Das historisch geprägte Anti-Schwarzsein in Deutschland Das Schweigen muss ein Ende haben

Eine afrikanische Maske auf einem Tisch mit Werkzeug
Eine afrikanische Maske auf einem Tisch mit Werkzeug in einem Kurs für afrodeutsche Kinder 2015 in Berlin | Foto (Detail): Tim Brakemeier © picture alliance / dpa


 

Auf der Haifischinsel, einer schmalen Halbinsel an der Küste Namibias, errichtete das Deutsche Kaiserreich sein erstes Konzentrationslager. Dorthin wurden die im Kolonialkrieg von 1904 bis 1908 Gefangenen deportiert, unter anderem, um Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie von Aus nach Lüderitz zu leisten. Insgesamt wurden beim ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts fast 100.000 Nama und Herero getötet. Mit der Ankunft deutscher „Wissenschaftler“ wie dem Anthropologen Eugen Fischer begann auf der sogenannten Toteninsel eine neue Epoche mörderischer Eugenik mit dem Ziel, gesamte Ethnien zu eliminieren. Fischer sollte später, unter der Herrschaft der Nazis, zu den führenden Rassenhygienikern aufsteigen. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts sammelte er in Namibia die Schädel von Gefangenen und „erforschte“ an den Rehoboth Basters –Menschen, die aus Verbindungen von Nama‑Frauen mit Buren hervorgingen – die Mendelschen Vererbungsregeln. Damit legte er den Grundstein für die späteren Zwangssterilisationen der „Rheinlandbastarde“ durch die Nazis. Diese Bezeichnung stammt aus Zeiten, als französische Truppen das Rheinland besetzten – unter ihnen waren auch Soldaten aus Afrika. Aus Verbindungen mit einheimischen Frauen gingen afrikanisch‑deutsche Kinder hervor, die, ebenso wie ihre Mütter, erheblich diskriminiert wurden.

Nachdem Deutschland infolge des Ersten Weltkriegs seine afrikanischen Kolonien verloren hatte, sollte es Europa in einen Leichenacker verwandeln.

Mehr als ein Jahrhundert später beginnt Deutschland – das weltweit als Vorbild für die eigene historische Aufarbeitung gilt – im Flüsterton darüber zu sprechen, dass in seiner ehemaligen afrikanischen Siedler*innenkolonie ein Völkermord stattgefunden haben könnte.

„Heilung der Wunden“

Im Sommer 2020 lehnte Namibia Deutschlands verspätetes und dürftiges Angebot einer Entschädigung von zwölf Millionen Euro ab. Das tat Namibia nicht nur, weil die Summe beleidigend gering war, sondern weil Deutschland sich weder entschuldigte noch das Morden als „Völkermord“ anerkannte. Und weil es die Reparationen nicht als „Reparationen“, sondern als „Heilung der Wunden“ bezeichnete.

Im Mai dieses Jahres erkannte Deutschland die Verbrechen des Deutschen Kaiserreichs an Herero und Nama schließlich doch als Völkermord an. Nach fünfjährigen Verhandlungen bot die Bundesregierung ein 30 Jahre lang währendes, insgesamt 1,1 Milliarden Euro umfassendes Wiederaufbau- und Entwicklungsprogramm an – ausdrücklich nicht als Entschädigungs- oder Reparationszahlung.

„Das so genannte Abkommen ist eine eklatante Missachtung unserer legitimen Wiedergutmachungs- und Restitutionsforderungen“, heißt es in einer Petition von indigenen Gemeindeführern und der parlamentarischen Opposition, die dem stellvertretenden Parlamentspräsidenten am 21. September 2020 übergeben wurde. Die Gegner*innen protestierten damit gegen die Abstimmung der namibischen Nationalversammlung über das Abkommen. Expert*innen hatten argumentiert, dass Reparationen „nicht praktikabel“ seien. So konstatierte der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer im Guardian: „Reparationszahlungen an Namibia könnten einen Präzedenzfall für Belgien und den Kongo, Frankreich und Algerien oder Großbritannien und seinen Sklavenhandel schaffen. Das wissen auch die Nachfahren der Herero [und der Nama].“ Und das weiß auch die ganze Welt.

