Koloniale Kontinuitäten Biafraland und ein Doppelgänger aus der Vergangenheit, die es niemals gab

Dekolonisierung – Auf diesem Foto vom Sonntag, 28. Mai 2017 versammeln sich Mitglieder einer Biafra-Separatistenbewegung während einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria. Die Mitglieder gedenken ihrer gefallenen Helden 50 Jahre nach dem nigerianischen Bürgerkrieg, in dem mehr als eine Million Menschen bei dem Vorhaben starb, einen Staat für das Volk der Igbo zu schaffen.
Auf diesem Foto vom Sonntag, 28. Mai 2017 versammeln sich Mitglieder einer Biafra-Separatistenbewegung während einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria. Die Mitglieder gedenken ihrer gefallenen Helden 50 Jahre nach dem nigerianischen Bürgerkrieg, in dem mehr als eine Million Menschen bei dem Vorhaben starb, einen Staat für das Volk der Igbo zu schaffen. | Foto (Detail): Lekan Oyekanmi © picture alliance/AP Photo

In vielen afrikanischen Staaten sind die Umbrüche und die Krisenanfälligkeit häufig auch auf das koloniale Erbe zurückzuführen. Richard Ali benennt in seiner kritischen Analyse der Lage in Nigeria weitere Ursachen und liefert Lösungsansätze.

„Natürlich, natürlich, aber ich behaupte, die authentische Identität eines Afrikaners verdankt sich einzig seinem Stamm“, sagte (Odenigbo). „Ich bin Nigerianer, weil ein weißer Mann Nigeria geschaffen und mir diese Identität gegeben hat. Ich bin schwarz, weil die Weißen das Schwarze als größtmöglichen Gegenpol zu ihrem Weiß konstruiert haben. Aber ich war ein Igbo, bevor der weiße Mann kam“, so Chimamanda Ngozi Adichie in Die Hälfte der Sonne.

Nigeria – das koloniale Projekt Großbritanniens und mit mehr als 200 Millionen Menschen das bevölkerungsreichste Land Afrikas. Das Land, dessen schiere Energie uns mit Lagos den Albtraum einer Stadt und mit Nollywood eine riesige Traumfabrik beschert hat, durchlebt eine Krise, deren Ursprung im Aufeinandertreffen mit Europa vor einem Jahrhundert liegt. Der Einfluss Europas findet sich noch heute in den geografischen und anthropologischen Kategorien wieder, die in dieser Zeit entwickelt oder befördert wurden, wie beispielsweise das Stammessystem oder das Konzept von Grenzen. Diese Kategorien führten dazu, dass sich auf dem gesamten Kontinent separatistische Bewegungen ausbreiteten, die sich gegen die offiziellen Staaten zur Wehr setzen. An ihrer Spitze stehen Männer, die sich als Revolutionsführer ausgeben, obwohl sie etwas ganz anderes verkörpern. In diesem Zusammenhang gehört Biafraland in meiner Heimat zu den neuesten Entwicklungen.

