Leben

Auf einem Bein

Mit dem Sport zurück ins Leben

Zum Abschied hat Heinrich noch etwas auf dem Herzen: „Lass dich auf keinen Fall verrückt machen“, sagt er und schaut Leon direkt in die Augen. „Es ist eine Weltmeisterschaft, da machen viele vor dem Start Psychospielchen. Das ist normal. Mach einfach dein Ding.“ Er klatscht Leon ab. Heinrich Popow ist einer der prominentesten deutschen Behindertensportler. Leon Schäfer, 15 Jahre alt und noch neu im Leistungssport, ist sein Schützling. Nach einem schweren Schicksalsschlag gab der Sport beiden wieder Hoffnung.

Foto: © Deutscher Behindertensportverband e.V.
Leon Schäfer (links) mit Heinrich Popow (Mitte), Foto: © Deutscher Behindertensportverband e.V.

„Ich war richtig unten“

Leon war zwölf Jahre alt, als die Diagnose sein Leben auf den Kopf stellte: Knochenkrebs. „Das kam total überraschend“, erinnert sich Leon. „Losgeheult habe ich nicht. Aber mir ging's richtig scheiße.“ Eine Woche sollte er im Krankenhaus bleiben, vielleicht zwei. Es wurden zwei Monate. Ein Jahr lang konnte er nicht in die Schule gehen. Bei der fünften Operation stand fest: Sein rechter Unterschenkel ist nicht zu retten. Amputation. „Es war einfach ein Schock“, sagt Leon leise. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich noch Sport machen kann.“ Bis dahin hatte er begeistert Fußball gespielt. „Ich war richtig unten.“

Psychologen im Krankenhaus organisierten für Leon ein Treffen mit einem Behindertensportler, so lernte er das Leichtathletik-Training bei Bayer Leverkusen kennen. Und hier kommt Heinrich Popow ins Spiel: Der 29-Jährige ist einer der deutschen Vorzeige-Athleten. Im Sprint und Weitsprung hat er schon fast alles gewonnen.

Kein Bezug zu Behinderten

Leons Geschichte kam ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte ja selbst Ähnliches erlebt. Als Ärzte einen Tumor in seiner linken Wade entdeckten, war er gerade mal neun Jahre alt. „Für meine Eltern war das der Horror. Aber für mich war es gar nicht so schlimm“, berichtet er. „Richtig wehgetan hat nur, dass ich nicht mehr mit den anderen Jungs draußen Fußball spielen konnte.“ An die Amputation des Beines erinnere er sich nicht. Und seine Prothese? „Ganz schnell akzeptiert.“ Nur Behindertensport wollte er auf gar keinen Fall machen. „Zu Behinderten hatte ich ja keinen Bezug. Meine eigene Behinderung habe ich verdrängt.“ Ein Trainer überzeugte ihn schließlich, doch einen Versuch zu unternehmen. Und Heinrich lief mit einer normalen Alltagsprothese gleich die zehntschnellste Zeit der Welt über die 100 Meter. „Das ist so, als würde ein Fahrer in einem Golf einen anderen in einem Formel-1-Rennwagen überholen.“ Heinrich lacht. Na klar, er wurde Behindertensportler.

Der athletische Typ ist ohnehin jemand, der positiv denkt. Im Gespräch auf der Tribüne des Leverkusener Stadions spricht er offen und locker. Gerne macht er einen Witz. Immer wieder bleiben andere Sportler bei ihm stehen, Heinrich mit seinem Drei-Tage-Bart ist nie um einen coolen Spruch verlegen. „Nach der Amputation haben mir alle gesagt, wie schwer mein Leben jetzt werden würde“, erinnert er sich. „Das stimmte schon. Sie haben aber nicht dazugesagt: Es liegt in deiner Hand, wie schwer es wird.“ Seine positive Einstellung will er an Leon weitergeben: „Er ist ein Riesentalent.“ Mit dem großgewachsenen Teenager versteht er sich gut. Kein Wunder, auch Leon ist ein Typ, der offen redet und gerne lacht.

