„Blaubeeren sind gut für das Blut, gegen Aphten, für die Haut, zur Entspannung und fürs Leben.“ Jeden Sommer verbringen Blaubeersammlerinnen und -sammler an der Grenze zwischen Tschechien und Österreich Stunden, Tage und Wochen in den Wäldern. Dieses Mal könnt ihr sie begleiten und feststellen, dass die Realität ihrer Arbeit viel facettenreicher ist, als es aus den alljährlichen Diskussionen in Internetforen den Anschein haben mag. Eine immersive Reportage von Anna Váchová.
Wir reichen uns unsere violetten Hände und fangen ein Gespräch an. Lída sammelt die Beeren in ihren Eimer und ich in meinen Mund, weil ich weder einen Kamm noch Frühstück bekommen hatte. „Iss nur, die sind gesund. Heidelbeeren sind gut fürs Blut und die Haut, selbst gegen Aphten helfen sie. Und sie entspannen, sie tun einfach gut, besonders wenn man ein Leben mit zwei Kindern führt, für die frau ganz allein sorgen muss.“Ihre violetten Händen verhelfen Lída oft zu neuen Kund*innen. „Die Leute sehen, dass ich Blaubeeren sammle, erzählen es jemandem, geben meine Nummer weiter und schon ruft mich wieder jemand an!“, erklärt sie mir und sagt, dass manche Leute jedes Jahr wiederkommen, weil sie zufrieden sind. „Oder zum Beispiel im Krankenhaus, in dem ich entbunden habe, da wurde ich gefragt, wohin ich in den Urlaub fahren würde, und ich habe geantwortet, ach, Urlaub, ich bin im Sommer im Wald!“ Lída würde aber gerne verreisen, vielleicht irgendwohin zur Kur, denn die Heidelbeeren sind zwar gesund und enthalten viele Vitamine, aber das Pflücken ist körperlich anstrengend. Deshalb würde sie gerne an einen Ort fahren, an dem sie sich erholen kann.
Im Wald kann sie sich immerhin von der Arbeit und den Kindern ausruhen. Sie ist alleinerziehend, kümmert sich unter der Woche um die Kinder und fährt am Wochenende zum Arbeiten in ein Casino nach Österreich. Wenn sie, so wie heute, einen Babysitter findet, geht sie für ein oder zwei Stunden in den Wald. Sie beeilt sich dann mit dem Sammeln, damit sie alles schafft und, wenn die Erinnerung auf ihrem Handy klingelt, mit einem vollen Eimer nach Hause fahren kann. Als wir das Diktiergerät gegen den Pflückkamm tauschen, meint Lída lachend: „Wer es nicht selbst probiert, versteht es nicht!“ Nach unserem Treffen besorge ich mir umgehend einen eigenen Kamm und begleite am darauffolgenden Wochenende Lídas Cousine Ilona und deren Mann Dušan zum Blaubeerenpflücken.
Frühe Vögel und Vögelchen
Am Samstagmorgen erwache in einem der ehemaligen Kasernengebäude des Grenzschutzes, die hier im tschechisch-österreichischen Grenzgebiet zu Plattenbauten umgebaut wurden und von den Überbleibseln eines Zauns umgeben sind. Ich stehe um halb fünf auf und setze mich als es gerade erst hell wird auf mein Fahrrad. Ich ziehe den Kopf ein und die Ellbogen eng an den Körper und versuche der Kälte und der Schläfrigkeit zu trotzen. Als ich über die aus Betonplatten ausgelegte Straße am Stadtrand fahre, klappern meine Sachen im Fahrradkorb in regelmäßigen Abständen. Ich fürchte, ich könnte auch andere wecken. Dann fahre ich auf einer neueren Straße bis zu einem nahe gelegenen südböhmischen Dorf und warte vor dem geschlossenen Coop-Supermarkt, wo ich mit Lídas Verwandten verabredet bin. Auf dem Dorfplatz ist es still, nur über mir zwitschern ein paar Schwalben, die unter dem Supermarktdach nisten. Dann kommen Ilona und Dušan.Der Wald als Heiligtum für alle
