Joseph und seine Brüder Thomas Mann und sein Joseph im Exil

Thomas Mann, Brustbild, Profil nach links, Zigarre in der rechten Hand, Kopf auf die linke Hand gestützt, von der Arbeit aufblickend.
Thomas Mann am Schreibtisch in Pacific Palisades | Foto (Detail): © ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_3035

Thomas Manns Joseph-Romane sind mehr als Bibel-Nacherzählung: Sie sind ein literarischer Gegenentwurf zum Nationalsozialismus – und ein Spiegel seines Exils.

Die Anzahl der Geflüchteten ist beständig größer geworden. Die Staatengemeinschaft muss sich zusammenraufen und aushandeln, wie sie mit dieser Entwicklung umgeht, wie die Menschen am gerechtesten auf die einzelnen Staaten verteilt werden können. Aber die Konferenz verläuft unbefriedigend, kaum ein Land erklärt sich bereit, mehr Menschen aufzunehmen. Die Staatsführer sehen sich zu sehr mit nationalen Problemen belastet, glauben sich nicht erlauben zu können, die zunehmende Arbeitslosigkeit noch stärker unter Druck zu setzen, wollen die Ängste ihrer jeweiligen Bevölkerung vor vermeintlicher Überfremdung oder unkontrollierter Einwanderungen nicht weiter geschürt sehen.

Was klingt wie eine stark zurückgenommene Schilderung heutiger Zustände, meint die Konferenz von Evian im Jahre 1938. Da die zunehmenden Repressionen der Nationalsozialisten immer mehr Juden zur Auswanderung zwangen, versammelten sich auf Initiative von Franklin D. Roosevelt 32 Staaten und 71 Hilfsorganisationen. Aber auch die USA erhöhten die bisherige Quote von jährlich 27.370 Einwanderern aus Deutschland und Österreich nicht. „Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. […] Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?“, schreibt Golda Meir, die spätere israelische Ministerpräsidentin in ihren Lebenserinnerungen.

Schreiben im Exil als Luxus

Thomas Mann hatte das Glück, von den Ergebnissen dieser Konferenz persönlich nicht unmittelbar betroffen zu sein. Nachdem Adolf Hitler 1933 an die Macht gekommen war, kehrten Thomas Mann und seine Frau Katia aus einem Urlaub in der Schweiz nicht mehr zurück. Manns Exil war nie existenziell bedrohlich. Die Manns konnten Teile des Familienvermögens von Katia und des Nobelpreisgeldes bereits zuvor in die Schweiz transferieren. Vor allem aber musste sich Mann, als er 1938 in die USA emigrierte, sein Leben dort nicht mühsam neu erarbeiten. Er war durch die Übersetzungen seiner Bücher, durch die Öffentlichkeitsarbeit seines amerikanischen Verlegers Alfred A. Knopf, durch bereits unternommene Vortragsreisen bereits geschätzt und berühmt. Die Rolle des Repräsentanten des guten Deutschlands, das die Nazis gerade ruinierten, des Repräsentanten von Geist und Kultur war passgenau auf ihn zugeschnitten. Und er hatte mit der Journalistin Agnes E. Mayer eine ungemein einflussreiche und vermögende Bewunderin und Förderin, die mit strategischem Geschick erheblich zu Manns Wirkungsmacht und erquicklichem Lebensstil beitrug.

Der größte Luxus für Thomas Mann: dass es möglich ist, den Vormittag über zu schreiben. Egal, wie die Welt gerade tobt, egal, wo er sich gerade befindet. Als er 1933 nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte, arbeitete er gerade an Joseph in Ägypten, dem dritten Band seines vierteiligen Werkes Joseph und seine Brüder. Es war ein Projekt, das sich schon lange hinzog, 1926 hatte er die Auserzählung einer biblischen Legende begonnen, zwei Bände waren bereits veröffentlicht. Der dritte hätte eigentlich der Abschluss sein sollen, aber es passierte das, was mit vielen Projekten von Thomas Mann passierte: Sie wachsen während des Schreibens, wuchern vom Novellenvorhaben zum mehrbändigen Epos. Bei den Joseph-Romanen kam der Wunsch der Verleger nach rascher Veröffentlichung hinzu, so dass nach Joseph in Ägypten, den Thomas Mann noch in Europa abschloss, noch ein weiterer, nun endgültig abschließender Band folgen musste. Mann ließ sich Zeit dafür, er schob Lotte in Weimar und Die vertauschten Köpfe ein, erst dann, mittlerweile in Kalifornien heimisch geworden, fühlte er sich bereit für den Abschluss der Tetralogie, der mit einem erneuten Exil für Joseph beginnt. Einem weniger schlimmen als dem ersten, als ihn seine eifersüchtigen Brüder an vorbeiziehende Handelsreisende verkaufen, die ihn in Ägypten als Sklaven weiterverkaufen. Dort macht er am Hofe Potipars eine für einen Sklaven erstaunliche Karriere, bis er für ein Vergehen, an dem er nicht schuld ist, bestraft werden muss. Potipar weiß diese Strafe in eine Belohnung umzumünzen und schickt Joseph ins Gefängnis des Pharaos, wo ihm in diesem letzten Band eine noch steilere Karriere bevorsteht.

