„Praise Bob“
Lob der Unsicherheit

Staying with the trouble - Illustration von Maria Krafft Foto: © Maria Krafft

Denken wir uns eine Welt, die der unseren in fast allen wesentlichen Punkten gleicht. Es gibt Bäume, Autos, Christbaumschmuck und Hunde; Menschen führen Beziehungen, gehen einer Arbeit nach, ernähren sich von Fleisch und Nüssen, und sie machen Fehler. Und nun, suchen wir uns aus dieser Welt ein paar Beispielmenschen aus und nennen wir sie einfach mal Poof, Pow, Wow und Why.

Charlotte Krafft

Sie könnten zum Beispiel gemeinsam an einem Tisch oder auf dem Teppich sitzen und ein Spiel spielen, bei dem es darum geht, möglichst viel von irgendetwas anzusammeln, um es dann zu investieren und anschließend noch mehr davon zu sammeln. Sie sitzen also auf dem Teppich, sagen wir mal vor einem Kamin, und während sie spielen, trinken sie Wein, snacken und lauschen dem Prasseln des Feuers.

Happy Accidents 

Poof liegt wie immer ganz vorne im Spiel. Er oder sie, sagen wir mal „sie“, ist gerade am Zug. Sie also steckt sich eine Nuss in den Mund, kaut, überdenkt ihre Optionen, dann trifft sie eine Entscheidung. „Wer nichts wagt, gewinnt auch nichts“, sagt sie. Pow und Wow nicken, dann sind sie selbst an der Reihe. Why ist als letztes dran. Nach ein paar Minuten ist die Runde vorbei und es stellt sich heraus, dass alles genau so gelaufen ist, wie Poof es geplant hatte. Poof lächelt selbstsicher. Why dagegen sieht ziemlich schlecht gelaunt aus. Mürrisch wirft er oder sie, entscheiden wir uns diesmal für „er“, Nüsse ins Feuer. Wie er gerade feststellen musste, hat er (mal wieder!) einen groben Fehler begangen. Und dieser Fehler wird nun zum Auslöser für ein Beispielgespräch, aus dem wir allerhand über Poof, Pow, Wow und Why erfahren können, sowie über die Welt, in der sie leben.

„Why, warum ärgerst du dich denn?“, fragt Wow.
„Über meinen dummen Fehler, das hätte einfach nicht sein müssen“, antwortet Why.  
„Natürlich musste es sein. Du weißt doch: We don’t make mistakes, we have happy accidents.“
 
„Du solltest Bob für deinen Fehler danken“, sagt Poof 
 
„Du hast leicht reden“, sagt Why 
 
„Auch ich hatte viele happy accidents, ohne die ich nicht dort angekommen wäre, wo ich jetzt bin!“, sagt Poof. 
 
„Praise Bob“, sagt Pow.  

Why schüttelt den Kopf.  

„Big Bob wird dich schon noch auf den rechten Pfad leiten“, sagt Poof.  

„Aber warum ist mein rechter Pfad so verdammt steinig?“ 

„Auch du wirst dein happy ending bekommen. Und wenn es noch nicht happy ist, dann ist es noch nicht das end. Bis dahin, thank Bob für all die happy accidents, durch die er dich voranbringt.“ 

Ohne Fehler kein Fortschritt“, sagt Wow.  

Ohne Fehler keine Innovation“, sagt Pow 

Wer Fehler macht, wird immer besser“, sagt Poof 

„Fehler lohnen sich auch wirtschaftlich“, sagt Pow. 

„Du musst dich deinen Fehlern stellen“, sagt Wow. „Das darf auch weh tun, denn Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässst“.  

„Jajaja!“ Why hält sich die Ohren zu.  

„Übrigens: Auch die Evolution ist auf Fehler angewiesen“ , sagt irgendwer. 

„Ach, jetzt sind Evolution und Fortschritt plötzlich dasselbe?“ 

„Es ist ein Vergleich.“ 

„Der die Naturalisierung des Fortschritts im Dienste des patriarchalen Kapitalismus offenbart“, sagt Why zornig. „Als wäre der wirtschaftliche Fortschritt durch trial & error genauso unaufhaltsam und zwingend wie die Evolution.“ 

„Ist er doch auch“, sagt Pow.  

„Nein, er ist störbar“, ruft Why. 

„Aber wenn jede Störung doch Teil dieses Fortschritts ist…“ 

Why gibt auf. 

„Bob offenbart sich uns in jedem unserer Fehler“, sagt Wow. 

„Damit wir unsere Bestimmung erfüllen“, sagt Pow.  

„Deshalb feiern wir unsere Fehler und Versager. Why, du solltest dich feiern lassen“, sagt Poof. „So wie ich es getan habe.“ 

Auf der Bühne die Hose runterlassen – das ist extrem wertvoll“, sagt Pow.  