Wir parken am Rande eines Kiefernwaldes und klemmen die Einfahrtsgenehmigung für den Wald an die Frontscheibe, für den Förster. Ilona und Dušan ziehen ihre Gummistiefel an und sprühen sich gründlich mit Insektenschutzmittel ein. „Das ist wichtig, sonst kann es unangenehm werden”, erklären sie und reichen das Spray an mich weiter. Um uns herum ist es still, nur gelegentlich knarzt in unserer Nähe ein Kiefernstamm. Bald sind wir von allen Seiten von Kiefern und Blaubeersträuchern umgeben. Alles ringsumher ist mit Tau bedeckt und meine Schuhe sind schon nach kurzer Zeit klatschnass. „Blaubeeren muss man frühmorgens pflücken, solange die Früchte noch feucht sind. Dann sind sie nicht so weich und man kann besser mit ihnen arbeiten. Außerdem ist es noch nicht so heiß, was dieses Jahr aber zur Abwechslung kein Problem ist“, erklärt mir Ilona, während wir uns tiefer in den Wald hineinbegeben. Dort beginnen wir mit dem Sammeln.„Wenn ich so früh am Morgen im Wald bin, dann bete ich. Immer wenn ich das jemandem erzähle, finden es die Leute seltsam oder wollen es mir nicht glauben“, berichtet Ilona. Statt wie die anderen sonntagmorgens in die Kirche zu gehen, gehen sie und Dušan in den Wald zu den Blaubeeren, aber alle wissen, dass die beiden auf Sammeltour sind. Die Kirche hat ihr im Leben sehr geholfen – damals, als ihr Vater einen Unfall hatte, oder als sie und Dušan nach England gehen mussten, um Arbeit zu finden, weil es hier keine gab und sie für ihre Kinder sorgen mussten. Ilona hat ein Lächeln im Gesicht, während sie mit mir spricht. Durch ihre Hände rollen die Blaubeeren, eine nach der anderen, wie die Perlen einen Rosenkranzes.
Ilona | Foto: © Anna Váchová
Ein Problem sind jedoch vor allem organisierte Sammelausflüge in Naturschutzgebiete, an denen jedes Jahr viele Menschen teilnehmen, um Blaubeeren zu pflücken, obwohl die Ranger der Nationalparks versuchen, dies zu verhindern. Das Sammeln von Waldfrüchten ist an Orten wie diesem hier laut Waldgesetz zwar gestattet, darf jedoch nur für den Eigenbedarf bestimmt sein und muss schonend erfolgen, ohne das Waldökosystem zu beeinträchtigen. Dieses Ökosystem sehen viele jedoch bedroht durch die Verwendung von Kämmen oder das Zertrampeln der Vegetation, gerade wenn die Leute tiefer in den Wald vorzudringen versuchen.
„Wenn du langsam durch den Strauch kämmst, gehen die Blätter nicht einmal ab“, erklärt mir Ilona, als wir schon fast einen Eimer mit Blaubeeren gefüllt haben. Sie fügt hinzu, sie würde immer wieder hören, dass Pflücker*innen die Pflanzen mit den Wurzeln ausreißen, sodass die Blaubeeren dann nicht mehr wachsen und keine Früchte tragen. „Aber schau mal!“ Ich sehe mich um und beobachte, wie Ilona arbeitet, ihre Hände, ihre Bewegungen. Und während diejenigen, die Waldblaubeeren sammeln und verkaufen, immer wieder Anlass für Diskussionen über die angebliche Plünderung der Natur bieten, bleiben andere, viel wesentlichere Formen der Ausbeutung und Schädigung der Natur unbeachtet.
