Das Goethe: Ausgabe 2/2017
Woran glaubst du?

Die junge Generation Japans lebt im Hier und Jetzt
Die junge Generation Japans lebt im Hier und Jetzt | Foto: Naoaki Yamamoto

Am 16. November erscheint die vierte Ausgabe der ZEIT-Beilage des Goethe-Instituts. „das goethe“ reist diesmal zu jungen Menschen in Tokio, Lagos und Jakarta  und stellt ihnen die Frage: „Woran glaubst du?“ So begegnet die Journalistin Kyoko Iwaki in der japanischen Hauptstadt einer hingebungsvollen Generation, in der kaum noch jemand an den festen Job und eine sichere Zukunft glaubt.

Worin sich der Mensch vom Tier unterscheidet? Keisuke Yamabe lacht und antwortet: „Im Arbeiten!“ Yamabe studiert die Kulturanthropologie der Arbeit an der renommierten University of Tsukuba. Es gebe Forscher, die behaupten, dass in naher Zukunft insbesondere gefährliche oder monotone Tätigkeiten zunehmend von Robotern und intelligenten Systemen übernommen werden. Doch er will daran nicht glauben. „Es wird immer Leute geben, die in einer Fabrik arbeiten oder am Steuer eines kleinen Bootes auf Fischfang gehen wollen.“ Dennoch fürchtet Yamabe, dass diesem urmenschlichen Bedürfnis nach Arbeit in Zukunft immer weniger Bedeutung beigemessen wird.

Wie überall, geht es auch in Japan stets um die Steigerung von Produktivität und Effektivität. Forscher des Nomura Research Institute etwa schätzen, dass in den kommenden zwanzig Jahren rund die Hälfte aller Berufe ausstirbt. „Doch Menschen arbeiten nicht nur für den Erhalt eines Wirtschaftssystems“, bemerkt Keisuke Yamabe und erzählt, dass es in Japan viele ältere Menschen gebe, die auch nach ihrem Berufsleben in die Fabrik gehen – nicht, weil sie arbeiten müssen, sondern weil sie es wollen.

Das Ende der „traumhaften Dekade“

Yamabe ist Jahrgang 1997 und gehört einer Generation an, die in Zeiten dauerhaft schwächelnder Konjunktur aufwuchs. Seit Anfang der 1990er-Jahre sinkt das Bruttoinlandsprodukt des Landes. In den 1980er-Jahren, der „traumhaften Dekade“, waren die Immobilien Tokios noch wertvoller als die in den gesamten USA. Damals stiegen die Gehälter, auch die der rangniedrigsten Angestellten, automatisch.

Heute ist das für junge Leute unvorstellbar geworden. Gehaltserhöhungen können sie nicht mehr erwarten, überdies hängen sie nicht mehr an einem Job, wenn er nicht zu ihnen passt. Die Zahl derjenigen, die eine Anstellung innerhalb von drei Jahren nach Antritt kündigen, steigt drastisch. Etwa 60 Prozent der 18- bis 29-Jährigen hat schon mindestens einmal die Stelle gewechselt. Ein zu niedriges Einkommen ist dabei in der Regel nicht der Grund. Ein Drittel führt vielmehr an, dass das Arbeitsklima nicht gestimmt habe.

„Die Zeiten, in denen das Geld der Anreiz für einen Job war, sind vorbei“, sagt Yamabe. Stattdessen gewinnt die konstruktive Zusammenarbeit mit den Kollegen sowie ein gutes Verhältnis zu den Vorgesetzten an Bedeutung. Für den Einzelnen geht es zunehmend um eine Win-Win-Beziehung und das „Ideal des Teilens“. Dieses „Teilen“ ist seit einiger Zeit fester Bestandteil japanischer Kultur und reicht vom House-Sharing über das Car-Sharing bis hin zum Mieten von Kleidung und Handtaschen.

