“, sagt Johanna Rannula. „Und genau das zählt.“
In Narva muss ich mich nicht verstecken. Ich kann Russisch sprechen – und trotzdem dazugehören.“
Nach Narva nach Hause
Für die 20-jährige Korinna Ader, Mitglied des Studierendenrats am Narva College, ist die Kontroverse um den sowjetischen Panzer und den Gedenktag am 9. Mai nicht politisch, sondern zutiefst persönlich. „Es war immer der Geburtstag meines Großvaters“, sagt sie. „Wir saßen zusammen und schauten die Parade im Fernsehen. Das hatte nichts mit Politik zu tun.“Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat der 9. Mai ein neues, hochpolitisches Gesicht. An der Grenzbrücke veranstaltet das russische Iwangorod ein Konzert mit Marschmusik, das bis ans estnische Ufer zu hören ist. Gleichzeitig begeht Estland den Tag vor dem alten Rathaus mit Reden und Chören als Europatag. Während Hunderte Einwohner*innen das russische Konzert als Teil ihrer Tradition betrachten, sieht Estland darin einen Versuch, die russische Propaganda gezielt nach Narva zu bringen.
Korinna Ader (20), Mitglied des Studierendenrats am Narva College, fühlt sich in Narva zuhause. „Ich fühle mich nicht ganz estnisch. Und ich bin stolz darauf“, sagt sie. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Korinna wuchs in einer russischsprachigen Welt in der Kleinstadt Ahtme auf. Ihre Großeltern, die sich in den 1970er Jahren in einer Eisenbahnschule in Lettland kennengelernt hatten, zogen nach Ostestland, um in der Ölschieferindustrie zu arbeiten. Ihr Großvater gehörte zu den Pionieren, die die Schieneninfrastruktur für den Transport von Ölschiefer aufbauten. Stolz erzählte Korinna, wie wichtig seine Arbeit für die Industrie war. Ihre Mutter übernahm diese Welt: Sie arbeitet seit 35 Jahren in der Logistik eines Bergwerks, spricht kein Estnisch und besitzt keinen estnischen Pass.
Korinnas Kindheit war unbeschwert, bis sie mit 16 Jahren auf eine weiterführende Schule in der nahen Stadt Jõhvi wechselte. Zum ersten Mal in Estland fühlte sie sich fremd. Es war eine Übergangsklasse für russischsprachige Jugendliche, in der der Unterricht fast ausschließlich auf Estnisch stattfand. „Unsere Lehrerin schrie uns an, wenn wir Russisch sprachen. Die estnischen Schüler ignorierten uns. Selbst die Lehrer behandelten uns anders.“ Sie reagierte mit Engagement, spielte in einer Band und nahm an Schulprojekten teil.
Als Korinna im Herbst 2024 nach Narva zog, um Jugendarbeit zu studieren, fühlte sich das für sie wie eine Heimkehr an. Endlich war sie an einem Ort, an dem sie sich nicht entscheiden musste: zwischen Russisch und Estnisch. „In Narva habe ich meine Identität neu entdeckt – nicht nur als Russin, sondern als russischsprachige Estin.“
Heute unterstützt Korinna als Mitglied des Studierendenrats am Narva College Studierende aus Kasachstan, der Ukraine oder Israel dabei, Estnisch zu lernen und sich im Hochschulsystem sowie auf dem Arbeitsmarkt zurechtzufinden. „Weil ich selbst erlebt habe, wie schwer es ist, kann ich jetzt anderen helfen“, sagt sie.
Die Geschichte ihrer Familie erzählt zugleich die Geschichte Narvas – voller wechselnder Zugehörigkeiten: Während ihre Großmutter Putin glaubt und russisches Fernsehen schaut, fühlt sich Korinna selbst der russischen Kultur verbunden, liebt aber gleichzeitig estnische Traditionen wie das Liederfest Laulupidu. „Natürlich müssen wir Estnisch sprechen. Aber viele Politiker verstehen nicht, wie es russischsprachigen Jugendlichen wirklich geht“, kritisiert sie.