Die Resilienz von Blaubeeren, Pflückerinnen und Pflückern
An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Als ich Lída zum ersten Mal treffe, sammelt sie mitten im Wald in unerbittlichem Tempo Blaubeeren und schafft es, mir nebenbei trotzdem allerhand zu berichten. Davon, wie sie einem Hirsch begegnet ist, vor dem sie aber keine Angst hatte, davon, wie gerne sie singt und wie geschickt ihre Kinder sind. Auch, dass sie aus einer großen Familie stammt, die ihrer Meinung nach ein gutes Beispiel dafür ist, wie fleißig die Roma sind. Aber außerhalb des Waldes, wo mehr über Blaubeeren gesprochen wird, als dass sie gesammelt werden, und wo es nach wie vor Rassismus gegenüber Roma und Romnja gibt, sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch auf den provisorischen Märkten am Straßenrand, werden Geschichten über Lídas Arbeit tradiert, die nur Stereotypen reproduzieren. Da hört man von meterlangen Kämmen, von Tannenzapfen, die unter die zu verkaufenden Blaubeeren gesteckt werden, und von der Unordnung, die die Roma beim Sammeln im Wald und an den Straßen angeblich hinterlassen würden.Die Möglichkeit, zum Arbeiten nach Österreich zu gehen, ist einer der Vorteile, die es hat, im Grenzgebiet zu leben. Bei unserem Gespräch erzählt mir Lída, dass sie auf keinen Fall mehr in Tschechien arbeiten will. „Vor allem die Art und Weise, wie man in Österreich mit Roma umgeht! Einfach unglaublich! Dort bedanken sie sich sogar dafür, dass man für sie arbeitet. Sie geben einem die Hand, bieten einem etwas zu Trinken und zu Essen an.“ Durch das Pendeln kann Lída unter der Woche zu Hause bei ihren Kindern sein und am Wochenende Geld verdienen, für das sie in Tschechien viel länger arbeiten müsste. Allein an den Wochenenden verdient sie etwa 30.000 Tschechische Kronen (etwa 1200 Euro) im Monat, während der durchschnittliche Bruttolohn in der Region Südböhmen im Jahr 2024 bei 42.171 Kronen (knapp 1700 Euro) lag und der Mindestlohn nach der Erhöhung im Jahr 2025 gerade mal 20.800 Kronen (rund 830 Euro) betrug.
Trotzdem geht sie, wenn sie Zeit hat, weiterhin Blaubeeren sammeln – nicht nur wegen des Zuverdienstes, sondern auch für sich und ihre Familie. Aus den Blaubeeren macht sie Saft für ihre Kinder und hat das ganze Jahr über einen vollen Gefrierschrank. „Mein Bruder litt an Aphten, er hat sich den Mund mit Blaubeeren eingerieben und am nächsten Tag waren sie verschwunden! Sie haben auch das Blut meiner Mutter gereinigt.“ Für Lída sind die Blaubeeren Medizin und das Pflücken betrachtet sie als Dienst an denjenigen, die nicht selbst in den Wald gehen können, um Blaubeeren zu sammeln. Noch im Wald verabschiede ich mich von Lída. Ihr Erinnerungsalarm klingelt und sie muss zurück zu ihren Kindern. Lída fährt nach Hause und ich gehe weiter durch den Wald, in der Hoffnung, andere Blaubeersammler*innen zu treffen, solche wie Lída. Nach eine Weile stoße ich inmitten des Waldes statt auf Blaubeeren und deren Sammlerinnen und Sammler jedoch auf eine Lichtung mit vielen Holzspänen. Ich pflücke nur ein paar Blaubeeren für den Weg und gehe weiter auf der Straße am Waldrand entlang und entdecke ein Schild: „Blaubeeren 200 m“.
Vor seiner Pensionierung war auch Aleš Lkw-Fahrer. Er ist viel rumgekommen, aber damals gab es noch nicht so viele Blaubeerstände an den Straßenrändern, die meisten fuhren mit ihrer Ernte direkt zum Aufkauf. Als er selbst mit dem Sammeln angefangen hat, bekam man dort 17 Kronen pro Kilo. Wenn er die Beeren direkt an der Straße verkaufte, verlangte er 40 Kronen pro Liter. Viel hat sich nicht geändert, seit er mit dem Blaubeerpflücken angefangen hat. „Blaubeeren sind widerstandsfähig und es gibt immer noch viele davon“, sagt er und fügt hinzu, dass er keine anderen Beeren, wie Himbeeren oder Erdbeeren, mehr sammelt, weil kaum noch welche wachsen. Und dass er den Leuten die Blaubeeren statt wie früher in Gläser, nun in Kunststoffbehältnisse abfüllt. Mit den Blaubeeren verdient er sich etwas zu seiner Rente dazu, die er für seine sechzig Arbeitsjahre erhält, mit der er aber nur gerade so über die Runden kommt. „Ich werde noch zehn Jahre Blaubeeren pflücken und dann in Rente gehen“, sagt er scherzend. Er lächelt erst mir und dann der Frau zu, die gerade aus dem Auto gestiegen ist und geradewegs auf uns und die Blaubeeren zukommt.
