Junge Erwachsene mit Behinderungen  Gezwungen, im Widerspruch mit sich selbst zu leben

Gezwungen, im Widerspruch mit sich selbst zu leben Foto: Alicia Robert-Tousignant via unsplash | CC0 1.0

Viele junge Menschen mit Behinderungen haben eine gegensätzliche Weltanschauung wie ihre Eltern. Doch weil der slowakische Staat sie nur unzureichend unterstützt, ist es für sie unmöglich, sich unabhängig zu machen. So haben sie tagtäglich mit Widersprüchlichkeiten zu kämpfen: Sie sehen oft keine andere Möglichkeit, als sich auf die unbezahlte Hilfe ihrer Familien zu verlassen, die jedoch oft deren Identität oder Vorstellungen von ihrem eigenen Leben nicht respektieren. Obwohl viele Menschen mit solchen Problemen konfrontiert sind, wird nur wenig bis gar nicht darüber gesprochen. Dies liegt auch an der sehr oberflächlichen gesellschaftlichen Vorstellung von den Bedürfnissen, die Menschen mit Behinderung und gesundheitlichen Beeinträchtigungen haben.

„Ich habe oft das Gefühl, ich sollte gar nicht hier leben, nicht in meiner Familie und nicht der Slowakei“, sagt Adam. Gerade Dreißig geworden, diktiert er in seinem bescheidenen Schlafzimmer den Text in eine Speech-To-Text-App. Dank dieser technischen Möglichkeit kann er mit seinen Online-Freunden kommunizieren, auch wenn seine Eltern bei geöffneter Tür im Nebenzimmer sitzen.

Adam ist nicht sein richtiger Name. Er fühlt sich so stark unter Druck gesetzt, dass er sich nicht traut, seine Geschichte unter seinem echten Namen zu erzählen. Das nicht funktionierende System der Unterstützung zwingt ihn nämlich dazu, bei seiner Familie zu leben, die ihn spüren lässt, dass er eine Belastung ist und die ihn für unfähig hält, selbst über sein Leben zu entscheiden. „Abgesehen davon, dass ich mich als Mensch mit Behinderung identifiziere, bin ich auch schwul“, erklärt er als Grund für die Haltung seiner Familie.

Adam ist nur einer von vielen Bürgerinnen und Bürgern mit Behinderungen in der Slowakei, die ähnliche Geschichten erzählen können.

„Ich musste vor meinem Vater die Flucht ergreifen“, erzählt Beata, die seit einiger Zeit im Ausland studiert und arbeitet. Auf Grund eines Unfalls ist ihre Motorik beeinträchtigt, aber sie kann selbstständig leben. „Wir haben immerzu gestritten, er machte mich runter, weil ich aussehe, wie ich eben aussehe, und hat mich und meine Geschwister beklaut. Wir mussten außerdem unsere queeren Identitäten vor ihm verheimlichen, weil wir Angst vor physischer Gewalt hatten.“

Mit Ablehnung durch die Familie hat auch Daniel Erfahrungen gemacht. Für den Mindestlohn arbeitet er in einem Geschäft und absolviert nebenher ein Hochschulstudium. „Wegen einer Degeneration der Bandscheiben bin ich in meiner Beweglichkeit eingeschränkt und habe chronische Schmerzen. Außerdem habe ich auch ADHS, Autismus und Depressionen. Aber meine Eltern wollten ein gesundes, normales und vorzeigbares Kind. Sie missachten meine Bedürfnisse, zwingen mich zu Dingen, die meinen Bedürfnissen entgegenstehen, wodurch sie mir auch noch eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) beschert haben.“