Was früher ein Spagat war, ist heute ihre Stärke. „Ich fühle mich nicht ganz estnisch. Und ich bin stolz darauf“, sagt sie. „Aber in Narva muss ich mich nicht verstecken. Ich kann Russisch sprechen – und trotzdem dazugehören.“
Wir sehen, welchen Einfluss sowjetische Geschichtsbücher hatten. Wenn dir 20 Jahre lang eine Version erzählt wurde – und plötzlich sagt dir jemand, das war alles eine Lüge – dann ist das schwer zu akzeptieren.“
Narvas junge Verteidiger*innen
Für Juri Kaleti war die Entscheidung schnell klar: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine stellte sich der 20-Jährige auf die Seite Estlands und trat als Zeichen seiner Überzeugung den Wehrdienst an.Geprägt wurde er von seinen Nachbarn Igor und Natalia Aal, einem Ehepaar, das vor zwölf Jahren aus dem russischen Iwangorod nach Narva zog. Die Aals luden Juri ein, sich den Noored Kotkad anzuschließen – der Jugendorganisation des militärischen Freiwilligenverbandes der estnischen Armee Kaitseliit. In Estland, einem Land mit etwas mehr als einer Million Einwohner*innen, stützt sich die Landesverteidigung stark auf Freiwillige. Doch in Narva, wo in den 1990er-Jahren viele Russischsprachige für Autonomie gestimmt hatten, ist die Organisation bis heute politisch umstritten.
„Russland hatte lange enormen Einfluss auf die Jugend“, sagt Natalia Aal, selbst russische Staatsbürgerin (obwohl sie in Narva geboren ist) und Tochter eines Rotarmisten. Auch sie lernt Estnisch und will ihren russischen Pass abgeben. „Wir wollen zum Wohl Estlands arbeiten“, ergänzt ihr Mann Igor. Gemeinsam mit Juri und ihrem eigenen Sohn gründeten sie Narvas erste Noored-Kotkad-Gruppe. Anfangs hagelte es Kritik. „Manche nannten uns Hitlerjugend“, erinnert sich Natalia. „Andere warfen Igor vor, er würde Esten nach Narva holen.“
Juri Kaleti war jahrelang Mitglied der Jugendorganisation des militärischen Freiwilligenverbandes der estnischen Armee Kaitseliit. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Vladislav Eglet, Jugendinstruktor bei Kaitseliit in Narva, unterrichtet Verteidigungs- und Staatsbürgerkunde an örtlichen Schulen. „Wir sehen, welchen Einfluss sowjetische Geschichtsbücher hatten“, sagt er. „Wenn dir 20 Jahre lang eine Version erzählt wurde – und plötzlich sagt dir jemand, das war alles eine Lüge – dann ist das schwer zu akzeptieren.“
Juri hat seinen Wehrdienst inzwischen abgeschlossen und möchte Offizier werden. Ein Hindernis bleibt: Er besitzt noch immer die doppelte Staatsbürgerschaft und wartet seit über zwei Jahren darauf, seinen russischen Pass abgeben zu dürfen.
Viele in Narva wissen gar nicht, was in Mariupol oder Bachmut geschehen ist.“
Die neue Generation des Wandels
Wegen des Krieges ist die „Freundschaftsbrücke“ nach Iwangorod heute für Autos gesperrt. Und obwohl viele Einwohner*innen Narvas, insbesondere die älteren, weiterhin nach Russland blicken und russischer Propaganda folgen, will tatsächlich niemand dorthin ziehen.Klar ist: Narva ist nicht länger eine isolierte „Insel“ am Rande Europas. Vor allem die Jüngeren treiben den Wandel voran, sagt Rektorin Aljona Kordonschuk. „Viele widersprechen heute ihren Eltern.“ Diskussionen am Abendbrottisch, Perspektivwechsel durch Auslandsreisen und ein neues Verständnis von Estland prägen die nächste Generation.
