Es gibt Geschichten, die sich leise entfalten – jenseits großer Bühnen, abseits medialer Aufmerksamkeit. Eine davon spielt in Brandenburg, dem ostdeutschen Bundesland rund um Berlin. Eine Region, die in politischen Debatten als „Problemzone“ gilt, mit hohen Wahlergebnissen der laut Verfassungsschutz gesichert rechtsextremen AfD und schrumpfenden Gemeinden in abgehängten Landstrichen. Und doch ist es genau hier, wo die evangelische Kirche von jungen Frauen im Pfarramt geprägt wird – und mit ihr das soziale Gefüge vieler Dörfer.
Kreativ, kämpferisch, konsequent
Meine Rolle ist, vorsichtig Türen zu öffnen. Manchmal auch, sie laut aufzustoßen.“
Ihre Biografie ist geprägt von Wendepunkten. Aufgewachsen im 3.700-Einwohner-Ort Neuseddin, ließ sie sich erst mit 28 Jahren taufen. Zuvor hatte die gelernte Kosmetikerin als Bürokauffrau und Event-Managerin gearbeitet. Über ein Studium der theologischen Pädagogik fand die dreifache Mutter schließlich ihren Weg in die Kirche. Heute ist sie Gemeindepfarrerin in Treuenbrietzen und bezeichnet sich immer noch als Bikerin, Tattoo- und Make-Up-Liebhaberin, Heavy-Metal-Fan und im Herzen ein Punk.
Simone Lippmann-Marsch | Foto: © privat
In ihren Predigten bleibt sie nahbar, direkt, manchmal unbequem. Sie meidet Floskeln, stellt Fragen, benennt Missstände. Ob Homophobie, Rechtsextremismus oder Ausgrenzung – Lippmann-Marsch schweigt nicht. „Wenn Parteien anfangen, Menschenwürde zur Verhandlungsmasse zu machen, dann ist Kirche gefragt. Wer da schweigt, macht sich mitschuldig.“
Auch in ihrer eigenen Institution stößt sie damit nicht nur auf Zustimmung. „Gerade innerhalb der Kirche gibt es oft mehr Abwehr gegen Neues als auf der Straße.“ Trotzdem bleibt sie beharrlich: „Ich sage, was ich denke. Ich glaube nicht an die Strategie des stillen Beobachtens.“ Für manche Pfarrerkolleg*innen ist sie Inspiration, andere finden sie zu auffällig und zu laut. „Ich versuche nicht, es allen recht zu machen. Kirche ist kein Dienstleistungsbetrieb. Ich will keine Alternative zur Kirche sein. Ich will zeigen, was Kirche noch sein kann.“
Sie versteht ihre Arbeit als Seelsorge mit politischer Verantwortung. Und sie erlebt, dass ihre unkonventionellen Wege wirken. Menschen, die sich von der Kirche abgewendet hatten, kommen zurück – nicht aus Tradition, sondern aus echtem Interesse. „Ich hatte schon Geflüchtete, queere Paare, Motorradfahrer mit AfD-Aufkleber auf dem Helm – alle unter einem Kreuz.“ Für sie ist klar: „Ich nehme niemandem das Recht, da zu sein. Aber ich nehme mir das Recht, Dinge beim Namen zu nennen.“
Gerade junge Menschen reagieren sensibel auf Ausweichverhalten der Kirche. „Die merken sehr genau, wenn wir uns in Floskeln retten. Und sie fragen zurecht: Warum redet ihr nicht über das, was uns beschäftigt?“
Auch wenn sie nicht glaubt, die Welt zu verändern – kleine Verschiebungen sind möglich: „Ich kann Räume schaffen, in denen etwas anfängt. Ein Gespräch. Ein Perspektivwechsel. Eine kleine Kehrtwende. Manchmal ist das genug.“
Ihr Vorbild ist Jesus. „Er hat auf Bergen, Booten und in Häusern gepredigt – nicht in Palästen. Er hat nicht mit Systemen verhandelt, sondern mit Menschen gesprochen.“ Für Lippmann-Marsch bedeutet das: Kirche ist da, wo Menschen sind. Auch mitten im Techno-Club.
Die Rückmeldungen bestärken sie. Viele sagen, dass sie sich zum ersten Mal wirklich gemeint fühlen. Besonders berührt ist sie von denen, die aus der Kirche ausgetreten waren – und durch ihre Arbeit wieder Anschluss finden. „Dann weiß ich, warum ich das mache.“
Reflektiert, relational, realistisch
Manche erwarten, dass durch mich der große Aufschwung kommt. Das ist ein schöner Gedanke, aber auch Druck.“
Sie ist neu im Amt, neu in Brandenburg, und spürt deutlich, wie unterschiedlich die Erwartungen an Kirche hier sind. „Was ich aus Berlin kenne – Vielfalt, Sichtbarkeit, Engagement – das kommt hier nicht automatisch gut an“, vergleicht sie.