Erika ist Künstlerin – sie malt, schreibt Prosa und Lyrik. Sie hat eine neuromuskuläre Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Deshalb verbringt sie die meiste Zeit ihres Lebens im Bett und braucht ständige Betreuung. „Meine Eltern haben psychische Probleme, aber typisch alte Schule weigern sie sich, zuzugeben, dass es so etwas gibt – alle Patienten dieser Art sind für sie minderwertig und sie meinen, man sollte solche Leute entmündigen. Weil mein Vater seine Probleme unterdrückt, hat er uns gegenüber eine emotional sehr gewalttätige Beziehung. Darüber hinaus haben schon viele meiner Assistentinnen wegen des Auftretens meiner Mutter gekündigt. Sie meinten, wenn meine Mutter sich raushalten würde, würden sie gerne weiter mit mir arbeiten. Meine Eltern schaden so nicht nur meinen zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Zugang bezüglich der Fürsorge. Ich habe eine lehrbuchmäßige PTBS und eine Zwangserkrankung und sie hindern mich daran, Hilfe zu suchen.“
Aufgrund der Unzulänglichkeit des slowakischen Unterstützungssystems sind Menschen mit Behinderungen gezwungen, ein Leben zu führen, das im Widerspruch zu ihrem Wesen, ihren Werten, Neigungen und Vorlieben steht.
Dies sind nur vier der drastischsten Geschichten meiner Recherche. Ich habe sie deshalb gemacht, weil ich in der Community der Menschen mit Behinderungen in der Slowakei seit langem einen Konsens beobachte, dass (uns) allen ein gewisses Maß an mehr Selbstbestimmung fehlt.

Mit sich selbst im Widerspruch leben

Behinderte Einwohnerinnen und Einwohner der Slowakei müssen viel mehr Kraft dafür aufwenden, zu überleben oder sich ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu bewahren, obwohl sie auf Grund ihres Gesundheitszustandes wesentlich weniger tägliche Energie zur Verfügung haben als der Rest der Bevölkerung. Die Community wird vor allem durch ihre Isolation vom Rest der Gesellschaft zusammengeschweißt. Diese Isolation erleben die Betroffenen, obwohl sie selbst offen sind gegenüber den unterschiedlichsten Menschen, weil sie selbst sich in ihren ungewöhnlichsten Körpern ganz neue Möglichkeiten des Alltagslebens aufbauen mussten. Auf Grund der Unzulänglichkeit des slowakischen Unterstützungssystems sind Menschen mit Behinderungen gezwungen, ein Leben zu führen, das im Widerspruch zu ihrem Wesen, ihren Werten, Neigungen und Vorlieben steht. Sie bezeichnen sich deshalb selbst oft als lebende Antagonismen.

In unserer Community sind diese Tatsachen so selbstverständlich wie das Bewusstsein, dass slowakische Politikerinnen und Politiker versuchen, ihre Wählerschaft mit Fotos in Trachten zu beeindrucken, anstatt die öffentlichen Dienstleistungen für die Bevölkerung des Landes zu verbessern. Die Ironie dabei ist, dass Menschen mit Behinderungen, die gerade in diesen „Trachtengegenden“ – also auf dem Land – leben, deutlich schlechtere Lebensbedingungen haben als diejenigen, die in der Stadt leben. Dabei ist die Messlatte selbst in den Städten so niedrig, dass sie beinahe den Erdkern berührt.

Die Widersprüchlichkeiten bestehen jedoch nicht nur zwischen ihrem Inneren und den unmenschlichen Lebensbedingungen in ihrem Staat. Was passiert, wenn sie feststellen müssen, dass sie ganz grundsätzlich gerade mit den Menschen nicht einer Meinung sind, von denen jede ihrer Bewegungen, die Nahrungsaufnahme, die Linderung von Schmerzen oder die Möglichkeit, die Welt außerhalb ihrer vier Wände zu erkunden, abhängt?

Für die dreißig von mir Befragten ist das kein fiktives Katastrophenszenario, sondern eine Realität, die Angst erzeugt. Alle äußerten sich dahingehend, dass sie mit den Mitgliedern ihres Haushalts weder in politischen Fragen noch bezüglich Menschenrechtsthemen gleicher Ansicht sind – zum Beispiel was Minderheiten betrifft, wie man sich zwischenmenschliche Beziehungen vorstellt, aber auch bezüglich beruflicher Wünsche, Hobbys, Lebens- und Wertvorstellungen. Ja, nicht einmal in der Frage, wie sie selbst gepflegt werden sollten. Fast ein Drittel der Befragten gab an, dass diese Meinungsverschiedenheiten mit den Mitgliedern des eigenen Haushalts zu den Hauptgründen gehören, warum sie sich mehr Unabhängigkeit wünschen.

Die Befragten waren ausschließlich Erwachsene. Am häufigsten waren sie von frühkindlicher Hirnschädigung (infantile Zerebralparese) betroffen – je nachdem, welcher Teil ihres Gehirns bei der Geburt nicht mit Sauerstoff versorgt wurde, haben einige von ihnen motorische Einschränkungen beim Laufen und andere sind querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen.