Daniil Kurakin, 26, ist einer von ihnen. Er betreibt einen russischsprachigen YouTube-Kanal, um Estland und seine Politik zu erklären und für Sprachintegration zu werben. Er sieht dies als seinen Weg, russischer Propaganda entgegenzuwirken. „Viele in Narva wissen gar nicht, was in Mariupol oder Bachmut geschehen ist“, sagt er. Am 9. Mai 2022 wurde er angegriffen, als er mit einer ukrainischen Fahne an der Narva-Promenade stand. „Ich wollte niemanden provozieren. Nur zeigen, wo ich stehe.“
Daniil kennt beide Welten. Er ging auf eine russische Schule und musste erst spät mühsam Estnisch lernen. Jetzt kämpft er dafür, dass es die nächste Generation leichter hat. „Ohne Sprache hast du keine Chance. Sonst landest du in schlechten Jobs.“
Daniil Kurakin (26) betreibt einen russischsprachigen YouTube-Kanal, um Estland und seine Politik zu erklären und für Sprachintegration zu werben. | Foto: © Isabelle de Pommereau
Wir haben keine weiteren 30 Jahre Zeit. Es ist unvermeidlich, dass es schwierig wird, weil wir mehr als 30 Jahre lang untätig waren.“
Die Zeit drängt
Viele Entscheidungen der Regierung, wie die Umstellung der Schulen auf estnischsprachigen Unterricht bis 2030, seien nicht einfach, aber notwendig, sagt Johanna Rannula, Leiterin der Narva Art Residency. Sie versteht die Frustration, die aus vereinfachten Fragen wie „Möchte Narva zu Russland gehören?“ entsteht und betont, dass nur wenige Einwohner*innen für Putin sind.„Viele fühlten sich verloren zwischen unterschiedlichen Systemen, Geschichtsversionen, Alltagssorgen und dem, was die Medien vermitteln“, erklärt sie. Unterstützung für das sowjetische Panzerdenkmal bedeute nicht zwangsläufig, den Krieg zu befürworten, sondern ein Symbol der persönlichen Geschichte zu verteidigen. Aus der Sicht vieler Einwohner*innen hat das Vorgehen des Staates bei der Entfernung des Denkmals das Vertrauen der Bevölkerung nicht gestärkt.
Dennoch ist Rannula überzeugt, dass es ein „notwendiges Übel“ für die Entwicklung des Systems ist. „Wir haben keine weiteren 30 Jahre Zeit“, sagt sie. „Es ist unvermeidlich, dass es schwierig wird, weil wir mehr als 30 Jahre lang untätig waren.“ Sie erkennt auch die politischen Herausforderungen an: „Jedes Mal, wenn Estland versucht, die russischsprachige Bevölkerung enger an die Gesellschaft zu binden, macht Russlands Präsident Putin daraus ein politisches Thema. Das erschwert den Fortschritt.“
Doch trotz allem steht Narva auf dem Radar – bei Politik, Militär und Kunst. „Der Fortschritt ist langsam, aber spürbar“, sagt Theatergründer Allan Kaldoja. Er rief noch kurz vor dem großangelegten Krieg das Festival für Freiheits-Theater Valbādus ins Leben. Der Name ist Programm: „Weil hier die freie Welt endet – und zugleich beginnt.“ Vom 15. bis 19. August 2025 fand das Festival zum vierten Mal statt. Künstler*innen aus Belarus, Kasachstan, Usbekistan und Tadschikistan haben Stücke vorgestellt, die oft in ihrer Heimat verboten sind. Valbādus ist kultureller Widerstand gegen Putin, ein Zeichen regionaler Solidarität und ein klares Bekenntnis zu Narvas Platz in Europa.
Lange definiert durch die Grenze, sucht Narva heute nach einem neuen Selbstbild: als Schnittstelle zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Schweigen und Sprechen. „Internationale Ereignisse müssen nicht nur in Tallinn stattfinden“, sagt Kaldoja. „Sondern auch hier. Damit die Menschen spüren, dass sie dazugehören.“ Denn: „Integration heißt nicht zu befehlen: ‚Jetzt müsst ihr Estnisch sprechen.‘ Integration heißt, gemeinsam etwas zu schaffen.“
Dieser Artikel wurde mit unseren Kolleg*innen vom estnisch-russischsprachigen Magazin Narvamus konsultiert und ko-produziert. Narvamus ist einer unserer Partner im Projekt PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
September 2025