In der Ostukraine trifft der russische Drohnenterror mit voller Wucht die Zivilbevölkerung: Die sich ausweitende Grauzone, wo Drohnen jede*n ins Visier nehmen, lässt Frontlinien und Fluchtrouten verschwimmen. In Lebensgefahr geraten damit auch Evakuierungsteams, wie das von Roman und Eduard. Unsere Reporterin Kristina Thomas hat die beiden Helfer begleitet.
Kyrylo steht vor dem Eingang seines Wohnhauses. Neugierig inspiziert der Achtjährige den Kleinbus, der mit offenen Türen bereitsteht. Fahrer Roman Buhaiov, verstaut einen Schulrucksack und Reisetaschen, ruft „Komm, steig ein!“. Er will keine Zeit verlieren, denn hier, in einem Wohnviertel im ostukrainischen Slowjansk, ist die Ruhe trügerisch. Kurz darauf erscheint Kollege Eduard Skoryk mit weiteren Taschen, und Olena (31) die einjährige Tochter fest an sich gedrückt. Ein letzter Blick hinauf zur Wohnung, die schon ihren Eltern gehörte. „Wir müssen los“, mahnt Roman. Es droht nicht nur permanent Gefahr. Auf das Evakuierungsteam der NGO East SOS warten viele weitere Menschen.Abseits der medialen Aufmerksamkeit und der Diskussionen rund um Waffenhilfe und Aufrüstung nimmt eine stille Katastrophe ihren Lauf, die humanitäre Lage in der Ostukraine droht zu kippen. Denn das Hintergrundrauschen des Krieges hat dort längst eine neue, bedrohliche Frequenz erreicht: Ein dumpfes Grollen in der Ferne, ein Knall oder ohrenbetäubende Explosionen – in immer kürzeren Abständen erschüttern sie die Gemeinden und Städte in der Region Donezk.
So auch in jener Septemberwoche in Slowjansk. Nur Sekunden liegen zwischen Raketenpfeifen, Drohnensummen und Einschlag. Gleitbomben fliegen nahezu lautlos und explodieren ohne Warnung. Die Botschaft lautet: Nirgends ist man sicher. Für Olena der Punkt, an dem es unerträglich wird. Sie ruft die Evakuierungshotline und wagt den Schritt ins Ungewisse.
Die Karte verschiebt sich – Rückzugsorte brechen weg
Neuesten Daten zufolge gibt es in der Ukraine derzeit rund 3,7 Millionen Binnengeflüchtete, knapp 12 Prozent der Gesamtbevölkerung der unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete. Solche abstrakten Zahlen werden an Orten wie Slowjansk lebendig – wie Olenas Schutzinstinkt, dem sie nach einer weiteren lauten Nacht nachgibt.Hunderttausende Ukrainer*innen sind seit diesem Sommer aus den Regionen Donezk und Dnipropetrowsk geflohen. Weitere 218.000 Menschen müssen allein in der Region Donezk evakuiert werden, hieß es im September, darunter 16.500 Kinder und zahlreiche Menschen mit eingeschränkter Mobilität. Ein dichtes Netzwerk aus Hilfsorganisationen, Rettungsdiensten, Polizei und Ehrenamtlichen organisiert die Flucht – eine fragile Infrastruktur, die nun selbst verdrängt wird.
Ihr logistisches Herz schlug bisher in den Nachbarstädten Slowjansk und Kramatorsk – seit 2014 Knotenpunkte der humanitären Hilfe zwischen Front und Hinterland. Auch East SOS hat hier ihre Basis – noch. Doch seit August terrorisiert Russland die Bewohner*innen von Kramatorsk, Slowjansk, Kostjantyniwka und Druschkiwka verstärkt mit Raketen und Gleitbomben. Es sind die vier Bastionen des für die Landesverteidigung so wichtigen Donezker „Festungsgürtels“. Hinzu kommen Angriffe mit Drohnenschwärmen. In Kramatorsk trafen Gleitbomben im August zu 90 Prozent zivile Gegenden.