Ausrüstung so teuer wie ein Kleinwagen

Einfach ist es nicht, im Behindertensport Erfolg zu haben. Seit Kurzem hat Leon seine erste Sportprothese. Schlank sieht sie aus, alles ist auf das Nötigste reduziert. Die Herstellung ist aufwendig, das Teil hat den Wert eines Kleinwagens. Leons Schule organisierte einen Spendenlauf für ihn, dann war das Geld zusammen. „Am Anfang hatte ich Angst hinzufallen“, erinnert sich Leon. „Aber heute ist die Prothese einfach Teil meines Körpers.“ Natürlich schauen die Leute immer noch, wenn er sein künstliches Bein nicht unter einer langen Hose versteckt. „Aber daran gewöhnt man sich. Und wenn ich jemanden kennenlerne, erzähle ich davon erst mal gar nichts.“ Leon lacht. Heinrich will ihm nun helfen, die Sportprothese besser anzupassen. „Sie ist nie perfekt, man kann immer noch was rausholen“, sagt er.

Der Sport hat beiden nach den Schicksalsschlägen neuen Mut gegeben. „Nichts gibt so viel Lebensqualität zurück wie der Sport“, erklärt Heinrich. Geschont oder bedauert werden wollen sie nicht. Im Startblock denke ja ohnehin keiner an die Behinderung. „Es geht nur darum, wer gewinnt.“ Er trainiert beinahe jeden Tag und verdient sein Geld in der IT-Abteilung von Bayer Leverkusen. Sein Training ist so intensiv, dass er fünf bis sechs Sportprothesen pro Jahr verschleißt – zum Glück springen Sponsoren ein.

„Diesmal werde ich Olympiasieger“

„Ich kann nicht sagen, dass der Schicksalsschlag schlimm für mich war. Wie hätte ich das Recht dazu?“ Schließlich sei er ein glücklicher Mensch. „Auch wenn das dem Vorurteil des unglücklichen Behinderten widerspricht“, fügt Heinrich hinzu. Leon sagt, Heinrich sei ein Vorbild für ihn. Heinrich hört das nur ungern: „Geh deinen eigenen Weg“, ruft er schnell.

Bei den Paralympics, den Olympischen Spielen für Menschen mit Behinderung, werden sie sich bald wiedersehen. Leon fährt mit einem Jugendcamp, Heinrich als Athlet. Natürlich hofft Leon, dass er Heinrich zur Erfüllung des ganz großen Traumes gratulieren kann. Zwei Mal war der 29-Jährige schon bei den Paralympics: 2004 in Athen gewann er dreimal Bronze, vor vier Jahren in Peking einmal Silber. „Ganz klar: drei, zwei, eins – diesmal werde ich Olympiasieger“, sagt Heinrich entschieden. „Weißt du, ich mag keine Sportler, die um ihre Ziele herumreden. Ich sag's dir gleich: Ich will gewinnen.“ [Nachtrag der Redaktion: Heinrich Popow hat bei den Paralympics 2012 in London die Goldmedaille über 100 Meter gewonnen.]

Ganz so weit ist Leon noch nicht. Heinrichs Tipps hat er aber gleich beherzigt. Bei der WM brach er den Junioren-Weltrekord im Hochsprung und holte den Titel. Das war aber nur eine Zwischenstation. Leon hofft, dass er in London zum letzten Mal nur auf der Tribüne sitzen wird. „Bei den Paralympics in vier Jahren in Brasilien will ich selbst starten“, sagt er und grinst. Kein Zweifel, er hat von Heinrich gelernt.


In Zusammenarbeit mit fluter.de, dem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung

Matthias Klein
arbeitet als freier Journalist in Mainz.

fluter.de
August 2012

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