Andere Befragte haben neuromuskuläre Erkrankungen, wegen derer sie einen Rollstuhl verwenden oder liegen müssen. Für den Fall, dass es keine Therapie gibt oder der Staat diese nicht genehmigt, sind die Erkrankungen progredient, das heißt sie werden fortschreitend schwerer. 28 meiner dreißig Respondent*innen gehen davon aus, dass sie eines Tages eine 24/7 Betreuung benötigen werden.

Eine der Befragten ist blind und hat weitere mentale Behinderungen, sodass ihr Vater ihr mit ihrem Einverständnis bei den Antworten geholfen hat. Alle Antworten wurden anonym erfasst, ebenso wie die persönlichen Geschichten und Erlebnisse.
Was passiert, wenn Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen feststellen müssen, dass sie ganz grundsätzlich gerade mit den Menschen nicht einer Meinung sind, von denen jede ihrer Bewegungen, die Nahrungsaufnahme, die Linderung von Schmerzen oder die Möglichkeit, die Welt außerhalb ihrer vier Wände zu erkunden, abhängt?
Bereits bei der Kategorisierung nach Haushaltstyp zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen denjenigen, die in der Stadt leben, und denen auf dem Land. 40 Prozent der Befragten aus ländlichen Gebieten gaben an, bei ihren Eltern zu leben. Bei den Befragten aus Städten nur 31,8 Prozent. Zusammen mit einem Partner oder einer Partnerin leben 30 Prozent der Befragten aus ländlichen Gebieten und 13,6 Prozent der Befragten aus Städten. Bis zu 40,9 Prozent der in einer Stadt Wohnenden leben allein, während dies in ländlichen Gebieten niemand tut. Der Rest der Befragten wohnt mit persönlichen Assistenzpersonen, Pflegekräften oder anderen Angehörigen zusammen.

Probleme bei der Zuerkennung von Assistenzstunden

Wenn Menschen mit Behinderungen auf dem slowakischen Land unabhängig leben wollen, ist das kompliziert bis unmöglich. Diese schwierigen Bedingungen hindern auch Adam daran, selbstbestimmt zu leben, obwohl das sein größter Wunsch ist. Er kann sich jedoch nicht vorstellen, dass dieser Wunsch sich jemals erfüllt. Das Unterstützungssystem hindert ihn unmittelbar daran, unabhängig zu werden. Und das gilt bei Weitem nicht nur für ihn. Die kollektive Erfahrung meiner Befragten ist nämlich folgende: Die meisten Menschen mit Behinderungen haben ihre motorischen oder sensorischen Fähigkeiten verloren, entweder bereits durch die Umstände ihrer Geburt oder auf Grund eines Unfalls. Es mag überraschen, dass das die Betroffenen nicht sonderlich behindern müsste, denn eigentlich gibt es etablierte Systeme, die jede Funktion effektiv kompensieren können. Man beantragt also eine persönliche Assistenz. Aber dann sagt ein Mensch vom Amt, dass man etwa die Hälfte bis drei Viertel seines Lebens aufgeben müsse.

Nicht, weil der eigene Gesundheitszustand einen so sehr einschränken würde. Sondern weil dieser Mensch vom Amt ausgerechnet hat, dass man diese Hälfte seines Lebens, einschließlich der grundlegenden körperlichen Bedürfnisse, ganz einfach nicht unbedingt bräuchte. Es ist tatsächlich so, dass laut Gesetz einfach so über Menschen mit Behinderung entschieden werden kann, ungeachtet dessen, was die betroffene Person selbst im Rahmen des Begutachtungsverfahrens äußert.

Die Stunden der persönlichen Assistenz werden nämlich nicht auf Grundlage der Aussagen der Nutzerinnen und Nutzer berechnet und schon gar nicht entsprechend den persönlichen Hintergründen, Fotos oder Videos als Nachweis für die Bedürfnisse des Einzelnen, dessen Arbeits- und Sozialleben. Die Entscheidung soll nur auf Grundlage einer kurzen Untersuchung durch einen völlig fremden Arzt oder eine Ärztin und anhand einer Liste getroffen werden, die vom Amt für Arbeit, Soziales und Familie generalisiert für alle Diagnosen, von Lähmungen über Sehbehinderungen bis hin zu Autismus, erstellt wurde. Laut Gesetz benötigen alle Betroffenen genau die gleichen persönlichen Assistenzleistungen, und so berücksichtigt das Gesetz in Wirklichkeit niemandes Bedürfnisse.