Etablierte Organisationen wie die Angels of Salvation, die seit 2014 Binnengeflüchtete von ihrer Basis in Slowjansk versorgen, müssen fliehen. Im September zog das Team von mehr als 100 Mitarbeiter*innen mitsamt Familien um nach Charkiw. Anfang Oktober folgt eine Evakuierungsanordnung für Teile von Kramatorsk, die nur noch 15 Kilometer von den feindlichen Stellungen entfernt sind.
Doch längst kommt die Gefahr nicht mehr aus einer Richtung: „Die Frontlinie hat sich aufgelöst“, sagt Roman. Sie ist ständig in Bewegung, erreicht Dörfer, Felder und Straßen weit hinter den Kämpfen der Infanterie. Und während „Verhandlungsgespräche“ in Alaska und dem Weißen Haus Demarkationslinien zum zentralen Thema machen, ist die Frontlinie längst der sogenannten Grauzone gewichen, in der FPV-Drohnen (First Person View) alles ins Visier nehmen, was sich bewegt. Auch dort, wohin noch kein russischer Soldat vorgedrungen ist, geraten Fluchtrouten, Transitpunkte und Evakuierungen ins Visier.
Fluchtrouten unter Beschuss
Während tausende Menschen auf der Suche nach Sicherheit sind und East SOS jede Woche Hunderte Evakuierungen durchführt, muss sich das Team stetig anpassen: „Früher, in Bachmut, Lyssytschansk, evakuierten wir fast schon an der Nulllinie. Ein paar Mal wären wir fast den feindlichen Einheiten in die Hände gelaufen,“ erinnert sich Eduard. Die größte Angst zu Beginn war, in russische Gefangenschaft zu geraten.„Heute kommen wir aufgrund der intensiven Drohnengefahr gar nicht mehr so nah heran – selbst mit Drohnenjammer [ein Störsender, Anm. d. Red.] und gepanzertem Wagen.“ Die 10-Kilometer-Zone ist eine Todeszone, meint Eduard. „Die Gefahr von Drohnen erwischt zu werden, liegt dort bei 50 Prozent oder sogar noch höher. Und das Militär sagt, diese Todeszone wird immer größer.“ Bereits die 20-Kilometer-Zone sei heute ein Glücksspiel mit dem Tod. Auf der Trasse Barwinkowe-Slowjansk wurde Anfang September ein Pkw von einer FPV-Drohne getroffen – etwa 50 Kilometer entfernt von den Gefechten.
Schon im August sorgten FPV-Drohnenangriffe für die meisten zivilen Opfer in den frontnahen Gebieten mit 58 Toten und 272 Verletzten. Gerade hat die UN einen Bericht vorgelegt, der die systematischen und koordinierten russischen Angriffe mit FPV-Drohnen auf ukrainische Zivilist*innen dokumentiert.
Evakuierungsfahrt. Eine Straße in der Region Donezk | Foto: © Kristina Thomas
Filigrane Schutzwälle gegen Russlands Drohnenterror
Zur neuen Topografie des Drohnenterrors zählen benetzte „Schutztunnel“, die in einem Radius von mindestens zehn Kilometern von der Nulllinie errichtet werden sollen. Die logistische Herausforderung ist riesig. Noch sind sie nicht überall zu sehen. Mal fährt der Kleinbus unter weißen und grünen Fischernetzen, dann wird das filigrane Schutzdach unterbrochen und nur die Balken sind zu sehen. Immer wieder sieht man Bauarbeiter und Militärs. Aber der Bau der Tunnel geht zu langsam voran, meint Roman und prüft den Drohnendetektor.„Kommt das vom Auto?“ Kyrylo horcht auf. „Das kommt vom Auto, keine Angst“, beruhigt ihn Olena. Kyrylo schmiegt sich an seine Mutter. „Wann sind wir da?“ Sie lacht. „Noch lange nicht. Das dauert.“ Heute wird die Familie das Transitzentrum in Pawlohrad erreichen. Dann geht es mit dem Zug weiter nach Dnipro, wo Olena mit ihren Kindern bei einer Freundin unterkommt. Wie es weiter geht? „Ich weiß es noch nicht. Ich werde eine Wohnung für uns suchen müssen.“
Vor allem ihrem Sohn zuliebe ist sie geflohen. „Er hat sich in den letzten Wochen sehr gefürchtet, schläft schlecht und erschrickt leicht.“ In Dnipro hat Kyrylo zum ersten Mal die Chance auf Präsenzunterricht. In Slowjansk wird nur online unterrichtet und es gibt dort kaum noch Gleichaltrige, mit denen er spielen kann.