Nach dem Krieg haben seine Eltern den kleinen Aleš mit in den Wald genommen, um Blaubeeren zu sammeln, und er hat es später mit seinen Kindern auch so gemacht. Heute verkauft sein Sohn Cyril mit ihm zusammen am Straßenrand und als er hört, dass wir über die Rente sprechen, kommt er zu uns herüber. Er erzählt, dass er krank geworden ist und nur eine Rente von 4800 Kronen (etwa 190 Euro) bekommt, weil er nicht lange genug gearbeitet hat. Davon muss er 2800 Kronen (etwa 110 Euro) für seine Unterkunfta bezahlen. „Ich habe ein kleines Häuschen gemietet, das kostet nicht so viel, sonst wäre ich auf der Straße. Im Sommer ist es okay, da habe ich ja noch die Blaubeeren, aber im Winter? Da bleibt mir nur meine Rente, weil ich krank bin.“
Der Verkaufsplatz von Radka und Tomáš. | Foto: © Anna Váchová
Radka arbeitet saisonal im Ausland, kehrt aber alle vier Monate zu ihrer Familie zurück. Jetzt ist sie gerade da, also sammelt sie Blaubeeren und verkauft sie. Radka meint, dass bei vielen Leuten das Geld, das sie bei der Arbeit verdienen, gerade so für die Miete reicht. „Wenn jemand kleine Kinder hat, dann gibt es keine soziale Unterstützung...“, erklärt sie kopfschüttelnd. „Mit der Arbeit ist das hier so eine Sache, entweder fährt man zum Arbeiten nach Österreich und bekommt österreichisches Gehalt, oder die Leute schuften in einer der beiden ortsansässigen Fabriken oder im Supermarkt. Davon gibt es hier viele.“ Ihr Mann Tomáš arbeitet in einer Firma, die Menschen mit Behinderung beschäftigt, was seiner Meinung nach in vielerlei Hinsicht ähnlich ist wie mit den Blaubeeren. Er sagt, die Regierung denkt sich zwar irgendwelche Pläne aus, um zu helfen, aber letztendlich benachteiligt ihn die unzureichende, vom Alltag der Menschen weit entfernte und mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbundene Form der Unterstützung mehr als die Tatsache, dass er beide Beine verloren hat.
„Man versucht eine Beihilfe, eine höhere Rente oder eine Ausgleichszahlung zu bekommen, oder sich mit dem Blaubeerensammeln etwas dazuverdienen, aber dabei werden einem lauter Hürden in den Weg gestellt, Kontrollen und Einschränkungen, anstatt dass die sich um die größeren Fische kümmern, die hier mitmischen.“ Er ergänzt, dass er grundsätzlich nichts gegen Beschränkungen und Kontrollen hat. Das Problem sei jedoch, dass all das von Leuten ausersonnen wird, die nicht danach fragen, was die Betroffenen davon halten, und die selbst nie Blaubeeren gepflückt, geschweige denn mit einer zertifizierten Waage verkauft haben, einer Waage, die man regelmäßig überprüfen lassen muss, ob sie nicht gezinkt ist. Seiner Meinung nach haben Menschen entweder Respekt voreinander und vor der Natur oder sie haben ihn nicht. Auch Radka und Tomáš kennen solche Leute, die im Wald eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Sie selber pflücken hier schon fast ihr ganzes Leben lang jedes Jahr Blaubeeren, da würden sie sich ja selbst schaden, wenn sie den Ort ruinieren würden, an dem sie leben und den sie regelmäßig besuchen, sagen sie.