Eine gekaperte Vision

Biafraland geht auf die Vereinnahmung der ehemaligen Bewegung für die Verwirklichung eines souveränen Staates Biafra (Movement for the Actualisation of the Sovereign State of Biafra, MASSOB) im Jahr 2012 durch den Betreiber ihres Londoner Piratensenders, Mazi Nnamdi Kanu (MNK), zurück. MNK nennt seine Splittergruppe die Independent People of Biafra (IPOB) und setzt den Kult um seine Person mit Hilfe eines jüdisch angehauchten Symbolismus und dem Image eines Enfant Terrible des Jingoismus fort. Während die MASSOB nach der Selbstbestimmung einer durch die Briten geschaffenen Verwaltungseinheit strebte, wünschen sich die IPOB die Herrschaft einer solidarischen Stammesgemeinschaft, die vor der Ankunft der Europäer*innen gar nicht existierte.
  • Dekolonisierung – Archivfoto 29. Februar 2012: Igbo-Männer auf Motorrädern mit Biafra-Flagge auf einer Straße in Nnewi, Nigeria. Nigerias Militär hat mindestens 150 friedliche Demonstranten in einer „abschreckenden Kampagne” getötet, um erneute Forderungen zu unterdrücken, einen abtrünnigen Staat Biafra im Südosten zu schaffen, sagte Amnesty International Donnerstag Nov. 24, 2016 © AP Photo/Sunday Alamba, File
    Archivfoto 29. Februar 2012: Igbo-Männer auf Motorrädern mit Biafra-Flagge auf einer Straße in Nnewi, Nigeria. Nigerias Militär hat mindestens 150 friedliche Demonstranten in einer „abschreckenden Kampagne” getötet, um erneute Forderungen zu unterdrücken, einen abtrünnigen Staat Biafra im Südosten zu schaffen, sagte Amnesty International am 24. November 2016
  • Dekolonisierung – Auf diesem Archivfoto vom 28. Mai 2017 hält Uboha Damia, ein 75-jähriger Biafra-Veteran, eine Biafra-Flagge, während sich Mitglieder der biafrischen Separatistenbewegung bei einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria, versammeln. © Lekan Oyekanmi / picture alliance / AP Photo
    Auf diesem Archivfoto vom 28. Mai 2017 hält Uboha Damia, ein 75-jähriger Biafra-Veteran, eine Biafra-Flagge, während sich Mitglieder der biafrischen Separatistenbewegung bei einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria, versammeln.
  • Dekolonisation – Auf diesem Foto vom 28. Mai 2017 singen und klatschen Mitglieder einer Biafra-Separatistenbewegung, während sie sich während einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria, versammeln. Die Mitglieder gedenken ihrer gefallenen Helden 50 Jahre nach dem nigerianischen Bürgerkrieg, in dem mehr als eine Million Menschen bei dem Vorhaben starb, einen Staat für das Volk der Igbo zu schaffen. © Lekan Oyekanmi / picture alliance / AP Photo
    Auf diesem Foto vom 28. Mai 2017 singen und klatschen Mitglieder einer Biafra-Separatistenbewegung, während sie sich während einer Veranstaltung in Umuahia, Nigeria, versammeln. Die Mitglieder gedenken ihrer gefallenen Helden 50 Jahre nach dem nigerianischen Bürgerkrieg, in dem mehr als eine Million Menschen bei dem Vorhaben starb, einen Staat für das Volk der Igbo zu schaffen.
  • Dekolonisation – Nigerianer*innen vom Stamm der Igbo in traditioneller Kleidung versammeln sich am 9. Dezember 2013 vor dem Haus des damals gerade verstorbenen südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela in Johannesburg, Südafrika, um der Anti-Apartheid-Ikone Respekt zu zollen. © Ian Langsdon / picture alliance / dpa
    Nigerianer*innen vom Stamm der Igbo in traditioneller Kleidung versammeln sich am 9. Dezember 2013 vor dem Haus des damals gerade verstorbenen südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela in Johannesburg, Südafrika, um der Anti-Apartheid-Ikone Respekt zu zollen.
  • Dekolonisation – Igbo-Stammeschefs, Nigeria, Aufnahmedatum 23.05.2013 © Sunday Alamba / picture alliance / AP Photo
    Igbo-Stammeschefs, Nigeria, Aufnahmedatum 23.05.2013
Bevor Nigeria seinen heutigen Namen erhielt, war es ein Gebiet, das an einem Winkel des afrikanischen Kontinents die Küste mit dem Binnenland verband und in dem fruchtbarer Regenwald in goldene Savanne überging. Seine gewundene Küstenlinie verdankt das Land drei geografischen Besonderheiten: den Buchten von Benin und Biafra und dem Flussdelta des Niger. Flussaufwärts des Niger in Richtung Lokoja teilt sich der Süden Nigerias in zwei nahezu gleiche Hälften. In Lokoja mündet der mächtige Benue in den Niger, bevor dieser seinen Weg durch Westafrika bis zum Quellgebiet im Fouta Djallon fortsetzt. Niger und Benue bilden an ihrem Zusammenfluss eine natürliche Barriere in den Norden Nigerias, das sich tatsächlich nur nördlich des Niger-Benue-Ufers erstreckt. Die als Nordnigeria bekannte ehemalige Verwaltungseinheit, die das Niger-Benue-Becken einschloss, war doppelt so groß wie der Süden und beherbergte zwei Drittel der Bevölkerung des Landes. Diese Tatsache führte zum ersten Militärputsch des Landes im Januar 1966, der vor allem von jungen Igbo-Offizieren angeführt wurde, die vorgaben, die politische Landkarte durch die Ermordung der nord- und westnigerianischen Elite neu zu ordnen. Darauf folgte ein Bürgerkrieg, der schätzungsweise drei Millionen Menschen das Leben kostete.

