Interview mit Mona el-Shaiab  2 min Die Bedeutung des Geschichtenerzählens in der heutigen Welt

Interview mit Mona el-Shaiab © Goethe-Institut

Die Kunst des Geschichtenerzählens hat im Leben von Mona el-Shaiab schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Mit dem Radio als ständigem Begleiter ist sie aufgewachsen und ist heute selbst als Radiomoderatorin tätig. Im Interview spricht sie über die Besonderheit des Geschichtenerzählens in Ägypten, die Auswirkungen der Digitalisierung und warum Künstliche Intelligenz den menschengemachten Geschichten nicht das Wasser reichen kann.

Was hat Sie dazu inspiriert, selbst Geschichten zu erzählen? Welche Rolle hat das Geschichtenerzählen in Ihrem persönlichen und beruflichen Leben gespielt?

Ich bin in einem Haus aufgewachsen, in dem das Radio eine zentrale Rolle gespielt hat. Mein Vater hat zu Beginn jedes Tages das Radio eingeschaltet und es lief dann während des ganzen Tages im Hintergrund. Wenn wir uns auf den Weg zur Schule gemacht haben, wenn wir zu Mittag gegessen haben oder frühstückten. Auch wenn wir von der Schule zurückgekommen sind, war das Radio immer da mit all seinen Geschichten, seinen Sendungen, Geräuschen, kurzen Serien, dramatischen Situationen und Interviews. So bin ich schon zu Beginn meines Lebens mit dem Klang des Radios vertraut gemacht worden. Später bin ich der Ägyptischen Radio- und Fernsehunion beigetreten und war selbst Ansagerin im Radio.

Ich habe immer Geschichten erzählt - einige davon waren politisch, andere künstlerisch oder kulturell, aber ich habe immer versucht, das, was ich sagen wollte, in einer Geschichte auszudrücken.

Ich bin also mehr mit dem Klang als mit dem Bild verbunden. Wenn man Radio hört, hängt man am Klang und stellt sich die Person vor, die spricht, und die Ereignisse, die geschildert werden. Wenn man aber ein Bild hat, wird man von den Lichtern, den Gesten, den Gesichtern der Menschen und vielen anderen Elementen abgelenkt. So ist es schwierig, sich wirklich auf den Inhalt des Radios oder die Geschichte selbst zu konzentrieren.

Haben Sie eine Lieblingsgeschichte zum Thema Nachhaltigkeit?

Ich weiß nicht, ob es zur Idee der Nachhaltigkeit passt, aber ja, ich habe eine Lieblingsgeschichte: "Der Alchemist" von Paulo Coelho. Die Geschichte hat mich mein ganzes Leben lang sehr beeinflusst. Die Idee, dass man über seine Träume und Ziele nachdenkt und auf der Reise des Lebens sein Bestes gibt. Auf dieser Reise kann man ständig neue Dinge lernen.

Es ist der Weg, der zählt, nicht das Ziel. Und am Ende wird man bekommen, wonach man sucht, denn die ganze Welt wird dir helfen, wenn man die richtigen Absichten hat. Ich betrachte mein Leben, meine Karriere und meine Alltagssituationen immer als eine solche Reise. Und selbst wenn wir am Ende nicht das bekommen, was wir wollen, macht das nichts, solange wir uns als Person weiterentwickeln. Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten, und sie hat mich mein ganzes Leben lang beeinflusst.
 
Als Nation mit einem einzigartigen Erbe und einer sehr langen Geschichte haben wir eine Art des Geschichtenerzählens, die in unserem Charakter verwurzelt ist.
Mona el-Shaiab


Wie würden Sie den ägyptischen Stil des Geschichtenerzählens beschreiben?

Ägypten ist ein sehr gesprächiges Land. Wir reden immer miteinander und erzählen uns Geschichten - Frauen in der Nachbarschaft, Menschen auf der Straße, einfach überall.