Bis zu einem Drittel meiner Befragten aus ländlichen Gebieten hat mit den Folgen dieses Gesetzes zu kämpfen. An heißen Tagen können sie nicht einfach zum See oder ins klimatisierte Kino gehen, da die ihnen bewilligten Stunden weniger als die Hälfte ihres Bedarfs decken. Wenn sie sich entscheiden müssen, ob sie mit ihrer Assistentin oder ihrem Assistenten einer Freizeitaktivität nachgehen oder mit der Assistenz die notwendige Unterstützung bei der Arbeit und einem Arztbesuch abdecken, ist die Wahl klar.

Für Adam und Gabriela deckt die ihnen bewilligte Assistenz weniger als 20 Prozent ihres Bedarfs ab – sie haben überhaupt keine Wahl. Obwohl der offizielle Zweck der persönlichen Assistenz darin besteht, den Betroffenen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, können mit den wenigen Stunden pro Tag meist nur grundlegende Dinge des täglichen Lebens abgedeckt werden. Menschen mit Behinderungen sollen sich einfach damit zufriedengeben, dass sie essen, die Toilette benutzen und sich waschen können.

Für Ivan ist es ein Hindernis, dass außerhalb der Hauptstadt Anträge nicht auf digitalem Wege bei Behörden eingereicht werden können. Deshalb ist er auf die Hilfe seiner Eltern angewiesen, um eine persönliche Assistenz zu beantragen. Seine Eltern sind jedoch grundsätzlich dagegen, dass sich eine fremde Person um ihn kümmert. Realistisch gesehen bräuchte er also eine persönliche Assistenz, um eben diese persönliche Assistenz beantragen zu können. Auch Menschen, die ihre Eltern oder betreuende Personen verloren haben, haben den gleichen behördlichen Aufwand zu bewältigen.

Die Ironie an der Sache ist: Für den Rest der Gesellschaft sind Selbstständigkeit und Selbstbestimmung absolut selbstverständlich, und im Gegenteil wird mit dem Finger auf Menschen gezeigt, die dies bis zu einem bestimmten Alter nicht erreicht haben. Wenn in der Slowakei jedoch ein Mensch mit Behinderung unabhängig werden möchte, sollte er stattdessen dankbar sein, dass seine Eltern sich bis an ihr Lebensende um ihn kümmern werden. Eine Lebensweise, die für die eine Gruppe als peinlich gilt, soll für eine andere Gruppe, in dem Fall für Menschen mit Behinderung, nun also das Beste sein, was sie zugestanden bekommen.

Auch ich kenne Ähnliches aus eigener Erfahrung. Nach acht Monaten Berufungsverfahren an der Seite meiner Anwältin wurden mir 15 Stunden Assistenz pro Tag bewilligt, obwohl ich Anspruch auf 20 Stunden hätte und dringend eine 24/7-Betreuung benötigen würde. Stattdessen hat man mir nahegelegt, dass ich doch dankbar sein sollte, weil ich schließlich diejenige bin, die im gesamten Bezirk Nitra angeblich die meisten Stunden Assistenz erhält. Ja, natürlich bin ich sehr dankbar dafür, dass ich während der restlichen neun Stunden des Tages ohne meine Eltern in Zukunft kaum mehr Luft bekommen werden, Schmerzen erleiden muss, dass mein Kopf jucken wird, ich nicht auf die Toilette gehen kann und niemand da sein wird, den ich um Hilfe rufen kann. Vielen Dank dafür, dass so das bestmögliche Szenario für eine gesundheitlich benachteiligte Einwohnerin der Slowakei aussehen soll.