„Praise Bob“, sagt Wow. 

Why schüttelt den Kopf. „Über das Versagen sprechen nur die, die es in Erfolg münzen konnten.“ 

Die Erzählung von der Notwendigkeit der Fehler 

Zur Erklärung: Poof hat Why gerade vorgeschlagen, an einer der stark frequentierten Veranstaltungen teilzunehmen, auf denen erfolgreiche Versager dem Publikum von ihren größten failures, faults und flaws erzählen. Vorrangiges Ziel der Veranstalter und Vorträger ist es, die eigenen Fehler möglichst gewinnbringend zu nutzen. Ah ja, Poof erklärt es auch gerade selbst: „Dieses Kapital an Erfahrung, Risikobereitschaft, Enthusiasmus dürfen wir nicht verschenken“, sagt er. Man merkt schon: Poof, Pow, Wow und Why leben im Anthropo- und Kapitalozän.  
 
„Oder schreib halt ein Buch“, schlägt Pow jetzt vor. Why reagiert nicht mehr. Bücher, wie Pow sie meint, gibt es zu Hauf in ihrer Welt. Darin wird den Lesern beispielsweise empfohlen, die Fehler der anderen – der Angestellten etwa zu loben, statt sie zu bestrafen. Denn jede kleine und große Krise ist eine Chance, zu lernen, zu wachsen und besser zu werden. Sowie der Geist des Kapitalismus in unserer Welt die Kritik gefressen und zum konstitutiven Element verdaut hat, macht er es in ihrer Welt auch mit dem Fehler. Statt sich von Fehlern stören zu lassen, verleiht man ihnen gemäß der Logik einen Wert. Jeder Fehler kann und muss ökonomisiert werden – das zumindest wird erzählt, und weil alle es glauben, funktioniert es auch so. „Fehlermanagement“ und „Fehlerkultur“ sind in Whys Welt keine widersinnigen Begriffe.  
 
Wir dagegen hierzuwelten lieben failures, faults und flaws gerade für ihr Störpotenzial. Nicht wahr? Glitches und Goofs faszinieren uns, weil sie die Fehlbarkeit eines vermeintlich unfehlbaren Systems offenbaren, und nicht nur das. Fehler bestehen ausschließlich im Kontext bestimmter Pläne oder Normen,konstruierter Ordnungen. Mit dem Fehler wird Unruhe in diese Ordnung gebracht, wodurch die Ordnung selbst, ihre Konstruiertheit und damit auch ihre Veränderbarkeit oftmals erst sichtbar wird. Der Fehler birgt somit auch ein revolutionäres Potenzial.Was aber, wenn es der Ordnung gelingt, den Fehler ins System zu integrieren? Dann kann dieses System nicht mehr gestört werden. Und wie integriert man die Störung in eine Ordnung? Indem man von ihr als Notwendigkeit erzählt. „Ich bin dankbar für meine Fehler, denn ohne sie wäre ich nicht dort, wo ich jetzt bin und sein soll“, sagt Poof ihren Zuhörern immer wieder. Ihre Grundhaltung bei jenen Versager-Vorträgen ist die einer Heldin, die ihre Mission nicht trotz, sondern gerade dank seiner Fehler erfüllen konnte. Sie lässt sich von ihren Fehlern nicht verunsichern. Ihre Geschichten sind Heldengeschichten, die angeblich davon erzählen, was es bedeutet, Mensch zu sein.

„It is the story that makes the difference“, schreibt Ursula K. Le Guin. „It is the story that hid my humanity from me, the story the mammoth hunters told about bashing, thrusting, raping, killing, about the Hero.“ Und der Held hat verfügt: „First, that the proper shape of the narrative is that of the arrow or spear, starting here and going straight there and THOK! hitting its mark; second, that the central concern of narrative is conflict; and third, that the story isn’t any good if he isn’t in it.“ 

Diese Pfeilform der Geschichte ist die einzige, die Poof und ihre Freunde kennen. Es scheint also zwingend, dass sie aus jedem ihrer Fehler-Berichte eine Heldenstory machen. Wer das Glück hat, Held zu sein, erzählt seine Geschichte. Wer das Pech hat, keiner zu sein, fügt sich. „Heroes are powerful“, heißt es in Le Guins Carrier Bag Theory of Fiction weiter. „Before you know it, the men and women in the wild-oat patch and their kids and the skills of the makers and the thoughts of the thoughtful and the songs of the singers have all been pressed into service in the tale of the Hero. But it isn’t their story. It’s his. The trouble is, we’ve all let ourselves become part of the killer story, and so we may get finished along with it.“ 