Die hingebungsvolle Generation

„Die jungen Leute von heute sind sich bei ihrem Tun und Konsumieren immer auch der anderen bewusst“, erklärt Kohei Fujimoto, Marketing-Stratege der Werbeagentur Asatsu-DK (ADK). „Sie möchten alles, was Spaß macht, auch teilen.“ Sie wollen damit ihren Familien und Freunden eine Freude machen, weshalb Fujimoto diese junge Generation, die nach 1992 geboren wurde, „die hingebungsvolle Generation“ nennt. Warum? Sie wuchsen nach dem Platzen der Spekulationsblase auf, erlebten das große Erdbeben in Tohoku sowie die Fukushima-Katastrophe 2011. Diese Ereignisse und das damit verbundene Leiden so vieler Menschen prägten die Jungen derart, dass daraus ein kollektives Bedürfnis erwuchs, sich für das Allgemeinwesen zu engagieren.

„Diese Leute sind noch keine dreißig und gehören zu den Digital Natives“, erzählt er. „Im Internet kamen sie seit jeher mit unterschiedlichen Kulturen in Berührung – und entwickelten schon früh ein Verständnis der eigenen Werte.“ Durch die ständige Interaktion erkennen sie, wie sie ihre eigenen Stärken für andere nutzbar machen können. Kurzum: Sie wollen keine Einzelkämpfer sein, sondern gute und freundschaftliche Beziehungen zu anderen aufbauen. „Leute aus dieser Generation fühlen sich vor allem dann glücklich, wenn sie das Gefühl haben, sie könnten anderen nutzen oder helfen.“

Die Atmosphäre lesen

Doch wer glaubt, die jungen Japanerinnen und Japaner seien durch und durch altruistisch, liegt falsch. Denn für viele Menschen gehören die Unter-Dreißigjährigen zu denen, die „die Atmosphäre lesen“ (Kuuki o Yomu). Damit ist gemeint, dass die Jungen ein feines Gespür für die unsichtbaren zwischenmenschlichen Machtverhältnisse haben und sich aus Gründen der Harmonie allzu leicht der Mehrheitsmeinung anschließen. Ihr Credo: Im stillen Kämmerlein begreift man die Welt nach eigenen Maßstäben. In Gesellschaft anderer hingegen übernimmt man lieber den Standpunkt, der möglichst niemanden verletzt.

Cosplay der Charaktere

Wer sich tagtäglich in dutzenden oder sogar hunderten Online-Communitys aufhält, kultiviert dieses ständige Hin und Her. Für sie und ihn ist es selbstverständlich, ständig einen anderen Charakter anzunehmen. Der 1972 geborene Dramatiker Shu Matsui bezeichnet diese Anpassungsfähigkeit, angelehnt an die Terminologie der Popkultur, als Cosplay der Charaktere. Im Jahr 2007 wurde zudem „KY“, die Abkürzung des Begriffs „Kuuki o Yomenai“ – japanisch: eine Atmosphäre nicht lesen können – zum Modewort des Jahres nominiert. Wenn junge Leute sagen, „Der ist KY“, beschimpfen sie also jemanden, der die Atmosphäre nicht lesen kann. Und wer das nicht kann, gilt als kommunikationsunfähig und wird ausgegrenzt. Ein schwach wirkendes Kind etwa wird von den Mitschülerinnen und Mitschülern allzu leicht zum Außenseiter gestempelt und gemobbt. Die bittere Folge: 2016 nahmen sich 320 Jugendliche das Leben, zwei Drittel davon waren Jungen.

Mit 18 Jahren an die Universität, mit 22 die erste Stelle in einem Unternehmen, in den Dreißigern heiraten und Kinder bekommen: Danach streben immer weniger junge Japanerinnen und Japaner. Es sei nicht sonderlich beruhigend und auch nicht besonders sicher, das gleiche Leben wie die anderen zu führen. Dieser Gedanke bildet immer häufiger die Basis der Lebensplanung derjenigen Generation, die während ihrer Schulzeit die Fukushima-Katastrophe erlebte. Weder Geld noch Macht sind im Angesicht eines solch tragischen Ereignisses von Nutzen. Wer nicht weiß, was die Zukunft bringt, lebt also mit aller Kraft im Hier und Jetzt. Die junge Generation Japans beklagt diesen Zustand nicht.

Gekürzte Fassung, aus dem Japanischen von Yasuo Nozaki
 

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