Theatertreffen 2023 Die Lust an großen Bildern

Normalerweise am Wiener Burgtheater, während des Theaterreffens auch in Berlin zu sehen: Lucia Bihler bringt Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“ auf die Hauptstadtbühne.
Normalerweise am Wiener Burgtheater, während des Theaterreffens auch in Berlin zu sehen: Lucia Bihler bringt Maria Lazars „Die Eingeborenen von Maria Blut“ auf die Hauptstadtbühne. | Foto (Detail): © Susanne Hassler-Smith

Das Theatertreffen, Deutschlands bedeutendstes Theaterfestival, fand 2023 erstmalig wieder ohne Einschränkungen durch die Pandemie statt. Es waren große Produktionen und einige Überraschungen dabei, sowie viel Freude am Erzählen und am magischen Realismus.

Jedes Jahr Ende Januar, Anfang Februar gibt es für die großen Theaterhäuser in Deutschland, Österreich und der Schweiz einen Termin, an dem niemand so recht vorbeikommt: die Pressekonferenz, auf der verkündet wird, welche Produktionen im Mai zum Berliner Theatertreffen fahren dürfen. Für die Jury gibt es seit 2020 außer dem Sichtungszeitraum – der sich ungefähr mit dem Kalenderjahr deckt – und dem ominösen Adjektiv „bemerkenswert“ nur eine Vorgabe: Mindestens die Hälfte der eingeladenen Produktionen müssen von Frauen oder weiblichen Teams stammen.

Das Resultat ist meist ein Gipfeltreffen der großen Schauspielhäuser aus Wien, München, Berlin und Hamburg. Immer wieder aber schaffen es auch kleinere Theater in die Auswahl. Auch 2023 ist so eine Überraschung dabei: Unter den zehn ausgewählten Produktionen – die siebenköpfige Jury hat 461 Stücke in 58 Städten gesichtet – ist auch Hamlet vom Anhaltischen Theater Dessau. Über viele Jahre durchlitt es das Schicksal nahezu aller Häuser im Osten: stolze Tradition, (zu) viele Sitzplätze (1.070!), die trotz schmerzhafter Transformationsprozesse, Abwanderung und Leerstand irgendwie gefüllt werden mussten. Aus Berlin reiste selten jemand an. Shakespeares „Hamlet“ ist mit von der Partie beim Theatertreffen. Philipp Preuss inszeniert das Stück am Anhaltischen Theater Dessau. Shakespeares „Hamlet“ ist mit von der Partie beim Theatertreffen. Philipp Preuss inszeniert das Stück am Anhaltischen Theater Dessau. | Foto (Detail): © Claudia Heysel Das änderte sich in den vergangenen Jahren unter Schauspielchef Alexander Kohlmann, der Regisseur*innen nach Dessau holte, die aufhorchen ließen: Milan Peschel, Mizgin Bilmen, Klaus Gehre. Und Philipp Preuss, der schon öfter mit starken Arbeiten auffiel – und mit Hamlet eine Inszenierung ins Große Haus setzte, die wirkt, als sei da eine Gesellschaft in sich selbst gefangen. Die Einladung ist ein Signal auch über Dessau hinaus. Sie zeigt, dass sich jenseits der Leuchttürme Dresden und Leipzig im Osten etwas tut, in Schwerin, Cottbus, Meiningen. Ob die Inszenierung allerdings den Umzug nach Berlin gut überstehen wird, muss sich noch zeigen. Die letzte Einladung eines Theaters aus Sachsen-Anhalt – 2006 Allein das Meer vom Theater Halle – landete in Berlin in einer ungünstigen Raumsituation und wirkte wie der arme Verwandte, der sich auf die falsche Party verirrt hat.

Das große Bingewatching

Der Transfer gehört zu den Gefahren, denen die eingeladenen Produktionen beim Theatertreffen ausgeliefert sind. Wie auch das notorisch strenge, weil verwöhnte Berliner Publikum mit seiner noch strengeren Theaterkritik. Zumal viele Menschen vom Festival immer noch die besten, nicht zehn „bemerkenswerte“ Inszenierungen erwarten (ein Adjektiv, das auch jenseits von Geschmäckern und Argumenten Spielraum für Diskussionen lässt).