Marula Richter | Foto: © Ulrike Butmaloiu
Sie spürt: Viele Gemeindemitglieder hoffen auf neuen Schwung durch ihr Amt, aber manche begegnen ihr auch mit Skepsis wegen ihres Alters, ihrer Herkunft oder weil sie ein anderes Bild von Kirche verkörpert als das, was ihnen jahrzehntelang vertraut war. Gerade in ländlichen Gegenden war das klassische Pfarramt darauf angelegt, dass sich auch die Frau des Pfarrers als nette Seele an der Seite ihres Mannes um die Gläubigen kümmert. „Sie hat Kuchen gebacken und Händchen gehalten“, so wie die Frau ihres Vorgängers, der hier 20 Jahre durchgehend im Dienst war. „Dass ich das nicht leisten kann, hat mir zu Beginn Sorge bereitet“, schaut die 33-Jährige zurück.
Umso wichtiger ist ihr die Präsenz, etwa auf Dorffesten, bei Geburtstagen oder in Kitas. Sie sucht den Kontakt und versucht, auch jene zu erreichen, die dem Glauben fernstehen: „Ich verstehe mich nicht nur als Pfarrerin meiner Gemeindeglieder, sondern des ganzen Ortes.“ Das wird gesehen und geschätzt, besonders von Menschen, die sich sonst eher isoliert fühlen.
Sie will ihre Gemeinde als einen offenen Ort gestalten, und sie zeigt Haltung: „Kirche kann nicht anders, als sich politisch zu äußern. Wir sind ja Kirche in der Welt.“ Ihre Predigten sind niedrigschwellig, ihre Themen lebensnah. Sie wägt sorgfältig ab, wie direkt sie politische Positionen benennt. Gerade in Fragen von Rassismus, Flucht oder gesellschaftlicher Teilhabe bleibt sie deutlich. „Ich will Gespräche offenhalten, auch mit Menschen, die AfD wählen. Aber ich nenne auch klar, wofür ich stehe.“ Auch wenn sie Widerstände spürt. „Ich habe eine klare Haltung gegen Rassismus und spreche mich für Flüchtlinge aus. Das finden nicht alle gut.“
Der Alltag im Pfarrdienst bringt Herausforderungen, er ist ein Balanceakt zwischen Rücksichtnahme und Klarheit, zwischen Dorftradition und Großstadtherkunft. Manchmal bekommt sie abwertende Sprüche, etwa, als sie im Talar eine Trauergemeinde am Friedhofstor begrüßte. Da sagte ein Mann zu ihr: „Und welche Maus bist du?“. Und nach dem Weihnachtsgottesdienst meinte einer, es passe nicht, wenn so ein „junges Ding“ den Segen spende. Doch das sei extrem und eine Ausnahme geblieben, sagt Richter, aber es zeige, wie sehr sich manche noch an alte Rollenmuster klammerten.
Ihre Biographie machte es ihr nicht immer leicht, sich in das Leben der Menschen einzufinden, etwa, wenn sie für Beerdigungen mit den Verwandten der Verstorbenen sprach. „Da kannte ich Abkürzungen, wie LPG, nicht und musste erstmal googeln.“ Das sei ihr peinlich gewesen. [LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft bezeichnete in der DDR ein Zwangskollektiv zur gemeinschaftlichen Agrarproduktion. Anm. d. Red.] „Da habe ich gemerkt, dass ich einer anderen Generation angehöre. Und wie westdeutsch ich eigentlich bin.“
Im Gemeindekirchenrat ist Marula Richter mit Abstand die Jüngste. Doch das schafft auch Optimismus. „Die Leute sagen, weil ich da bin, gibt es wieder Aufschwung. Das baut in einer Zeit, in der wir immer weniger Mitglieder haben und um den Erhalt der Dorfkirchen und deren Finanzierung kämpfen, einen hohen Druck auf mich auf.“
Richter will eine Kirche gestalten, die offen ist für die Vielfalt der Lebensentwürfe, für Zweifel und Neugier. „Ich sehe Kirche nicht als Ort der Abgrenzung, sondern als Raum, der in die Welt führt. Wir sind ein Netzwerk – keine Insel.“ Sie versteht sich als Brückenbauerin und meidet moralisierende Töne, auch in politischen Fragen. „Ich mache keine Tagespolitik von der Kanzel. Aber wenn Menschenwürde bedroht ist, dann kann ich nicht schweigen.“
Konsequent, kommunikativ, kontextstark
Wir Pfarrerinnen sind ein kleiner Player. Aber ein wichtiger.“
Sie ist in Brandenburg geboren und kennt das: „Seit ich denken kann, bin ich Christin in der Diaspora. Wir waren immer nur wenige. So bin ich aufgewachsen. Für mich ist das normal.“ Ihre Mutter wurde wegen ihres Glaubens in der DDR-Schule ausgelacht, dennoch blieb sie der Kirche treu.