„Wir erklären den Menschen tagtäglich: Geht, solange ihr könnt“, sagt Eduard. Zwingen können sie sie nicht. East SOS weist immer wieder darauf hin, dass vor allem Alte und Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, lange auf Pflegeunterkünfte warten müssen. Die Folge: Die Menschen harren aus – oft bis es zu spät ist.
Auf einem Feld nahe dem kleinen Ort Schostakiwka endet die erste Etappe: Hier werden Olena und die Kinder von einem anderen Evakuationsteam empfangen, das sie zusammen mit weiteren Geflüchteten weiter nach Pawlohrad bringt. Eduard und Roman warten wiederum auf eine Frau, um sie nach Oleksandriwka mitzunehmen – versteckt geparkt unter Bäumen.
Von Spenden abhängig: Ohne Jammer geht nix
Den Jammer und gepanzerten Wagen hat heute ein anderes Team, das aus gefährlicheren Orte evakuiert, etwa aus Biloserske oder Kostjantyniwka. Während die zerstörerischen Drohnen vergleichsweise billig sind, macht der Drohnenkrieg die Arbeit der NGO auch zu einem Kostenfaktor: Mehrere Tausend Euro kosten Jammer und Detektoren, ein gepanzertes Auto um ein Vielfaches mehr.„Heute ist nicht garantiert, dass unsere Anti-Drohnensysteme überhaupt helfen: Bei den Molniya-Drohnen [Flügeldrohnen in Leichtbauweise, Anm. d. Red.] fixieren sie einfach die Steuerung. Die Drohnen gleiten also selbst, wenn sie gestört wurden, weiter,“ erklärt Roman. „Der Krieg treibt die Innovation rasant voran,“ seufzt Eduard. „Gerade wenn wir das Geld für ein Anti-Drohnensystem zusammen haben, scheint es bereits nutzlos.“
Roman zeigt ein Video, auf dem ein ziviler Pkw eine Feldstraße entlangfährt. Ein Bekannter beim Militär hat es ihm geschickt. Es ist die Perspektive einer Abfangdrohne. Sie visiert eine russische Molniya-Drohne an. „Unsere Flugabwehrschützen verfolgten die Drohne und wollten sie abschießen. Aber leider schafften sie es nicht.“ Der Pkw wird durch den Aufprall entzweit – der Fahrer wird herausgeschleudert.
Der bereits erwähnte UN-Bericht stützt sich auf über 500 analysierte Videos die Drohnenangriffe auf Zivilist*innen zeigen. Dennoch fahren Roman und Eduard jeden Tag zu den Menschen. Romans Blick schweift immer auf den kleinen Bildschirm seines Drohnendetektors. „Es ist beängstigend, sein Auto im Visier einer feindlichen Drohne zu sehen – per Live-Übertragung.“ Heute bleibt der Monitor leer.