Heldengeschichten 

Diesen trouble müssten Poof, Pow, Wow und Why erst einmal erkennen und dann „dran bleiben“. „Staying with the trouble“, fordert Donna Haraway, und die Verbindung zwischen ihr und Le Guin muss nicht erst ich ziehen. Haraway greift Le Guins Theorie immer wieder auf. So schreibt sie in Unruhig bleiben zum Beispiel: „Große Teile der Erdgeschichte sind in der Knechtschaft der Fantasie erster schöner Worte und Waffen, erster schöner Worte als Waffen erzählt worden. Das ist eine tragische Geschichte mit nur einem wirklichen Akteur, mit nur einem wirklichen Weltenmacher, dem Helden.“ Alles andere in dieser Geschichte habe die „Aufgabe, im Weg zu sein oder der Weg zu sein, der Kanal zu sein oder überwunden zu werden.“ Und das gilt auch für den Fehler.  

Der Fehler wie der Konflikt ist, wenn nicht eh der Fehler im Konflikt liegt, die notwendige Probe, auf die der Held gestellt werden musste, um sein Schicksal zu erfüllen und schließlich dort anzulangen, wo er sich jetzt befindet, am happy ending. Und happy sind natürlich auch all seine little accidents, jedenfalls werden sie es im Nachhinein gewesen sein. Am Ende war alles happy – selbstverständlich nicht lucky, denn das würde ja bedeuten, dass der Erfolg des Helden nicht zumindest auch auf tatsächliche Un- und Zufälle zurückzuführen ist, oder gar, MANN=HELD=GOTT=SELBSTERSCHAFFER bewahre, andere Wesen, Gegen- und Umstände. Seine Fehler und ihre Überwindung sind seine Leistung allein und wenn sie nicht zum happy ending führen, ist er entweder kein MANN=HELD=GOTT=SELBSTERSCHAFFER, oder er hat seine Mission noch nicht erfüllt.

Sie sind beruhigend, diese Heldengeschichten, denn sie wissen immer, wie sie ausgehen. Ihre Reproduktion ist nicht nur fatal für Why, der seine Geschichte immer noch als Heldengeschichte in die Zukunft hinein auf ein Ende zu konstruiert, das sich nicht erfüllen wird, sondern auch fatal für seine Mit-Wesen, alle, von denen diese Geschichte nicht handelt. Unsere Beispielmenschen müssen also aufhören, die alte Geschichte vom MANN=HELD=GOTT=SELBSTERSCHAFFER zu reproduzieren, denn erstens: Der Anthropos kann seine Fehler nicht (mehr) allein überwinden und allein überleben, zweitens: Jenes System, das ihn zwingt, aus seinen Fehlern Kapital zu schlagen, hat überhaupt erst zu den Fehlern geführt, die nun das irdische Überleben bedrohen, und drittens: Blinde Hoffnung auf ein happy ending rettet kein Leben, genauso wenig übrigens wie die Verzweiflung angesichts einer vermeintlich unaufhaltsamen Katastrophe. Beide Haltungen vereint die ruhige Erwartung einer vermeintlich unabwendbaren Zukunft.  

Ein alternatives Storytelling 

Wir müssen aber nicht nur aufhören, die eine Geschichte zu erzählen. Wir müssen vor allem andere Geschichten erzählen! Warum? Akteure und Aktanten, aktive Assemblagen produzieren Wirklichkeit, indem sie an der Erzeugung von Wissen durch Diskurse mitwirken. Gleichzeitig sind sie selbst produziert durch und solche Diskurse. Innerhalb der Diskurse aber sind nicht alle Akteure und Aktanten gleichermaßen mächtig. Um die bestehenden Machtverhältnisse aufzulösen oder zu ändern, muss man in die Diskurse eingreifen und das kann man laut Haraway, indem man neue Figuren erfindet, neue Metaphern oder Erzählungen. Ein anderes Wissen mit anderen Metaphern, Figuren und Erzählungen erzeugt andere Akteure, andere Machtverhältnisse, und andere Ausschlüsse. „Es macht einen Unterschied, welche Wissensformen Wissen wissen, welche Beziehungen Beziehungen schaffen, welche Geschichten Geschichten erzählen.“ – „Storytelling for earthly survival“ nennt Haraway diese Praktik.  

