Algerien

Sep. 2018

Migration  2 min Aïcha, 28 Jahre

Eine Frau, Aïcha, betrachtet die Hafenstadt Algier von einer Terrasse aus
Aïcha schaut auf einer Terrasse in Alger Richtung Hafen ©Goethe-Institut/Leïla Saadna
Ich lebe seit sechs Jahren in Constantine. Ich bin aus Mali zum Studieren hergekommen. Meine Familie war es, die Algerien ausgewählt hat. Ich wollte in die USA oder nach Kanada, aber meine Eltern wollten mich lieber in ein muslimisches Land schicken. Mir war es wichtig, frei und unabhängig zu sein.

Bevor ich herkam, dachte ich, dass Algerien ein offenes Land sei, in dem es sich gut zusammenlebt. Aber schon bei meiner Ankunft am Flughafen erlebte ich einen Schock. Sie starrten uns an, zeigten mit dem Finger auf uns, und jemand hat gerufen: „Welcome to Algeria, kahloucha!“ Ich erinnere mich genau an dieses Wort, ich wusste noch nicht, dass es eine Beleidigung war.

Am Tag meiner Ankunft in der Studentensiedlung war es das Gleiche, wir wurden ausgepfiffen. Später auf der Straße trug ich einen Afro, und ein Jugendlicher hat mir eine Zigarette in die Haare gesteckt. Sie hat ein Loch hineingebrannt. Eine alte Frau kam mir zur Hilfe und hat die Flamme gelöscht. Alle haben gelacht. Ich bin weinend nach Hause gerannt. Danach haben mir ein paar nette Mädchen beigebracht, wie man auf Algerisch jemanden beleidigt.

Je öfter ich hinausging, desto öfter wurde ich schikaniert, beleidigt oder geschlagen. Dauernd hieß es: „kalhoucha“ (die Schwarze, abwertend), „kahloucha zobbi“ (die Schwarze mein Schwanz), „nik mok“ (Fick deine Mutter), „roh bledek“ (Geh in dein Land zurück). Ich hatte immer solche Angst, dass sich mir der Magen zusammenzog. Es gab keinen Tag, an dem man mich nicht belästigte, schlug oder an den Haaren zog. Ich bekam eine schlimme Depression, wurde fast verrückt. Ich ging mit Stöcken bewaffnet hinaus, um mich zu verteidigen.

Ein Mädchen hat das Leben hier nicht ertragen; sie schaffte es nicht mal ihr Zimmer zu verlassen und schon im ersten Jahr versuchte sie sich umzubringen. Eine Woche später hat ihre Familie sie abgeholt. Ich konnte nicht nach Hause, denn ich habe mich geschämt und gedacht, dass mich meine Leute für unfähig halten würden zu studieren. Sie wissen nicht, was hier los ist.

Constantine ist eine besonders konservative Stadt. Es ist hier viel schlimmer als in Algier oder Bejaia. Die Jungen belästigen uns die ganze Zeit. Wenn sie ein Mädchen allein auf der Straße sehen, drehen sie durch. Sie bewerfen dich mit Kieseln, sie steinigen dich. Es kam mir so vor, als wollten mir alle wehtun. Also habe ich begonnen, mit Gewalt zu antworten. Sie schlagen mich, ich schlage sie, sie stoßen mich, ich stoße sie. Mein ganzes Studium hindurch waren morgens, mittags und abends Schlägereien angesagt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass so viel Brutalität in mir steckt, aber in Algerien kam alles aus mir heraus.

In der Studentensiedlung haben manche Mädchen zu mir gesagt, dass ich schön sei, aber das haben sie nur gesagt, um sich über mich lustig zu machen. Andere waren so erschrocken, eine Schwarze zu sehen, dass sie erstarrten oder losschrien und wegrannten. Manchmal kamen danach welche zu mir, um sich zu entschuldigen. Ich habe auch Freunde gefunden, die wirklich für mich da waren und mich in ihre Familien eingeladen haben. Diese Freundschaften sind für mich die schönste Erinnerung, die ich an Constantine habe.