Diese Erfahrungen machen Juliane Rumpel sensibel, aber nicht empfindlich. Sie weiß, dass hier nichts selbstverständlich ist: nicht der Kirchenstand auf dem Weihnachtsmarkt, nicht das Grußwort der Pfarrerin bei Dorfveranstaltungen, nicht einmal die Sichtbarkeit der Kirche selbst.
„Vielleicht ist das unser Geheimnis: Wir nehmen uns nicht so wichtig“, sagt sie fast beiläufig. Dabei ist es diese Haltung, die ihre Gemeinde trägt: Eine Mischung aus Selbstironie, Demut und Gestaltungswille. Und vielleicht auch der Stolz, etwas zu bewahren, was sonst gerade verloren geht: Gesprächsfähigkeit.
Von Anfang an war ihr wichtig, dass ihre Kirche nicht nur intern funktioniert, sondern auch nach außen wirkt. So engagiert sie sich in dem lokalen Bündnis „Michendorf bekennt Farbe“, das sich für Geflüchtete und ein demokratisches Miteinander einsetzt. Sie bedauert, dass ihre Kirchengemeinde die einzige aus der Gegend ist, die dieses zivilgesellschaftliche Engagement offiziell mitträgt. „Das ist keine politische Bewegung, das ist eine menschliche“, sagt sie. „Es ist unsere christliche Pflicht, zu zeigen, dass wir als Kirche genau dafür eintreten.“
Deshalb engagiert sie sich und lebt ein Christentum, das einlädt, nicht abgrenzt: „Wir werden ernst genommen, wenn wir nicht missionieren, sondern zuhören“, sagt sie. „Dabei geht es mir genauso um die 85-jährige Nachbarin, die zu Hause sitzt und einsam ist, wie um die Frau aus Kamerun, die mit ihrem Kind hier angelandet ist.“
Ihre Haltung ist klar: „Ich bin keine politische Predigerin“, betont sie. „Aber wenn es um Menschenwürde, Gerechtigkeit, Respekt geht, dann schweige ich nicht.“
Juliane Rumpel | Foto: © Ulrike Butmaloiu
Ihre Antwort ist Empathie und die Wertschätzung von Unterschieden: „Man kann auch konservativer Christ sein. Das ist in Ordnung. Da müssen wir als Kirche pluraler werden, ohne uns selbst zu verleugnen.“
Die Entscheidung der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) von 2023, sich öffentlich von der AfD zu distanzieren, begrüßt sie, auch wenn sie weiß, dass das nicht überall gut ankommt.
In ihren Predigten stellt sie Fragen, statt Antworten zu diktieren: „Wie können wir als Christen leben, miteinander und füreinander?“ Rumpels Gemeinde lebt von dieser Haltung. Ihr Gemeindekirchenrat ist ein Spiegel der Vielfalt: Ost und West, jung und alt, progressiv und konservativ.
Auch in der Pandemie blieb sie präsent. Als Gottesdienste nur noch draußen erlaubt waren, wurden sie zum sozialen Anker. „Wir waren wie ein Waldkindergarten für Erwachsene“, erinnert sich Juliane Rumpel. Bei Wind und Wetter kamen die Menschen, auch die, die sich innerlich längst von der Kirche entfernt hatten. „Das war Kirche, wie sie früher war: einer der wenigen Orte zum gemeinsamen Singen, Beten und Miteinandersein.“
„Ich will, dass Menschen sehen, dass es guttun kann, an Gott zu glauben.“ Dabei bleibt sie stets offen für Veränderungen und sensibel für die Brüche. Juliane Rumpel zeigt: Es braucht keine großen Gesten, um gesellschaftlich wirksam zu sein. Es braucht Haltung, Präsenz und das Vertrauen darauf, dass Zuhören manchmal mehr verändert als jedes Plakat.