Ein Gegenentwurf zur Ideologie der Nationalsozialisten

Die Joseph-Romane wirken auf den ersten Blick kurios. Während Hitler Europa in den Abgrund reißt, nimmt sich Thomas Mann vermeintlich alle Zeit der Welt, um in weit ausschwingendem Erzählduktus Szenen und Bilder aus biblischer Zeit zu malen. „Enzyklopädie des Bildungsspießers“ nennt das Bertolt Brecht in fassungslosem Zynismus. Aber die Joseph-Romane sind keine Flucht in gegenwartsvergessene Schreibvormittage. Sie konturieren sich im Verlauf ihrer Entstehung vielmehr immer deutlicher als Gegengewicht zu dem nationalsozialistischen Projekt, einen Mythos des Deutschen Volkes zu etablieren und zu sichern. Mann entwirft ebenfalls einen Mythos, aber einen, der der ganzen Menschheit gehört. Und der das Mythische nicht als ausweglos Schicksalhaftes versteht, sondern als Einbettung des Menschen in überindividuelle Zusammenhänge. Die das Individuum dann durchaus auch einmal austesten, befragen, verändern kann.

Darüber hinaus findet ein persönliches Gegenprogramm zu den Nationalsozialisten als Haltung seinen Weg in das Joseph-Projekt: Zorn und Wut sind Affekte, die Mann nicht produktiv machen kann für seine Prosa. Er verordnet sich Heiterkeit als Abschottungsstrategie gegen den barbarischen Wahn in seiner Heimat. Und so ist denn der Erzählton der Tetralogie ein Meisterstück an weit ausgreifender, alle Facetten der Verschmitztheit ausnützender Plauderei. Der Umfang der Tetralogie ist auch der Unerbittlichkeit geschuldet, mit der es sich die Erzählinstanz im humoristisch Abgefederten gemütlich machen will.

Exil, Erfahrung, Erzählung

Thomas Mann schöpft wie in allen seinen Werken auch für die Joseph-Romane aus seiner Zeit und aus seiner Umgebung. Wie Joseph am Ende als Ernährungsminister die Hungersnot und die Getreidebevorratung organisiert, hat beispielsweise deutliche Anklänge an die staatliche Investitionspolitik des New Deal unter Roosevelt. Die Figur von Josephs Hausvorsteher, Mai-Sachme, ist ein liebevolles Porträt des befreundeten und schriftstellernden Arztes Martin Gumpert. Und wie immer braucht Mann die Reibung an und die Zündung durch die individuelle Erfahrung. Joseph ist gesegnet, er ist von außergewöhnlicher Schönheit und er weiß um seine Besonderheit. Dass es ihn in eine andere Kultur verschlägt, ist das Beste, was ihm passieren kann. Denn so ist er nicht mehr gänzlich den Gefahren der Eitelkeit ausgesetzt, er kann seine Besonderheit verwandeln in Nützlichkeit für die Gesellschaft, in der er gelandet ist. Er wird zum Mittler, einer Sozialfigur, die die notwendigen Veränderungen der Gesellschaft gerade deswegen weiter zu katalysieren vermag, weil sie über die Distanz des Fremden verfügt.

Thomas Mann verzaubert so das Exilthema zu einem Bildungsroman, er schwelgt in einer maximal positiven Version der eigenen Rolle, die ihm nicht leichtfällt, die er mit Pflichtbewusstsein annimmt: des Künstlers, der die Forderungen der Zeit versteht und das Schöne in den Dienst des Guten stellt. Oder zumindest wesentliche Teile seiner Schreibzeit dem Verfassen und Einsprechen von Appellen an die Deutschen unter den Nationalsozialisten opfert. Und mehreren ausgedehnten Vortragstourneen durch die USA, in denen er anmahnt, was die Demokratie benötigt, um wehrhaft gegenüber den Faschismen seiner Zeit zu sein.