„Auch heutzutage wird immer noch oft vergessen, dass Menschen mit Behinderungen auch Menschen sind und als solche behandelt werden wollen“, fährt Adam fort. „Die Gesellschaft ignoriert, dass wir uns, wie alle anderen auch, entwickeln und individuelle Bedürfnisse haben und nicht jedes Bedürfnis nur mit unserem Gesundheitszustand zusammenhängen muss.“

Teilweise barrierefrei

Seine Aussage unterstreicht den akuten Mangel an Barrierefreiheit in der Slowakei. Dazu zählen Zugänge für Rollstuhlfahrer*innen, aber auch beispielsweise Hinweise für Blinde und Gehörlose sowie Räume, die sensorisch reizärmer sind und die Sinne nicht so stark beanspruchen. Solche Barrieren hindern jede*n einzelne*n Befragte*n gerade aus ländlichen Gebieten daran, öffentliche Orte selbstbestimmt aufzusuchen.

Auch die aus der Stadt können bei der Vorstellung, dass es in ihrem Heimatland möglich sein könnte, sich angstfrei überall zu bewegen, und sei es bloß, um Lebensmittel einzukaufen, nur müde lächeln. „Ich kann nicht alles sehen und bin auf die Hilfe von Fremden angewiesen. Wenn ich mir einer Information nicht sicher bin, verzichte ich lieber darauf, ein Lebensmittel zu kaufen“, schrieb Helena, die ebenfalls an meiner Umfrage teilgenommen hat.
Die Ironie an der Sache ist: Für den Rest der Gesellschaft sind Selbstständigkeit und Selbstbestimmung absolut selbstverständlich, und im Gegenteil wird mit dem Finger auf Menschen gezeigt, die dies bis zu einem bestimmten Alter nicht erreicht haben. Wenn in der Slowakei jedoch ein Mensch mit Behinderung unabhängig werden möchte, sollte er stattdessen dankbar sein, dass seine Eltern sich bis an ihr Lebensende um ihn kümmern werden.
Ähnliche Erfahrungen machten auch Menschen im Rollstuhl. Die meisten der in einer Stadt lebenden Befragten gaben an, dass die Barrierefreiheit für sie zu etwa 70 Prozent zufriedenstellend ist. Dank des zunehmenden Engagements für Barrierefreiheit halten viele Eigentümerinnen und Eigentümer von öffentlich zugänglichen Orten das Wort „Barrieren“ inzwischen für unerwünscht. Stattdessen haben sie sich eine ihrer Meinung nach korrekte Aussage überlegt: „Es handelt sich um ein teilweise barrierefreies Gebäude.“ Es ist zwar schön, wenn in 70 Prozent des Gebäudes Rampen und Aufzüge verfügbar sind, wenn die Rollstuhlnutzenden dann aber auf zu schmale Türen stoßen, kann das Gebäude nicht als barrierefrei bezeichnet werden. Hier gilt die gleiche Logik wie bei Sätzen à la „Ich habe mir wieder mal ein bisschen Buch gekauft“. Entweder ganz oder gar nicht.

Nachdem also ein Mensch vom Amt einem Menschen mit Behinderung einen wesentlichen Teil seiner oder ihres Lebens genommen hat, gewährleistet der Staat nicht einmal angemessenen Zugang zu öffentlichen Orten. Bei der Auswertung der Befragung erstreckte sich die Spanne der öffentlichen Orte, die als nicht zugänglich eingestuft wurden, von einem Drittel bis hin zu sämtlichen Orten (in bestimmten Regionen). Das liegt daran, dass der Staat Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention zur Barrierefreiheit und Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen nicht respektiert – als hätten die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen nicht mehr Gewicht als ein Buch, das die Parlamentarier nur beiläufig hervorholen, wenn sie eine feste Unterlage zum Unterzeichnen ihrer lebenslangen Renten brauchen.

In der Slowakei gibt es unabhängig vom Wohnort auch große Probleme, die alle betreffen: die mangelnde Verfügbarkeit von Hilfsmitteln oder Assistenztieren sowie die eingeschränkte Möglichkeit, die Tiere überallhin mitzunehmen, der mangelhafte Zugang zu Gesundheitsversorgung, Physiotherapie oder Pflege sowie die allgemeine Ablehnung der Anpassungen von Arbeitsplätzen, zum Beispiel durch eine Arbeitsassistenz oder der Rücksichtnahme auf die Einschränkungen bei physischen und psychischen Diagnosen. Nicht nur, dass die Slowakei versagt, ihre behinderten und gesundheitlich benachteiligten Bürgerinnen und Bürger adäquat zu unterstützen, darüber hinaus haben Menschen, die arbeiten und sich selbst versorgen wollen, oft gar keine Möglichkeit das zu tun.

