Leben

„Turkey is great!“

Foto: Hana Martausová

Aber soll das Land in die EU?

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Der 37-jährige Metehan am Steuer, Foto: Hana Martausová

Die serbisch-bulgarische Grenze an einem späten Nachmittag Mitte Juli 2011, wir trampen Richtung Istanbul. Vom Grenzübergang kommend, fährt ein Lkw nach dem anderen an uns vorbei; einige winken uns zu und zeigen mit der Hand, dass sie woanders hinfahren, andere bieten an, uns zumindest ein Stück Richtung Istanbul mitzunehmen. Dankend lehnen wir ab und hoffen, dass wir Glück haben und uns jemand direkt bis an den Bosporus mitnimmt. Unsere letzten Kekse gehen zur Neige, ein paar Meter weiter dösen zwei Autobahnvignetten-Verkäufer vor sich hin. Wir sind auf dem Balkan, alles ganz entspannt. Nach ein paar Minuten hält der 37-jährige Brummifahrer Metehan an. „Istanbul?“, „Yes!“, „Nonstop?“, „Yes!”. Das ist unser Mann. Wir steigen in die Kabine, Metehan mustert uns, lächelt, wirft den Motor an. Bis nach Istanbul dauert es jetzt einige Stunden.

Nach den üblichen Fragen, woher wir sind, wie alt wir sind und was wir so machen, ergreift Metehan das Wort. Nach einer eingehenden Schilderung seiner familiären Verhältnisse (einschließlich Fotodokumentation) ist die Weltpolitik an der Reihe. Und für Metehan ist die Sache ziemlich klar. In einer Mischung aus türkisch, deutsch, italienisch und englisch erklärt er uns, wie das in der Welt eigentlich so läuft. Bei der Beurteilung der einzelnen Länder beschränkt er sich auf ein bloßes gut, nicht gut, beziehungsweise Problem, nicht Problem, wobei er all diese deutlichen Meinungsäußerungen mit entsprechend prägnanter (und in schriftlicher Form leider schwer zu vermittelnder) Akustik und Gestik darlegt. Und so erfahren wir, dass Amerika und Israel nicht gut und Problem, dass Deutschland, Belgie, Nederland gut, Russia very very gut und Putin! Metahan gerät ins Schwärmen. Obwohl er sich als großer Experte für internationale Politik präsentiert, scheint Erdkunde nicht ganz so sein Fall zu sein, und so verdienen wir uns als Repräsentanten der ihm unbekannten Czech Republic, Czechoslovakia, Czechia, Češki, Tschechische Republik, also einfach als Bewohner dieses Landes next to Deutschland ein schönes nicht Problem und gut. Wahrscheinlich dank der Nachbarschaft zu Deutschland.

Auch in Bezug zur Europäischen Union stellt sich die Problematik für Metehan erstaunlich eindeutig dar. Trotz gewisser Kommunikationsprobleme wurde klar, dass er das Verhalten der EU gegenüber der Türkei für sein Land als erniedrigend und überflüssig empfindet. „Turkey is great“, gibt er zu verstehen, man habe es nicht nötig, sich irgendeinem kleinen Europa aufzudrängen, das einen offensichtlich gar nicht will.

Eine EU-Erweiterung ist stets eine viel diskutierte Frage, im Falle der Türkei gilt dies aber umso mehr. Soll und kann es die EU zulassen, über 70 Millionen Einwohner eines muslimischen Landes in ihre Gemeinschaft aufzunehmen? Wäre die Aufnahme der Türkei für das heute politisch so polarisierte und wirtschaftlich labile Europa ein Vorteil oder wäre dies im Gegenteil der letzte Sargnagel für den Patienten EU? Und will die Türkei überhaupt noch in die Union?

Während beinahe 50 Jahren politischer Diskussionen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei sind die beiderseitigen Beziehung merklich abgekühlt. Und auf beiden Seiten sind die Menschen gespalten in solche, die eine Aufnahme befürworten und solche, die aus kulturellen oder sicherheitspolitischen Gründen dagegen sind. Nach einer Umfrage aus dem Jahr 2010 wäre in einem Referendum die Mehrheit der EU-Bevölkerung gegen einen EU-Beitritt; die Ergebnisse fallen in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich aus. Reserviert bis deutlich ablehnend positionierten sich sowohl auf Regierungsebene als auch in der öffentlichen Meinung einige „alte“ Mitgliedsstaaten, insbesondere Frankreich und Österreich, gefolgt von Deutschland, wo auch 69 Prozent der Bevölkerung eine Aufnahme der Türkei in die EU ablehnen. Dabei hat Deutschland in dieser Frage eine Schlüsselposition – aufgrund des starken türkischen Bevölkerungsanteils ist die Frage des türkischen EU-Beitritts bereits seit einiger Zeit auch eine innenpolitische Frage.