Vielseitig, verbindlich, verlässlich
Hier lebt Kirche von den kleinen Kreisen, in denen Menschen sich etwas trauen zu sagen – und gehört werden.“
Nach dem Studium stand sie vor der Wahl: Probedienst in Berlin-Neukölln oder im ländlichen Brandenburg. Schnell war die Entscheidung für das Pfarrhaus in Stücken gefällt. Sie zog mit ihrem Mann und den drei Kindern dorthin. Eine westdeutsche Frau mit akademischer Ausbildung im ländlichen Osten, einem konservativen Raum, in einer Kirche mit schwachem Rückhalt. „Da war bei mir viel Unsicherheit“, erinnert sie sich. „Ich wusste nicht, was auf mich zukommt: Kita, Pachtverträge, Waldbewirtschaftung. Aber ich habe mich reingefuchst.“
Nadja Mattern | Foto: © Ulrike Butmaloiu
In ihrer Region gibt es mehr Äcker als Ampeln, und mehr Skepsis als Nachfrage, wenn es um Kirche geht. Trotzdem ist sie präsent: auf dem Erntefest, bei Lesung, Chorauftritt und Kunstausstellung. Die 38-Jährige wirkt nicht wie eine geistliche Autorität, sondern wie eine mitdenkende und mitfühlende Nachbarin, die Fragen stellt, statt Antworten zu predigen. Ihre Wirkung ist oft subtil, aber weitreichend: Plötzlich kommen Menschen zur Kirche, die sich sonst nicht mehr angesprochen fühlen; Kinder, die nicht getauft sind, nehmen an Musik-Projekten teil; Landwirte, die sonst auf Distanz bedacht sind, sprechen mit ihr über Bodenpreise – und manchmal über Gott.
Kirche als Gegenentwurf
Ihre Gottesdienste sind dialogisch und offen. Es wird gelesen, gesungen, gesprochen und diskutiert. Und es gibt ein gemeinsames Nachdenken über Bibeltexte und deren Verbindungen zur Gegenwart. So wurde beim Palmsonntagsgottesdienst aus der Frage von Pontius Pilatus „Was ist Wahrheit?“ ein Gespräch über Verantwortung, Russlands Krieg gegen die Menschen in der Ukraine und über die AfD. „Kirche ist hier oft der letzte Raum, in dem Menschen sich noch begegnen, ohne sofort Parolen auszutauschen“, ist Nadja Mattern überzeugt. „Es ist ein Ort, wo politische Wirklichkeit zur Sprache kommt, ehrlich und menschlich.“Der politische Kontext bleibt dabei nicht neutral. In Regionen, in denen die AfD bei Wahlen über 30 Prozent erreicht, wird der Pfarrberuf schnell zum Spannungsfeld: Was darf man sagen? Wo wird Engagement zur Polarisierung? Nadja Mattern pflegt eine klare Absage an politische Positionen. Aber sie geht in Gespräche mit konservativen Landwirten, skeptischen Nachbarn oder einfach mit jenen, die „nichts mit Kirche am Hut haben“.
Die Herausforderungen sind groß – strukturell, personell, emotional. Doch Mattern möchte dranbleiben: „Ich mache jetzt eine Fortbildung zur Erlebnispädagogin.“ Ihr Anspruch ist eine Kirche als lebendiger Ort mitten im Dorf.
Vier Frauen, vier Wege – ein Auftrag
Diese vier Pfarrerinnen zeigen, dass evangelische Kirche in Brandenburg kein starrer Apparat ist, sondern ein lebendiges Gefüge aus Biografien, Ideen und Haltungen. In Regionen, in denen sich Politik radikalisiert, in denen Entfremdung und Misstrauen gegenüber Institutionen zunehmen, öffnen sie Räume. Sie wollen nicht alles verändern, aber sie stehen für einen anderen Umgang mit Unsicherheit, komplexen Fragen und Orientierungslosigkeit. Sie spiegeln das Bild einer Kirche im Wandel, das geprägt ist von Frauen, die nicht alles wissen, aber vieles wagen. Inmitten gesellschaftlicher Verhärtungen sind sie ein Gegenentwurf zu Vereinfachung, Ausgrenzung und Sprachlosigkeit.Sie teilen keine Agenda, keinen Stil, kein einheitliches Konzept. Was sie verbindet, ist eine Haltung: gegen Gleichgültigkeit, gegen Polarisierung, gegen Rückzug. Sie setzen auf Gespräch statt Ansage, auf Beziehung statt Belehrung. Und sie wissen: Veränderung braucht Vertrauen und Wirkung. All das wächst langsam, gerade auf dem Land. Aber es wächst.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
Oktober 2025