Kleptokratie als System

Nach Kriegsende im Jahr 1970 lautete die Strategie „kein Sieger, keine Besiegten“. In deren Folge bildete sich eine multiethnische Elite, die sich gemeinschaftlich die Petrodollar-Einnahmen des Landes in die eigene Tasche wirtschaftete und im selben Atemzug ein System der Patronage errichtete. Dieser Elite gehörten alle ethnischen Gruppen des Landes aus der Privatwirtschaft, dem Militär und dem Staatsdienst an. Die Verschlechterung der Lebensqualität und der öffentlichen Dienstleistungen, die weit verbreitete Korruption unter Staatsbediensteten und die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich, die wir heute erleben, nahm in dieser Zeit ihren Lauf.

Die Tatsache, dass Nigeria sein Potenzial nicht ausschöpfen kann, lässt sich unmittelbar auf die Ausbeutung des Staates durch eine Elite zurückführen, die sich selbst nur in Größenordnungen aus der Zeit der kolonialen Konfrontation wahrnehmen kann, als Wettbewerb und Beschränktheit auf Kosten von Zusammenarbeit und Inklusion im Vordergrund standen. Um den gemeinsamen Wohlstand zu erbeuten, sahen sie sich gezwungen, immer engere Identitätsmerkmale und immer niedrigere Leistungsstandards einzuführen. Durch die Festlegung neuer Prioritäten wurden schließlich Mitbürger*innen ausgegrenzt und Marginalisierungsproteste gerechtfertigt, wodurch sich diese Elite in immer kleineren subnationalen Einheiten zu legitimieren verstand. An dieser Stelle kommt MNK mit seinem Biafraland ins Spiel.

„Aus dieser Perspektive betrachtet geht es bei Biafraland und vergleichbaren separatistischen Bewegungen, ganz gleich, ob sie religiös oder kulturell motiviert sind, im Grunde um koloniale Kontinuitäten und nicht um die Umbrüche, die sie angeblich zum Ziel haben. “

Der ghanaisch-amerikanische Philosoph Kwame Anthony Appiah ging in seinem Beitrag „Mistaken Identities“ zur BBC-Vortragsreihe Reith Lectures im Jahr 2016 auf das zutiefst betrügerische Verhalten dieser Geschäftsleute ein. Die Gewissheiten, auf die Separatist*innen ihre Solidaritätsforderungen stützen, seien frei erfunden. Das Biafraland des MNK beruhe auf der fiktiven Vorstellung, dass es in der Vergangenheit das soziopolitische Mischkonstrukt einer Igbo-Identität gegeben habe, wohingegen die Wirklichkeit so ausgesehen habe, dass die kulturelle Annäherung unterschiedlicher Völker über eine Sprache stattfand, die ihren Ursprung ungefähr in der Zeit der Austrocknung der Sahara im Jahr 3500 v. Chr. hatte. Und Biafraland schneidet auch nicht besser ab, wenn es als geografische Einheit des ehemaligen Ostnigeria definiert wird, denn dort gibt es neben, aber unabhängig von den Igbo tatsächlich eine multiethnische Gemeinschaft verschiedener Gruppen. Um diesen Makel der Multiethnizität zu korrigieren, schlägt MNK mit dem Konzept eines „angestammten Landes der Igbo“ eine Lösung vor, die das von ihm gewünschte geografische Gebiet umfasst. MNKs Biafraland ist nicht mehr als ein kleines Land, in dem sein Volk der Igbo die ethnische Mehrheit bildet und in dem Zwangsassimilierung oder Genozid als legitime Möglichkeit gelten, um die rauen Kanten zu glätten. Doch das Konzept der Zwangsassimilierung stammt vor allem aus der Zeit der Kolonialherrschaft und ist in Afrika definitiv erst seit etwa einem Jahrhundert bekannt. Genozid als ernstzunehmende soziokulturelle Strategie stammt ebenfalls aus dieser Zeit und geht auf den europäischen Nationalismus und die Industrialisierung des Krieges zurück. Wie kann die Marschroute für die Zukunft ihren Ursprung in einer Vergangenheit haben, wenn es in dieser Vergangenheit keinerlei Vorstellung von derart monströsen Dingen gab?