Durch mich haben sich an der Universität viele Dinge geändert. Am Anfang haben die ausländischen Studenten sehr wenig mit den Algeriern gesprochen, sie behielten ihre Kopfhörer auf, um in Ruhe gelassen zu werden. Sie hatten nichts, um sich zu verteidigen, keinen Ort, an dem sie sich beschweren konnten. Aber ich habe mich jedes Mal geprügelt, wenn mich jemand beleidigt hat und bin zur Leitung gegangen. Von da an wurden die schwarzen Studenten mehr respektiert. Eines Tages sagte ein Mädchen zu mir: „Dank dir kann ich jetzt meine Kopfhörer abnehmen. Ich werde nicht mal mehr beleidigt.“ Durch Gewalt habe ich mir Respekt verschafft.
 
Wir schwarzen Studentinnen bildeten eine Art Familie – mit viel Solidarität. Die Älteren kümmerten sich um die Neuen. Sobald eine von uns ein Problem hatte, waren wir alle zur Stelle.

Die Leitung sagt, dass sie für uns da ist. Es stimmt, dass wir die, die uns belästigen, anzeigen können und die Leitung sanktioniert sie mit bis zu einem Jahr Ausschluss. Aber sie tut nichts, um die Studenten zu sensibilisieren, außer dass sie uns in Arbeitsgruppen aufteilt, damit wir uns mit den Algeriern mischen. Sie will, dass wir uns integrieren, aber die wollen keine Integration. Viele Mädchen haben bei den Professoren Rassismus erlebt. Eine Lehrerin hat ein Mädchen gefragt: „Bist du ein Mann oder eine Frau? Bei den Schwarzen kann ich es nicht unterscheiden.“

Die algerische Gesellschaft ist für mich verschlossen und rassistisch. Die Schwarzen werden von vielen noch als Sklaven gesehen, wie eine minderwertige Rasse. Die Bilder, die man hier von Schwarzafrika sieht, sind die von Krankheit, Hungersnot und Menschen, die in Dörfern weitab der Zivilisation leben. Es laufen nur wenige Dokumentationen über Afrika, die afrikanische Geschichte wird nicht gelehrt, und die Algerier sehen sich selbst nicht als Afrikaner. Man müsste ihnen beibringen, dass die Menschen, die herkommen, zu bedeutenden Ländern gehören und dass auch sie Afrikaner sind. Sie kennen abgesehen von der algerischen Revolution und dem „Schwarzen Jahrzehnt“ ihre Geschichte nicht. Wie sollen sie die Schwarzen also respektieren? Die Gesellschaft hat sie verdummen lassen. Sie sind wie Schafe, während die Mächtigen sich bereichern.

Als ich wieder nach Hause kam, rechnete meine Mutter damit, dass ich religiös geworden war, den Hijab trage. Ich hatte einen rasierten Schädel wie ein Rockstar. Die Arme bekam am Flughafen beinahe einen Herzinfarkt. Sie sagte zu mir: „Wo warst du?“ „Na, ich war in Algerien!“ „Aber was ist mit deinen Haaren passiert?“ „Deine Algerier, die braven Muslime dort, haben sie mir verbrannt!“.
 

Fotografin Leïla Saadna

Leïla Saadna produziert Dokumentarfilme und visuelle Kunst. Sie lebt und arbeitet seit zwei Jahren in Algier. Nach dem Studium der Bildenden Künste in Paris hat sich Saadna filmischen und künstlerischen Dokumentarprojekten zugewandt, die engagiert und poetisch sind. Die Themen ihrer Arbeit und Recherchen sind postkoloniale Migrationsgeschichten, Aussagen und Kämpfe von Personen, die von Formen der merkmalübergreifenden Unterdrückung betroffen sind, wie Rassismus und Sexismus; und insbesondere die Erlebnisse von Frauen im postkolonialen Kontext.