Sowohl Arbeit als auch Vergnügen
Nach nur zwei Stunden mit Ilona und Dušan im Wald tut mir der Rücken weh, und so überrascht es mich, wie viele Menschen mit Invaliditätsrente in den Wald Blaubeeren pflücken gehen, um sich etwas dazuzuverdienen. Auch Ilona bezieht aufgrund von gesundheitlichen Beschwerden eine Invaliditätsrente. Schon als wir uns am Coop-Supermarkt auf dem Dorfplatz trafen, legte sie mir ans Herz, mich ruhig hinzusetzen und nur zuzuschauen oder Fotos zu machen, wenn mein Rücken nicht mehr mitmacht. Sie hat sich angewöhnt, Tabletten zu nehmen, weil sie die Arbeit braucht, auch wenn der Körper schmerzt. Von ihrer Invaliditätsrente allein könnte sie definitiv nicht leben, aber zusammen mit Dušans Gehalt geht es. Die Blaubeeren sind in dem Sinne keine Notwendigkeit, sondern ihr Vergnügen. Sie hofft, dass sie bald in Österreich arbeitet findet, wie ihre Schwester, die dort putzen geht. Als Frau und ohne Ausbildung könne sie dort ganz gutes Geld verdienen, meint sie.Am Vormittag desselben Tages, an dem Ilona und Dušan mich in den Wald mitgenommen haben, treffe ich auch Ilonas Schwester Maria und deren gesamte Familie. Auf einer Wiese an der Kreuzung zweier asphaltierter Straßen kommen die Familienmitglieder zusammen. Aus verschiedenen Ecken der südböhmischen Wälder haben alle frisch gepflückte Blaubeeren in Eimern und Kisten mitgebracht. Es kommen etwa 25 Liter zusammen, Blaubeerkuchen wird ausgepackt und dann geht es wieder an die Arbeit.
Aus den Blaubeeren müssen die Blätter herausgeblasen werden und dann wird sortiert. Ich mache das zusammen mit Ilona, ihrer Schwester und ihrer Mutter und komme mir dabei vor wie in alten Zeiten, als die Frauen unter sich um den Tisch herumsaßen, Federn rupfen und dabei über die Männer redeten, ein Thema, das egal in welchem Alter immer konstant bleibt. Später gesellt sich auch die dritte Generation der Familie hinzu. Bevor ich mich jedoch in den Familienverhältnissen zurechtfinden kann, beginnt es zu regnen und jede*r beeilt sich, einen Unterschlupf zu finden. Nur Ilona und Dušan rennen abwechselnd vom Baum, bei dem sie sich untergestellt haben, zum Sonnenschirm an der Straße, um denen, die kurz anhalten und mit der Geldbörse in der Hand aus dem Auto springen, Blaubeeren zu verkaufen.
Als ich wieder zurück in der Kaserne bin, bleibt mir das Gefühl, dass das Blaubeerensammeln nicht nur einen zusätzlichen Verdienst schafft, sondern dass neben dem Ausgleich für das unzureichende Monatseinkommen oder dem Polster für das nächste Jahr auch ein Netzwerk von Beziehungen entsteht. Und dieses Netz ist in einer Welt, in der gearbeitet werden muss, selbst wenn der Körper schmerzt, eine der wenigen verbleibenden Sicherheiten.
September
Der August geht zu Ende und der September beginnt, die Sammlerinnen und Sammler, denen ich sonst im Wald begegnet bin, sehe ich nun häufiger auf meinem Weg zum Supermarkt oder zum Bahnhof. Das ist das Leben außerhalb der Blaubeerensaison. Nur einige wenige ziehen nach Ende der hiesigen Saison weiter südlich in Richtung Šumava (Böhmerwald), wo es noch Blaubeeren gibt. Die anderen wenden sich wieder dem zu, was sie sonst tun.Auch ich kehre zurück, mit dem Schnellzug nach Prag. Ich sitze am Fenster und versuche vergeblich, ein Signal oder das W-LAN der Tschechischen Bahn zu finden. Hin und wieder läuft ein Kind an meinem Abteil vorbei und reißt mich für einen Moment aus den Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, während ich aus dem Fenster oder auf mein Handy schaue. Als wir in Prag ankommen, wird mir klar, wessen Kind das ist. Seine Mutter ist Lída, ich treffe sie auf dem Bahnsteig des Prager Hauptbahnhofs wieder, wo wir beide aussteigen. Sie hat einen Kinderwagen und einen Koffer dabei und hält gleichzeitig ihre beiden Kinder an der Hand, von denen sie mir im Wald erzählt hat. Die Leute kaufen keine Blaubeeren mehr und Lída sammelt nicht mehr und so machen sie sich gemeinsam auf den Weg in den wohlverdienten Urlaub.
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November 2025