Das Ausmaß des Anti‑Schwarzseins

Es ist doch widersprüchlich, dass sich die Bundesregierung weigert, Reparationen für Kolonialverbrechen an afrikanische Länder zu zahlen, während die Deutschen doch grundsätzlich dafür bekannt sind, ihre Zahlungsversprechen einzuhalten. So habe ich, wie viele andere Schwarze Autor*innen aus aller Welt, viele solide finanzierte Einladungen von so unterschiedlichen Organisationen wie dem Goethe‑Institut oder dem Berliner African Book Festival erhalten. Die über viele Jahre staatlich subventionierte Berliner Kunstszene hat eine Art gegenkulturelle Hauptstadt der Welt etabliert – bemerkenswert offen für Menschen, Ideen und Kulturen.

Und dennoch: Bereits 1984 war sich die berühmte karibisch‑amerikanische Dichterin Audre Lorde während ihrer acht transformativen Jahre in Westberlin über das historisch geprägte Anti‑Schwarzsein in Deutschland im Klaren. Auch wenn die staatlich geförderte Kunstszene sie feierte und ihr einen „gewissen geschützten Raum gab“, bewegte das, was sie erlebte, Lorde zu ihren Gedichten Berlin Is Hard on Colored Girls und East Berlin December 1989. Gemeinsam mit May Ayim, Katharina Oguntoye und Helga Emde gründete sie schließlich die afrodeutsche Bewegung.

Das Ausmaß des Anti‑Schwarzseins der liberalen und humanistischen Nachkriegswelt zeigt sich darin, dass Deutschland trotz seiner Nazi‑Vergangenheit für seine Demut gefeiert werden kann, obwohl es weder seine Untaten wie die Einberufung der Berliner Afrikakonferenz von 1884/85, noch den Völkermord an den Nama und Herero oder die Tötung von mehr als 350.000 Menschen bei der Niederschlagung des Maji‑Maji‑Aufstands bereute. Ganz zu schweigen von seiner historischen, oft mörderischen Exklusion afrodeutscher Menschen innerhalb seiner eigenen Grenzen.

Farbe bekennen

Vielleicht liegen die Wurzeln für Deutschlands nationale, kulturelle und institutionelle Unfähigkeit, die Sünden seiner dunklen Vergangenheit zu bereuen, im historischen Anti‑Schwarzsein der Geschichte selbst. Schließlich hatte Hegel, der deutsche Titan der westlichen Philosophie, der modernen Welt bereits ein halbes Jahrhundert vor dem Beginn des „Wettlaufs um Afrika“ seine Vorstellung von afrikanischer Ahistorizität ausführlich dargelegt. Wenn Afrika und seine Nachkommen gemäß Hegels Philosophie der Weltgeschichte (1837) keine Geschichte haben, niemals Gegenstand der Geschichte und somit auch niemals Autor*innen der Geschichte sein können: Vor welcher Geschichte der Schwarzen müssen dann Deutschland und der Westen überhaupt Rechenschaft ablegen?

„Das Ausmaß des Anti‑Schwarzseins der liberalen und humanistischen Nachkriegswelt zeigt sich darin, dass Deutschland trotz seiner Nazi‑Vergangenheit für seine Demut gefeiert werden kann, obwohl es weder seine Untaten wie die Einberufung der Berliner Afrikakonferenz von 1884/85, noch den Völkermord an den Nama und Herero oder die Tötung von mehr als 350.000 Menschen bei der Niederschlagung des Maji‑Maji‑Aufstands bereute. Ganz zu schweigen von seiner historischen, oft mörderischen Exklusion afrodeutscher Menschen innerhalb seiner eigenen Grenzen.“

