Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Erinnerungskultur
80 Jahre Kriegsende: Verblasst die Erinnerung?

Einschusslöcher an einem Gebäude auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof im Vordergrund, im Hintergrund eine Person und ein blühender Baum.
Foto (Detail): © picture alliance/dpa | Jörg Carstensen

Was kann uns der Zweite Weltkrieg heute noch lehren und wie kann eine lebendige Erinnerungskultur dazu beitragen, neue Kriege zu verhindern? Darüber spricht die Autorin Elisabeth Luft mit dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

Von Elisabeth Luft

Herr Münkler, was sind die wichtigsten Lehren aus dem Kriegsende 1945?

Es ist ein vielschichtiger Lernprozess, dessen Wirkung immer weiter nachlässt. Denn 80 Jahre sind eine ziemlich lange Zeit, Zeitzeugen sind nicht mehr da oder ihre Erinnerungsfähigkeiten sind brüchig geworden. Das entscheidende Lernergebnis ist bis heute der transatlantische Westen als geopolitische und ökonomische Größe, der im Moment allerdings von Donald Trump in Gefahr gebracht wird. Eine weitere Lehre ist, dass das militärische Verschieben von Grenzen viel mehr kostet, als es einbringt.

Schon mit den Jugoslawienkriegen geriet unser Lernprozess auf den Prüfstand, als einige sagten, „nie wieder Krieg“. Joschka Fischer sagte „nie wieder Auschwitz“ mit Blick auf Srebrenica und andere Orte des Grauens im Bosnienkrieg. Heute stellt es sich ganz anders dar, erst vor kurzem wurde Baden-Württembergs Regierungschef Kretschmann mit dem Satz zitiert „Pazifismus heißt jetzt aufrüsten“. Ein historisch stabiles Lernergebnis scheint es also nicht zu geben.

Gibt es Parallelen zwischen den Herausforderungen beim Friedensschluss nach 1945 und den heutigen Bemühungen um Frieden in aktuellen Konflikten wie in der Ukraine oder dem Nahen Osten?

Parallelen sind sehr schwer herzustellen, weil für Deutschland ab dem 8. Mai „Unconditional Surrender“, also bedingungslose Kapitulation, galt. Deutschland war kein Teilnehmer des politischen Gesprächs und der Friedensverhandlungen der Siegermächte. Wir wollen hoffen, dass dieses Schicksal der Ukraine nicht widerfährt, weil das die genau umgekehrte Situation zum Mai 1945 wäre, eine, als hätte Hitler gewonnen und sich die von der Wehrmacht besetzten Gebiete angeeignet.

Insofern ist es sehr schwer, Analogien zum Kriegsende 1945 herzustellen, viel einfacher aber geht das mit der Vorgeschichte des Krieges. Putin sagte im Interview mit dem Fox-Journalisten Tucker Carlson, wenn die Polen im August 1939 bereit gewesen wären, den Korridor um Danzig an Deutschland abzutreten und sich nicht so stur gestellt hätten, dann hätte der Zweite Weltkrieg verhindert werden können. Es heißt also, die Polen waren schuld, weil sie sich nicht dem Aggressor unterworfen haben.

Das ist auch Trumps Haltung zur Ukraine: die ukrainische Regierung ist schuld am Krieg, weil sie nicht sofort kapituliert hat, als die russische Armee einmarschiert ist. Andere Parallelen sehe ich da nicht. Die Bemühungen um einen Frieden in der Ukraine sind Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden, den Deutschland nach 1945 gar nicht bekommen konnte, weil es keine verhandelnde Macht mehr war.

Wie hat sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an sein Ende gewandelt?