Aber wie nun könnte so ein alternatives Storytelling klingen oder aussehen?Um diese Frage zu beantworten, wendet sich Haraway erneut Le Guin zu, und ich folge ihrer Bewegung:„I would go so far as to say that the natural, proper, fitting shape of the novel might be that of a sack, a bag. A book holds words. Words hold things. They bear meanings. A novel is a medicine bundle, holding things in a particular, powerful relation to one another and to us. One relationship among elements in the novel may well be that of conflict, but the reduction of narrative to conflict is absurd. So, when I came to write science-fiction novels, I came lugging my carrier bag full of wimps and klutzes; full of beginnings without ends, of initiations, of losses, of transformations and translations, and far more tricks than conflicts, far fewer triumphs than snares and delusions; full of space ships that get stuck, missions that fail, and people who don’t understand. I said it was hard. I didn’t say it was impossible.“ 

In solchen herausfordernden Beutel-Geschichten herrscht Unruhe. „Missions that fail, and people who don’t understand“ sind darin ständig in Bewegung. Sie bilden keine notwendigen Widersacher, Proben, keine Wegweiser, oder Lehren auf dem einen zielgerichteten Weg. Sie werden in keine vorhersehbare Ordnung gebracht, sondern bleiben troubled und trouble maker.   

Auch Why ist troubled, Why ist unsicher, was seine Fehler angeht. Doch was er nicht weiß: Dass genau diese Unsicherheit die Haltung ist, die ihn/sie/uns vielleicht retten kann. „Staying with the trouble“ heißt meiner Meinung nach auch, unsicher zu bleiben im Umgang mit Fehlern. Es heißt, die Störung als Störung zu erhalten, vom Fehler als Fehler zu erzählen und ihn nicht zum Kapitel und Kapital in der eigenen Heldengeschichte zu verwandeln, nicht ins Geschenkpapier des Himmels zu wickeln, dessen einziger Bewohner der Held bzw. sein Ideal selbst ist. „Staying with the trouble“ heißt, sich nicht von Geschichten beruhigen lassen, die wissen, wie sie ausgehen. Es heißt, „wirklich gegenwärtig zu sein“, und nicht auf den Untergang oder das happy ending zu warten. Es heißt, wachsam zu bleiben, Unruhe zu stiften, aufzurütteln. Es heißt definitiv nicht Entscheidungs- und/oder Handlungsunfähigkeit – ganz im Gegenteil: es heißt, immer wieder zu entscheiden, sich dabei schuldig zu machen, handlungsfähig zu bleiben – gemeinsam, nicht allein als Held.

Ich sage nicht, dass Poof, Pow, Wow und Why nicht aus ihren Fehlern lernen sollen. Aber es macht einen Unterschied, ob sie sagen: Dieser Fehler ist genau das, was ich brauche, um zu lernen, was ich lernen muss, um dort anzulangen, wo ich sein soll. Oder ob sie sagen: Dieser Fehler bringt alles durcheinander, nun müssen wir damit umgehen. Wir haben keine Lehre daraus gezogen, denn die aus dem Fehler gezogene Lehre tendiert dazu, zum Dogma zu werden, die uns in falscher Sicherheit wiegt und zu neuen Fehlern führt. Aber wir haben doch etwas gelernt für jetzt. Vielleicht wäre es trotzdem besser gewesen, den Fehler nicht zu machen. Wer weiß.

„It’s way past time to make louder and to tell our self the stories of ongoing,the stories of the netbag“ sagt Haraway, „Geschichten, die nicht wissen, wie sie enden sollen,“ sagt sie, in denen Trauer und Scham ob der eigenen failures,faults und flaws kultiviert werden,sage ich, Geschichten über unsichere Wesen in unsicheren Relationen. Vielleicht wird sich Why dazu entscheiden, auf die Bühne zu treten und die Hose runterzulassen, wie Poof es ihm vorgeschlagen hat, vielleicht wird es ihm gelingen, dort keine Heldenstory zu erzählen, sondern von seinen unabgeschlossenen und ungenutzten Fehlern zu berichten, wer oder was daran auf welche Weise beteiligt war, welche Entscheidungen er mit wem getroffen hat, wie er mit wem damit umgegangen ist, welche Relationen sich daraus ergeben haben, und was er und alle anderen im carrier bag daraus gelernt haben, vielleicht wird es ihm gelingen, von seiner Unsicherheit zu berichten. 

Nun hab ich Why doch tatsächlich zum Antihelden dieser Geschichte gemacht, zum Antihelden, indem natürlich auch ein Held steckt. Das Heldennarrativ abzulegen, fällt offenbar auch mir schwer. „Staying with the trouble“ heißt, sich nicht zu verlassen, auch nicht auf den Wahrheiten der Antihelden und der persönlichen Helden. Es dürfte offensichtlich geworden sein: Ich übernehme mehr von Haraway und Le Guin als nur ein paar Slogans und eine Methode. Eigentlich möchte ich jedes ihrer Worte auf ein Kissen sticken, meinen Kopf darauf betten und ausruhen – ruhen bis alles aus ist. Aber das kann ich mir nicht erlauben.


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Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter - Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.
 

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