Und doch spricht vieles dafür, dass das Theatertreffen 2023, zumindest was die zehn eingeladenen Inszenierungen betrifft, ein Fest werden kann. Es ist das erste seit Jahren, dessen Auswahl und Durchführung nicht mehr durch die Pandemie bestimmt wird. Die Jury hatte ein volles Jahr Zeit zu reisen und Beschränkungen, etwa durch krankheitsbedingte Ausfälle, gab es kaum. Die Auswahl versammelt zudem viele großformatige, schauspielerstarke Produktionen, die Lust machen aufs große Bingewatching.
Und nochmal Shakespeare: hier Antù Romero Nunes’ Version des „Sommernachtstraum“. Und nochmal Shakespeare: hier Antù Romero Nunes’ Version des „Sommernachtstraum“. | Foto (Detail): © Ingo Höhn Dazu kommt das Überraschungsmoment: Sieben der zehn Einladungen gehen an Theatertreffen-Newcomer. Darunter sind Namen, die Theaterkenner*innen schon länger bekannt sind, wie Lucia Bihler, die große Stilistin, die mit Maria Lazars Die Eingeborenen von Maria Blut vom Wiener Burgtheater dabei ist. Aber auch solche, die bislang kaum überregional aufgefallen sind, wie Rieke Süßkow, die mit Peter Handkes Zwiegespräch vom Burgtheater parallel auch zum Nachwuchs-Regiefestival Radikal jung in München eingeladen ist. Und natürlich gibt es auch in diesem Jahr zahlreiche Klassiker-Neudeutungen wie Nora in der Regie von Felicitas Brucker (Münchner Kammerspiele).

Generell fällt auf, wie groß die Lust einerseits am Erzählen, andererseits auf große Bilder ist. Und an einer Art magischem Realismus, wie man ihn – in ganz unterschiedlichen Ausprägungen – in Antù Romero Nunes’ Baseler Sommernachtstraum, Mateja Koležniks Bochumer Kinder der Sonne als auch in Philipp Stölzls Das Vermächtnis vom Münchner Residenztheater findet. Mit dem Vermächtnis, Matthew Lopez’ Stück um einen schwulen New Yorker Freundeskreis, das eindrücklich auf dem schmalen Grat zwischen Seifenoper und Menschheitsdrama balanciert, startet das Festival am 12. Mai 2023. Die (inklusive Pausen) siebeneinhalb Stunden vergehen wie im Flug, versprochen!

Das gilt auch für Florentina Holzingers knapp dreistündiges Spektakel Ophelia’s Got Talent von der Berliner Volksbühne – ein wildes, selbstermächtigendes Bildergewitter, für das viel Wasser auf die Bühne geholt wird. Selbst Sebastian Hartman hat mit Der Einzige und sein Eigentum am Deutschen Theater Berlin einen für ihn verhältnismäßig leichtfüßigen Abend geschaffen, eine Art Diskurs-Musiktheater. Bei „Ophelia got Talent“ der Berliner Volksbühne wird’s auf der Bühne nass. Bei „Ophelia got Talent“ der Berliner Volksbühne wird’s auf der Bühne nass. | Foto (Detail): © Nicole Marianna Wytyczak Und die Freie Szene, die in den vergangenen Corona-Jahren besonders stark vertreten war? Sie ist mit der Gruppe De Warme Winkel und ihrem Der Bus nach Dachau dabei. Dass die Produktion am Schauspielhaus Bochum herauskam, erzählt natürlich viel über die Produktionsbedingungen der Freien Szene, die sich für aufwendigere Arbeiten entweder unzählige Koproduktionspartner suchen oder mit einem Stadttheater zusammenarbeiten muss. Ein Thema, das man wunderbar im Rahmenprogramm und in Gesprächen mit politischen Entscheider*innen vertiefen könnte.

Ob das Diskursprogramm der neuen Theatertreffen-Leitung – Olena Apchel, Carolin Hochleichter und Joanna Nuckowska organisieren das Festival zum ersten Mal – dafür die richtige Umgebung bietet? Mit seinen zehn „Treffen“ genannten Themenclustern zwischen Krieg, Solidarität und Diversität und zahlreichen Performances aus Osteuropa wirkt das Rahmenprogramm wie ein Parallelfestival mit wenigen Bezügen zum Hauptprogramm. Ob das Theatertreffen wirklich ein Fest wird, entscheidet sich ja auch beim Wein im Garten des Hauses der Berliner Festspiele und in den Diskussionsrunden. Sollte es dem Leitungsteam gelingen, hier sinnvolle Verbindungen und Gespräche zu stiften, dann stünde einem vibrierenden Berliner Theater-Mai tatsächlich nichts im Wege. Die Jury des Theatertreffens 2023: (v.l.n.r) Sascha Westphal, Katrin Ullmann, Petra Paterno, Janis El-Bira, Sabine Leucht, Eva Behrendt, Valeria Heintges Die Jury des Theatertreffens 2023: (v.l.n.r) Sascha Westphal, Katrin Ullmann, Petra Paterno, Janis El-Bira, Sabine Leucht, Eva Behrendt, Valeria Heintges | Foto (Detail): © Stefan Wieland