Eine der beliebtesten Geschichten in vielen Dörfern Ägyptens ist Sira Hilaleia. Es ist eine Geschichte über eine Familie namens Bani Hilal und diese Familie erlebt sehr viel und muss zusammen einige Herausforderungen bewältigen. So sind sie von einem Ort zum anderen gezogen und hatten mit vielen Problemen zu kämpfen. Diese Familiengeschichte wurde in Tausenden Varianten erzählt. Wir haben also eine sehr starke verbale Kultur. Und diese verbale Kultur wurde später in eine schriftliche Kultur überführt. Aber als Nation mit einem einzigartigen Erbe und einer sehr langen Geschichte haben wir eine Art des Geschichtenerzählens, die in unserem Charakter verwurzelt ist. Ich denke, das gilt für jede Nation, die eine sehr starke Verbindung zu ihrer Kulturgeschichte hat, wie der Irak, der Libanon oder auch viele südamerikanischen Ländern. Wir alle haben ein mündliches Erbe, das später von Menschen, die nicht wollten, dass es verblasst oder verloren geht, in eine schriftliche Form gebracht wurde.

In den letzten Jahrzehnten ist eine neue Komponente ins Spiel gekommen: Die Digitalisierung. Die traditionellen Formen des Geschichtenerzählens werden durch digitale Formen erweitert. Wie sehen Sie die Möglichkeiten des digitalen Geschichtenerzählens?

Ich mag neue digitale Formate sehr. Aber wenn ich bei meiner eigenen Arbeit vergleiche, ob ich die Geschichte vor einer Kamera, vor einem Publikum oder nur mit meiner Stimme erzähle, ziehe ich die Stimme vor. Sie regt die Vorstellungskraft an. Sie gibt dem Publikum die Möglichkeit, über das, was man sagt, nachzudenken und sich mehr auf den Inhalt zu konzentrieren. Außerdem kann man mit seiner Stimme spielen oder die Musik variieren. Man kann mit so vielen Elementen spielen, die mehr Wirkung haben als ein Bild oder ein Video.

Was halten Sie vom Einsatz von KI-Tools für das Geschichtenerzählen?

Wir haben bereits versucht, mit künstlicher Intelligenz Geschichten zu erzählen und einige dieser Geschichten sind gut. Aber ich denke, dass diese Geschichten immer ihre Grenzen haben werden, denn es fehlt der menschliche Geist. Er fügt dem Drehbuch oder der Geschichte immer etwas Einzigartiges hinzu. Man kann der KI alle Informationen geben, aber man kann ihr nicht die menschliche Phantasie geben. Das ist die Kraft der Kunst. Sie ist etwas, das man fühlt. Man kann sie nicht einfach als Informationsinput geben.

Haben Sie Empfehlungen für Leser, die sich für das Geschichtenerzählen interessieren?

Lesen Sie so viel Sie können. Geschichten aus allen Kulturen und allen Sprachen. Sie werden überrascht sein, dass die Ideen aus aller Welt sehr ähnlich sind. Vielleicht gibt es einige Unterschiede aufgrund kultureller Unterschiede. Aber die Grundgedanken sind in allen Ländern der Welt gleich. Wenn Sie also viel lesen und aufmerksam zuhören, werden Sie schließlich Ihre eigene Geschichte finden. Dann wird man auch vielleicht in der Lage sein, sich selbst zu verstehen.

Wollen Sie noch etwas hinzufügen?

Ich möchte nur nochmal die Schönheit des Podcast-Formats hervorheben. Ich mag es nicht so sehr, wenn Podcasts auf dem Bildschirm visualisiert werden. Es gehen dabei viele Elemente verloren - vor allem die Vorstellungskraft. Wie kann man sich noch das Gesicht des Sprechers oder den Ausdruck seiner Gefühle vorstellen? Wenn man den Sprecher und alle Merkmale seines Gesichts sieht, achtet man weniger auf seine Stimme und die Geschichte. Man erkennt seine Stimme nicht, weil man von seinen Augen, seiner Nase und seinen Lippen abgelenkt ist. Es klingt paradox, aber wenn man einer Stimme nur zuhört, kann die Erfahrung viel tiefer gehen, als wenn man ein Video sieht.