Tschechische Position

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Ankara, Foto: Hana Martausová

Die Tschechische Republik beantwortet diese Frage hingegen seit langem positiv – also zumindest auf Regierungs- und Staatsebene. „Wir sind überzeugt, dass die Türkei eines Tages EU-Mitglied werden sollte“, so Außenminister Karl Schwarzenberg in einer Erklärung. Dafür ist auch der tschechische EU-Kommissar Štefan Füle, der für Erweiterungsfragen und die so genannte europäische Nachbarschaftspolitik zuständig ist (letztere regelt die Beziehungen zu Ländern, bei denen keine EU-Mitgliedschaft vorgesehen ist).

Meinungsumfragen zeigen jedoch, dass fast die Hälfte aller Tschechen einen EU-Beitritt der Türkei ablehnt und ihn in einem Referendum nicht unterstützen würde – und das obwohl die Mehrheit der Tschechen keine persönlichen Erfahrungen mit Türken hat und die türkische Minderheit in Tschechien im Vergleich zu Deutschland keine Rolle spielt (in Deutschland leben aktuell rund drei Millionen Türken, in Tschechien offiziell rund 1000).

Ein Hauptargument der Beitrittsgegner ist vor allem der Religionsunterschied und daraus resultierende kulturelle Konflikte (die Konservativen verweisen in diesem Zusammenhang auf die gemeinsamen historischen Werte und Erfahrungen des „christlichen Europa“, zu dem die Türkei selbstverständlich nicht gehört). Hinzu kommt die Tatsache, dass die Türkei sich nach Meinung vieler gar nicht auf dem europäischen Kontinent befindet. Die EU war bis vor kurzem – und ist es allem Anschein nach immer noch – einer anderen Meinung. Aus wirtschaftlicher und auch internationaler Perspektive würde eine Mitgliedschaft der Türkei für die EU zahlreiche Vorteile bringen. Die EU würde dadurch näher an strategisch wichtige Gebiete rücken, von deren Gas- und Ölpipelines die europäischen Staaten in Zukunft verstärkt abhängig sein werden und deren politischer und militärischer Einfluss eine Größe darstellt, mit der die europäische Sicherheitspolitik rechnen muss. Gleichzeitig wäre angesichts wachsender Spannungen die Aufnahme der Türkei ein wichtiger Schritt zu einer Imageverbesserung der EU und Europas insgesamt. Das gilt nicht nur für die Muslime innerhalb der EU (zur Zeit rund 15 Millionen), sondern für die gesamte muslimische Welt. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Türkei ein ökonomisch unabhängiger Staat mit einer stetig wachsenden Wirtschaft ist.

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Bazar in Istanbul, Foto: Hana Martausová

Ein weiterer interessanter Umstand besteht darin, dass die Türkei beinahe so viele Einwohner in die EU einbringen würde, wie alle osteuropäischen Staaten zusammen, die 2004 beigetreten sind. Gleichzeitig aber sorgt die Vorstellung, dass die EU bei einer Mitgliedschaft der Türkei an Iran, Irak und Syrien grenzen würde, nicht nur bei den Beitrittsgegnern für schlaflose Nächte, sondern beunruhigt angesichts der aktuellen Entwicklungen in den genannten Ländern alle Europäer mit einem gesunden Menschenverstand.

Die Europäische Union stand schon in ihren Anfängen für das visionäre Projekt einer „Einheit in Vielfalt“, in dessen Rahmen unterschiedliche Nationen und Kulturen an dem gemeinsamen Ziel, Frieden und Wohlstand, zusammenarbeiten. Die Frage ist allerdings, inwieweit dieses „visionäre Projekt“ nur das Aushängeschild für einen „christlichen Klub“ ist, der an der Entwicklung und Vereinfachung der internationalen Politik und Wirtschaftsbeziehungen interessiert ist, und inwieweit es tatsächlich um das reale Eintreten für multikulturelle Werte geht.

