Gemeinsam erkunden die algerische Amazigh- Sängerin Amal Zen und der gefeierte Percussionist Hajar Zahawy aus Irakisch-Kurdistan die Nähe zweier Musikstile aus zwei Kontinenten. Ihre gemeinsame Produktion vereint Know-How und Leidenschaft beider Künstler in einem gemeinsamen Track. Nach ihrem ersten virtuellen Aufeinandertreffen während des Mirath:Music Projekts fand Amel Zen Wärme und Vertrautheit in den Rhythmen des kurdischen Künstlers.
“Old Roots New Leaf” oder “Mirage” ist die spontane Begegnung beider künstlerischer Welten und bringt über Improvisation das Beste aus beiden Musikkulturen zusammen. Die Gesangsimprovisation ist inspiriert von unterschiedlichen nordafrikanischen, maghrebinischen und spezifischen algerischen Modi. Ihre Melodien reisen durch das Bergland von Dahra und Tibaza bis in die kabylische Djurdjura. Sie durchqueren die Sahara, wo der berühmte Tindi-Musikstil zu hören ist, und mischen sich mühelos mit den verschiedenartigen kurdischen Rhythmen Hajar Zahawys.
Dieser Track wurde im Rahmen virtueller Zusammenarbeit und virtuellen Austausches produziert. Der kurdische Percussionist schickte Aufnahmen seiner Arbeit an Amel. Auf die erhaltenen Rhythmen legte diese wiederum in einer einzigen Aufnahme ihre intuitive und spontane Gesangsimprovisation, ohne eine einzige Pause oder erneute Aufnahme zu benötigen.
"Dieses Zusammenkommen zeigt eine Vertrautheit zwischen uns, die sich nicht nur in unserer Musik, sondern auch in den Kämpfen unserer Völker niederschlägt. Amazigh und Kurden haben seit langer Zeit dafür gekämpft, ihre Kulturen, Identitäten und Existenzen zu bewahren und ihre Unterdrückung und koloniale Geschichte sind hörbar in der Musik unserer Völker. „Mirage” bricht mit der Illusion einer falschen Geschichte und bezeugt das musikalische Kulturerbe: ein lebendiger Zeuge der Geschichte unserer Völker und ihrer Identitäten.”
Amel Zen
Dauer: 4’54
Komposition: Hajar Zahawy (Rhythmus), Amel Zen (Melodie)
Gesang: Amel Zen
Instrumentierung: Daf, verschiedene Percussion-Instrumente, Synthesizer
Aufnahme: 2021
Das Warum hinter der Musik
Ein starkes Zeugnis von Geschichte und Identitäten – Amel ZenDas Bedürfnis, sich auszudrücken, zu kommunizieren und eine Spur der eigenen Existenz zu hinterlassen, ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Von Felsenzeichnungen bis hin zum Aufbau der großen Imperien sind Menschen in ihrer Konzeption von Geschichte und Zivilisation diesem Bedürfnis nach Selbstausdruck gefolgt. Heute gelten diese Zeugnisse menschlichen Schaffens als materielles Kulturerbe. Neben den unbeweglichen sichtbaren Spuren der Imperien besteht allerdings noch eine weitere Form von Erbe: ein stärkeres, lebendigeres Erbe, eines, das über seine essentielle Verbindung zu Sinneswahrnehmungen und Empfindungen mit dem Leben und der Menschheit weiterbesteht. Diese Form von Erbe verstehen wir als immaterielles Kulturerbe.
Die Faszination für die Kraft und Wirkmacht, die Klänge und Musik vom Beginn der Zeiten an in unseren Leben entfalten, stehen im Zentrum meines Schaffens. In meiner Arbeit folge ich den engen Verbindungen zwischen diesem Erbe und sozialem, kulturellem, historischem und politischen Leben um darüber mein eigenes Umfeld und die größere globale Gemeinschaft besser zu verstehen.
Ausgehend von meinem eigenen Erbe, das sich aus nordafrikanischen, maghrebinischen und Amazigh-Einflüssen speist, spiegelt meine Musik meinen Lernprozess und meine Eindrücke aus mehr als einem Jahrzehnt musikalischer Produktion wider. Meine Arbeit soll Brücken zwischen Menschen und Kulturen bauen und gleichzeitig den Unterschieden in Hinblick auf Ethnizität, Religion, Kultur und Gender gerecht werden, die uns als Menschen mit algerischem, nordafrikanischem und Amazigh-Hintergrund und gleichzeitig als Mitglieder einer Weltgemeinschaft prägen.
In Nordafrika haben verschiedene Kolonialisierungen und nihilistische politische Projekte wie der Panarabismus versucht, die amazighische Identität und Kultur auszulöschen. Der Panarabismus vereinte die nordafrikanischen Länder unter dem Begriff der „arabischen Welt“ als einer einzigen kulturellen Entität und brachte damit einige Verwirrung zwischen Ethnizitäten und linguistischen Zugehörigkeiten hervor. Folglich wurde jeder Ausdruck von Diversität behindert und indigene Amazigh-Gemeinschaften unterdrückt. Trotz aller Widerstände, die den Amazigh entgegengebracht wurden, konnte unser musikalisches Erbe in Nordafrika durch mündliche Überlieferung fortbestehen. Nach Jahren des Protests und der Kämpfe und in tiefem Respekt vor den Erinnerungen und Forderungen derjenigen, die im sogenannten „Berberfrühling“ von 1980 und im „schwarzen Frühling“ des Jahres 2001 ihr Leben gelassen haben, haben wir es geschafft, dass Tamazigh als offizielle Sprache anerkannt wurde. Dies ist auch den Forderungen der vielen Kämpfer und Aktivisten in Marokko zu verdanken. Trotzdem bleibt noch einiges zu tun, damit unsere Kultur anerkannt und gesehen wird.
Im Rahmen musikalischen Kulturerbes beschäftige ich mich damit, den Kampf für amazighische Kultur und Identität in der Region fortzusetzen, weil für mich die Rehabilitation der Geschichte und Identitäten der Völker dringend notwendig ist. Dabei geht es um mehr als um einen Akt des Bewahrens. Es ist ein Akt des Widerstands und Überlebens, die Pflicht, sich zu erinnern und zu erinnern.
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November 2021