Anderthalb Jahrhunderte nach Hegels Erklärung, dass Afrika keine Geschichte habe, verkündeten May Ayim und Katharina Oguntoye in ihrer Schrift Farbe bekennen: Afro‑deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte (1986), dass die Unterdrückung Schwarzer Geschichte eine Unterdrückung der deutschen Geschichte sei. Ayim und Oguntoye brachten ihr wegweisendes Werk mit einem Vorwort von Lorde heraus – das erste Buch, das die kollektive Identität von Afrodeutschen mutig kundtat: „Unsere Geschichte beginnt nicht erst nach 1945. Vor unseren Augen steht unsere Vergangenheit, eng verbunden mit der kolonialen und nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands.“

Und woher kommen Sie?

In Farbe bekennen wird die Geschichte der Schwarzen ab dem Mittelalter ebenso beleuchtet wie das zunehmende Anti‑Schwarzsein in den Epochen der Sklaverei, der Genozide, des Kolonialismus bis zu den interethnischen Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Schwarzen Männern alliierter Truppen während dreier historischer Phasen nach bedeutenden Kriegsniederlagen: der Rheinlandbesetzung, der Okkupation durch die Alliierten und der Nachkriegsjahre ab den 1950er‑Jahren. Die Leben der Schwarzen Protagonist*innen von Farbe bekennen, deren deutsche Vergangenheit generationenübergreifend ist und die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, zeugen von einem Deutschland, das noch sehr von einem Deutsch‑Sein als ausgeprägtem rassischen und kulturellen völkischen Erbe bestimmt ist: „Und woher kommen Sie? Und Ihr Vater? Und Ihre Mutter?“ Zwar blieben ihnen die Todeslager, Sterilisationen und Zwangsabtreibungen erspart, die die „Bastardkinder“ der deutschen Geschichte von Rehoboth bis zum Rheinland erleiden mussten, doch die meisten Frauen, die in Farbe bekennen zu Wort kommen, wurden in Waisenhäuser gesteckt.

Sogar als die Berliner Mauer fiel und über die Welt eine Welle der Wendebegeisterung schwappte, rangen Afrodeutsche mit einem doppelten Bewusstsein im Sinne von W.E.B. Du Bois – ihrer eigenen historischen Entfremdung inmitten der Wiedervereinigungseuphorie. Das zeigt der Anfang von May Ayims Essay Das Jahr 1990. Heimat und Einheit aus afro-deutscher Perspektive (1993):

„In den ersten Tagen nach dem 9. November 1989 bemerkte ich, daß kaum ImmigrantInnen und Schwarze Deutsche im Stadtbild zu sehen waren, zumindest nur selten solche mit dunkler Hautfarbe. Ebenso wie andere Schwarze Deutsche und ImmigrantInnen wußte ich, daß selbst ein deutscher Paß keine Einladungskarte zu den Ost-West-Feierlichkeiten darstellte. Wir spürten, daß mit der bevorstehenden innerdeutschen Vereinigung eine zunehmende Abgrenzung nach außen einhergehen würde – ein Außen, das uns einschließen würde. Unsere Beteiligung am Fest war nicht gefragt. Das neue ‚Wir‘ in – wie es Kanzler Kohl zu formulieren pflegte – ‚diesem unserem Lande‘ hatte und hat keinen Platz für alle. ‚Hau ab, du Neger, hast du kein Zuhause?‘“

Inmitten der Wendebegeisterung – der Wende in der Weltgeschichte nach dem Mauerfall – legte die verstorbene May Ayim unerbittlich Zeugnis ab vom Schwarzen Schmerz, der unter nationalem „Fortschritt“ und öffentlichem Jubel verborgen liegt. Wir dürfen vor der Vergangenheit nicht die Augen verschließen: Die Geschichte der Schwarzen ist die Geschichte der Deutschen.