Aus dieser Perspektive betrachtet geht es bei Biafraland und vergleichbaren separatistischen Bewegungen, ganz gleich, ob sie religiös oder kulturell motiviert sind, im Grunde um koloniale Kontinuitäten und nicht um die Umbrüche, die sie angeblich zum Ziel haben. Ihre Verfechter*innen sind in Wirklichkeit keine Revolutionär*innen, sondern Doppelgänger*innen aus der Vergangenheit, die es niemals gab.

„Wenn wir eine Revolution wollen, müssen wir uns mit den Waffen der modernen Technologien und dem richtigen Selbstverständnis – als Afrikaner*innen – ausstatten, das in der Vergangenheit begründet liegt.“

Afrikas Vergangenheit als Insel, die lediglich von Ozeanen begrenzt wurde, lässt sich am Beispiel der Kwararafa erläutern. Die Kwararafa waren ursprünglich ein nilotisches Volk, das im Zuge einer Migrationswelle das Niger-Genue-Gebiet besiedelte und dort bis zum Jahre 1600 v. Chr. ein mächtiges Handelsbündnis errichten konnten. Aus welchem Gebiet des Niltals diese meine Vorfahren auch stammen mochten, sie hatten ihre Sprachen und Kulturen verloren und ließen sich nicht mehr von anderen nigerianischen Volksgruppen – beispielsweise den Igala, den Jukun, den Goemai – unterscheiden, weil sie sich auf organische Weise in einem für beide Seiten vorteilhaften Geben und Nehmen angepasst hatten. Auf dieser imaginären afrikanischen Insel verließen auch Proto-Bantu-Sprecher*innen im Jahr 1000 v. Chr. in mehreren Migrationsbewegungen ihr kamerunisches Kernland in Richtung Süden. Aus ihnen gingen die verschiedenen Volksgruppen hervor, die heute Lingala, Shona, Kinyarwanda, Kikuyu, Swahili und Hunderte anderer Sprache sprechen.

Lösungsansätze auf dem Kontinent

Wenn wir eine Revolution wollen, müssen wir uns mit den Waffen der modernen Technologien und dem richtigen Selbstverständnis – als Afrikaner*innen – ausstatten, das in der Vergangenheit begründet liegt. Doch dabei kann es nicht darum gehen, die bequeme Version der Geschichte zu wählen, die nur sechzig Jahre zurückliegt, wenn unsere gesamte Geschichte einen Zeitraum von siebentausend Jahren umspannt.

Wenn unsere Vorfahr*innen keine Vorstellung von geografischen oder anthropologischen Grenzen hatten – warum sollten wir dann heute darauf bestehen? Revolutionäres Denken kann womöglich schon darin bestehen, zu erkennen, dass unsere Ahnen nicht in Grenzen dachten und wir dies auch nicht tun sollten. Dass alle Menschen in Afrika Afrikaner*innen sind und dass wir nach einem Kontinent streben sollten, auf dem verschiedene Völker mit gemeinsamen Vorfahren und gemeinsamer Abstammung auf der größten Insel der Welt in Eintracht zusammenleben. Und nicht nach einer Aufteilung in kleine unbedeutende Machtgefüge, die sich auf die Bekräftigung festgezurrter kolonialer Konzepte von Sprache, Geografie und Identität stützen. Wie es in MNKs Biafraland der Fall wäre.