Laut Wirtschaftsbericht der Sozialversicherung von 2024 beträgt die durchschnittliche Vollinvaliditätsrente 545,52 Euro. Die durchschnittliche Teilinvaliditätsrente erreicht nur 300,76 Euro. Das Portal TREND Realityberichtet, dass die durchschnittliche Miete in der Slowakei derzeit etwa 727 Euro beträgt. Wenn gesundheitlich beeinträchtige Menschen der Slowakei also keine angemessene Unterstützung bei der eigenen Erwerbstätigkeit erhalten, ihre Invaliditätsrente aber kaum die Hälfte der Miete abdeckt, befinden sie sich in einer ausweglosen Situation.

Meinungsverschiedenheiten im gemeinsamen Haushalt

Die Umfrage ergab ebenfalls, dass die Mehrheit der Teilnehmenden die Ignoranz seitens der Gesellschaft bemängelt: „Ich werde als Gesundheitsproblem behandelt, nicht als Individuum mit einer eigenen Persönlichkeit.“ „Die Menschen lehnen es ab, uns in die Gesellschaft zu integrieren.“ „Wir werden als Belastung empfunden.“ „Die Politikerinnen und Politiker haben nicht den Willen, uns zu helfen.“ Dies sind nur einige der vielen Aussagen der Befragten, aber allen gemein ist das Gefühl, vernachlässigt und ignoriert zu werden. Das System verweigert ihnen die Erfüllung grundlegender körperlicher Bedürfnisse, die Möglichkeit einer Karriere und eines sozialen Lebens. Doch das scheint die dafür Zuständigen nicht zu interessieren, und auch viele der persönlichen Kontakte und Bekannten der Befragten tun so, als hätten sie von diesen Problemen nie gehört.

Mehr als die Hälfte der Befragten hat es trotz des unzureichenden Unterstützungssystems geschafft, unabhängig zu werden. Jedoch gaben lediglich die in der Stadt lebenden an, ihre Lebensqualität habe sich verbessert oder sei mindestens gleichgeblieben. Die aus ländlichen Gebieten waren mehrheitlich der Ansicht, ihr Leben sei nach der Unabhängigkeit schwieriger geworden. Sie mussten sich also zwischen zwei Möglichkeiten entscheiden: nach den eigenen Vorstellungen oder mit weniger Anstrengung zu leben.

Dabei sollte das Gefühl, zu Hause sicher zu sein, sich frei bewegen zu können und seine Identität und Meinung zum Ausdruck zu bringen absolut grundlegende Menschenrechte sein. In der Slowakei ist das für Menschen mit Behinderungen jedoch offensichtlich nicht selbstverständlich. Keine*r der dreißig Befragten, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, hatte auch nur annähernd das Gefühl, seine oder ihre Grundbedürfnisse erfüllen zu können, ohne auf die Hilfe von Menschen angewiesen zu sein, bei denen sie sich nicht sicher fühlen und vor denen sie nicht sie selbst sein können.

Die meisten der Befragten sehen sich in einer Situation gefangen, in der sie ihre Zukunft nicht verbringen wollen und mit Menschen, mit denen sie nicht tagtäglich zusammenleben möchten. Bedenkt man, dass dies lediglich die Erfahrungsberichte von dreißig Befragten sind, kann man sich vorzustellen, welch alarmierende Situationen sich im Leben von Menschen mit Behinderung in der gesamten Slowakei tagtäglich abspielen. Denn laut Statistischem Amt der Slowakischen Republik hatten im Jahr 2024 rund 31,8 Prozent der slowakischen Bevölkerung über 16 Jahren einen Grad der Behinderung. Dass Menschen mit Behinderung dazu genötigt sind oder werden, entgegen der Vorstellung von dem zu leben, was sich für sie richtig anfühlt, muss endlich aufhören. Nicht nur für diejenigen, die es sich leisten können, in teureren Gegenden zu wohnen. Und nicht nur für die, die mit den Menschen in ihrem Haushalt Glück haben. Es ist unerlässlich, das System so zu verändern, dass es ausnahmslos jeder und jedem Selbstbestimmung und Freiheit ermöglicht.

Perspectives_Logo Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES

Das könnte auch von Interesse sein

Empfehlungen der Redaktion

Meistgelesen