Es lassen sich mindestens drei Etappen ausmachen. Die erste Phase ist die – im Westen jedenfalls –, in der das Ganze als Niederlage wahrgenommen wurde, also eine Fixierung auf die bedingungslose Kapitulation. Parallel herrschte Erleichterung, weil die Bombenangriffe aufgehört hatten und man nicht mehr damit rechnen musste, wegen kraftzersetzender Äußerungen oder der Verweigerung, sich zum Volkssturm zu melden, vom Regime sanktioniert oder gar wegen Feigheit aufgehängt zu werden. Eine Wende gab es dann 1985 mit der Rede von Richard von Weizsäcker, in der er, immerhin ehemaliger Oberstleutnant der Wehrmacht, also Kriegsteilnehmer, den 8. Mai als Tag der Befreiung bezeichnete. Hier dreht sich der Blick weg von der unmittelbaren Niederlage hin zu zwölf Jahren Regime und der Befreiung davon, weil diejenigen, die noch an ihren Taten im Krieg gehangen und jeden Abend ihre Orden betrachtet haben, kaum noch eine Rolle spielten.

Und jetzt, weitere 40 Jahre später, stehen wir vor dem Umstand, dass der Westen als das zentrale Lernergebnis von Trump zerschlagen wird. Uns stellt sich die Frage, ob nicht nur wieder der Krieg, sondern auch ein Autoritarismus im populistischen Gewand auf uns zukommt. Es könnte also sein, dass von dem, was man aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt hat, in ein paar Jahren nichts mehr übrig geblieben ist, weil der Westen nicht mehr existiert.

Welche Rolle spielt die Erinnerung an das Kriegsende 1945 heute?

Ich glaube, dass sie hierzulande eine immer geringere Rolle spielt, weil die unmittelbare Erinnerung an den Krieg allein dadurch nachlässt, dass heutige Generationen nicht selbst dabei waren. Indem wir aber dennoch weiter daran erinnern, werden sie veranlasst zu fragen, welche Rolle ihre Großeltern und Urgroßeltern damals gespielt haben, ob sie Teil des Regimes waren oder sich am Widerstand beteiligt haben und was wir aus ihrem Handeln für unsere Gegenwart lernen können.

Bemerkenswert finde ich, dass der Ausruf „Nie wieder Krieg“ heute mitunter dafür genutzt wird, eine in der Regel prorussische und antiukrainische Position moralisch zu rechtfertigen. Es gibt keinerlei Auseinandersetzung mit dem Münchner Abkommen von 1938 als zentralem Element im Vorfeld des Krieges. Denn sonst würde man sagen, in gewisser Hinsicht nimmt das Abkommen Minsk II, das Frankreich und Deutschland 2015 mit Russland und der Ukraine ausgehandelt haben, dieselbe Funktion wie das Münchner Abkommen ein, aber funktioniert hat es genauso wenig. Das heißt, eine echte Beschäftigung mit der Vorgeschichte des Krieges, dem Krieg selber und seinem Ende, hat eigentlich nicht stattgefunden. Vielmehr ist die Erinnerung daran eine Spielmarke, die eingesetzt wird, wenn man sie für seine ohnehin feststehenden Überzeugungen gebrauchen kann. Das ist nicht sonderlich bemerkenswert, denn so funktioniert sowohl individuelle als auch kollektive Erinnerung.

Was kann eine lebendige Erinnerungskultur dazu beitragen, neue Kriege zu verhindern und den Frieden zu bewahren?

Man darf das nicht überschätzen, denn das würde heißen, dass die Deutschen eine weltpolitisch relevante Rolle spielen und das ist nicht erkennbar. Dass die Gespräche, bei denen die Europäer aktuell eine Rolle spielen, entweder in Paris oder London stattfinden und nicht in Berlin, hat gute und symbolische Gründe. Aber es hat auch damit zu tun, dass deutsche Politiker sich nach wie vor nicht trauen, in dieser Frage eine sichtbare, deutliche Position zu beziehen. Und das hat sicherlich auch mit der Schuld am Nationalsozialismus zu tun.

Eine aktive Erinnerungskultur kann für Einzelne von pädagogischer, psychologischer Relevanz sein, weil sie später vielleicht eine erhöhte Sensibilität für eine spezifische Form deutscher Verantwortung haben und möglicherweise nicht bestimmten antisemitischen Parolen folgen. Es kann also ein Beitrag zur Ausbildung und Schulung politischer Urteilskraft sein. Noch wichtiger wäre es aber, sich mit dem Kriegsanfang und dem Weg in den Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen, denn nur so können wir herausfinden, wie man Kriege künftig verhindert.
 

Top