Aus meiner Sicht basiert ein möglicher EU-Beitritt der Türkei auf rein wirtschaftlichen Interessen. So sehr mich der sichtbare Wohlstand in der Türkei verwunderte, so wenig überraschte mich die kulturelle und religiöse Andersartigkeit. Trotz der durch die Medien intensiv verbreiteten Darstellung der Türkei als eines säkularen Landes, habe ich ganz andere Eindrücke gewonnen. Mit anderen Worten: die Türkei ist kulturell und national vollkommen andersartig, und falls es irgendwelche gemeinsamen Interessen mit der EU gibt, so sind diese ausschließlich wirtschaftlicher Natur. Nutznießerin wäre allerdings nur die Europäische Union, vor allem in der gegenwärtigen Situation, wo sich die EU am Rande eines Schulden-Abgrundes bewegt. Anders gesagt: für die Türkei würde ein EU-Beitritt mehrheitlich Verluste und Nachteile bringen, und das finde ich nicht gerade sehr fair. Deshalb bin ich gegen einen Beitritt der Türkei zur EU.

Was denken die Türken?

Die deutliche Mehrheit der Türken stand in der Vergangenheit einem EU-Beitritt stets positiv gegenüber. Bis 2005 lag die Zustimmung bei 60 bis 70 Prozent, vier Jahre später sank sie massiv auf nunmehr knapp 35 Prozent. Was sind die Gründe für diesen rasanten Rückgang? Spielen hier die Erfahrungen der im Ausland lebenden Türken eine Rolle? Oder das Verhalten der EU, die im Falle internationaler Konflikte in den allermeisten Fällen nicht auf der Seite der Türkei stand (israelisches Vorgehen gegen den Konvoi mit humanitärer Hilfe aus der Türkei oder Zypernfrage)?

Foto: Hana Martausová

Istanbul, Foto: Hana Martausová

Metehan hält bei einer kleinen Imbissbude am Straßenrand an. Es ist schon dunkel, aber immer noch heiß. Sobald wir uns an den Tisch gesetzt haben, serviert uns ein kleiner Türke mit Schnurrbart ungefragt kleine Gläser mit starkem und sehr süßem türkischen Tee. Metehan wechselt mit ihm ein paar Worte auf Türkisch, und kurz darauf dampft eine dickflüssige Linsensuppe auf unserem Tisch. Wir haben schrecklichen Hunger, und in diesem Moment ist dieser feiste Brei für uns das beste Essen der Welt. Metehan beobachtet uns, wie wir ohne Rücksicht auf Tischmanieren drauflos mampfen. Als wir zahlen wollen, lehnt er ab. In seinem lächelnden Gesicht lese ich so etwas wie „ihr armen Europäer, ich, ein Türke, zahle für euch“. Ein ähnliches Gefühl hatte ich bei allen anderen lächelnden und freundlichen Menschen, denen ich in der Türkei begegnete. Alle waren äußerst gastfreundlich und sehr hilfsbereit. Sie sind stolze Patrioten und lassen klar durchblicken, dass sie die Gastgeber sind, die einladen. Und vor allem wissen sie genau, wo ihr Platz ist und was sie wollen. Im Gegensatz zum zerstrittenen Europa, das noch nicht mal auf offizieller und formaler Ebene eine einheitliche Position vertritt. Kurzum, Europa hat ein Problem mit seiner Identität, und es sieht so aus, dass es eigentlich nicht weiß, was es will. Wollen wir die Türkei oder wollen wir sie nicht?

Hana Martausová

Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
Januar 2012

    Die Türkei und die EU

    Vertragsbeziehungen zwischen der Türkei und Europa gibt es seit 50 Jahren. Nach ersten Gesprächen im Jahre 1959 unterschreiben die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Türkei 1963 das so genannte Ankara-Abkommen, das eine Zollunion zwischen der Türkei und der EWG vorsah. 1999 verleiht der Europarat auf seiner Sitzung in Helsinki dem Land am Bosporus offiziell den Kandidatenstatus, und sechs Jahre später beginnt das so genannte Screening-Verfahren, bei dem türkische Rechtsvorschriften mit denen der EU verglichen werden. 2008 verabschiedet der Europarat eine überarbeitete Beitrittspartnerschaft mit der Türkei. Gespräche über einen EU-Beitritt des Landes dauern bis heute an.

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