Die Helfer mussten auch lernen, Evakuierungspunkte zu kaschieren. „Vor einer Woche hatten große internationale Hilfsorganisationen an einem Übergabepunkt einen ganzen Zirkus aufgestellt: Große Banner mit Logos. Eine riesige Ansammlung an Menschen. Es dauerte nur ein paar Tage und die erste Drohne flog hinein.“
Der Drohnendetektor liegt immer in Sichtweite. | Foto: © Kristina Thomas
Transitpunkte werden verlegt
Während sich Kramatorsk und Slowjansk zunehmend leeren, entstehen an anderer Stelle neue Hilfseinrichtungen. Eine davon befindet sich in Losowa, in der Region Charkiw. Im neuen Transitzentrum ist viel los: Busse und Autos unterschiedlicher Hilfsorganisationen parken auf dem Gelände, das vom Militär bewacht wird. In der Ankunftshalle warten Menschen umgeben von ihrem Gepäck auf Registrierung oder Weiterfahrt. So auch der 12-jährige Andrey. Auf dem Schoß hält er die Transportbox mit seiner Katze. Es ist laut und hektisch, wie auf einem Bahnhof. Der Blick des Jungen geht ins Leere. Eine Psychologin bemerkt ihn, setzt sich dazu, redet leise auf ihn ein.Nataliia Levchenko betreut die Kinder, die in Losowa ankommen, bietet ein Gespräch an. Nicht alle wollen sich im Spielraum ablenken, sind überfordert von der Reise, dem Erlebten und vielleicht zum ersten Mal in einer größeren Stadt. Den Krieg muss sie ihnen nicht erklären: „Sie wissen genau, was mit ihnen geschieht, was in unserem Land geschieht. Ich versuche lediglich, sie zu beruhigen. Überraschenderweise weint keines von ihnen“, so Levchenko.
Gegen Stress und Ohnmachtsgefühle bietet Levchenko Atemübungen an, sagt beruhigende Worte, während viele Eltern selbst überfordert sind. Doch oft wollen Kinder nicht mit ihr sprechen „Häufiger betreuen wir Erwachsene. Es gibt Fälle, da kommen die Menschen an und erfahren, dass es jemand nicht rechtzeitig geschafft hat. Wir versuchen sie zu stabilisieren.“
Ljubow war schon einmal geflohen, fand aber in zwei Städten keinen Job und ging wieder zurück – trotz der Gefahr. Nun muss sie unbedingt Arbeit finden. „Meine Mutter hat nur ihre kleine Rente. Und ich habe nichts, als Alleinerziehende. Zu Hause war es beängstigend, aber es ist so schwer, alles zu verlieren. Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt.“
Neue Frontstadt Pawlohrad: „Wir sind vorbereitet für alle Szenarien“
Die 78-Jährige Adelia Rostenko hat sich für den Tag der Evakuierung wie für einen Feiertag hergerichtet. Die Haare duften nach Shampoo. Doch in Pawlohrad erwartet sie keine feierliche Stimmung. Stattdessen große Zelte mit vielen Liegen. Kurz verliert sie die Beherrschung: Warum man sie nach Pawlohrad gebracht hat, und nicht nach Chmelnyzkyj. „Gute Frau, das hier ist nur die erste Station,“ erklärt Roman und lacht. Das rund 800 Kilometer entfernte Chmelnyzkyj wird Rostenko erst in den nächsten Tagen erreichen.„Bis August waren Zahlen zwischen 80 und 150 Personen pro Tag normal. Dann wurden es 200 bis 250 pro Tag. Das war sehr stressig,“ sagt Alla Riabtseva. Ende August trafen schon bis zu 450 Menschen pro Tag ein. Dabei ist selbst das neue Transitzentrum nur auf 250 Menschen ausgelegt. Das alles zu organisieren – von der Verteilung von Hygieneprodukten, der psychologischen Erstversorgung, bis zur Registrierung und der Ausgabe der Zugtickets sei eine wahnsinnige logistische Herausforderung. „Manche Menschen kommen an und haben mehrere Tage nicht geschlafen. Sie ruhen sich hier aus von den Strapazen und wir versorgen sie so gut wir können. Unser Personal kommt an seine Grenzen. Aber wir wissen, warum wir das tun.“ 32.000 Menschen haben das Transitzentrum innerhalb eines Jahres insgesamt passiert.
Die Männer von East SOS sind schon wieder unterwegs. Roman und Eduard fahren dieselbe Strecke zurück, Richtung Kramatorsk. Es ist eine beklemmende Routine, an der nichts normal ist. Sie werden bleiben, so Eduard. Jeder Mensch, den sie retten, sei die Antwort auf die Frage, warum.
Die Veröffentlichung dieses Artikels ist Teil von PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
November 2025