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Neue Perspektiven auf Deutschland
Mehr als Grass

Deutschsprachiger Literatur heftet oft das Image an, eher sperrig und lang und von weißen Männern geschrieben zu sein. Gerade im Ausland sind die Schriftsteller, die, denkt man an Romane auf Deutsch, zuerst genannt werden, neben Goethe zumeist Günter Grass, Thomas Mann, Hermann Hesse. Und natürlich haben all diese Autoren ihre Berechtigung. Aber: Seit einigen Jahren wird auch deutschsprachiger Literatur jünger, diverser, migrantischer, queerer, aufmüpfiger. Wie zum Beispiel diese drei Bücher von Shida Bazyar, Dilek Güngör und Deniz Ohde, die aus ihrer Perspektive nicht-weißer Frauen auf Deutschland blicken.

Von Isabella Caldart

Buchcover Drei Kameradinnen Kiepenheuer & Witsch Shida Bazyar – Drei Kameradinnen (Kiepenheuer & Witsch, 2021)


Es ist Dienstag und der Anfang der Geschichte, oder nein, eigentlich fängt die Geschichte mit der Geburt der drei Freundinnen an, aber mit einem Tag muss Kasihs Bericht ja beginnen. Die Ich-Erzählerin in Shida Bazyars zweitem Roman „Drei Kameradinnen“ schreibt über eine schicksalhafte Woche, die in einer Katastrophe enden wird. Die Herkunftsländer der drei titelgebenden Kameradinnen Saya, Hani und Kasih verrät sie dabei nicht. „Ich sage euch dazu nichts. Da müsst ihr durch“, lautet Kasihs spöttischer Kommentar. Die outet sich übrigens als unzuverlässige Erzählerin, wie sie selbst thematisiert: „Seid froh, dass ihr nur meine Version kennt.“

Das Spannende an „Drei Kameradinnen“ ist nicht nur die Abwärtsspirale, die sie in dieser Woche erleben werden, sondern die Vielschichtigkeit ihrer Erfahrungen. Selbst Saya, sonst so sensibel, wenn es um Rassismus und soziale Ungleichheit geht, hat blinde Flecken: Denn anders als Kasih und Saya ist ihre Freundin Hani zwar weiß und wird deswegen als Deutsche wahrgenommen, aber sie ist diejenige, die nicht in Deutschland geboren wurde und sich deswegen als Einzige der Privilegien des „richtigen“ Passes bewusst. Shida Bazyars Roman ist voller Wut, eine Wut, die so vielfältig wie berechtigt ist. Inhaltlich bleibt er vielschichtig. Indem die Autorin es sogar wagt, eine Parallele im Aufwachsen von Kasih, Saya und Hana und Nazis einer Terrorgruppe zu ziehen, verweigert sich der Roman zu eindimensionalen Anklagen. „Drei Kameradinnen“ überzeugt mit der Komplexität seiner Geschichte und Figuren, hinsichtlich der Sprache und Motive und vor allem durch das Spiel mit Wahrheit und Schein. Selten wurde Wut so gekonnt literarisch verarbeitet.

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Buchcover Vater und ich Verbrecher Verlag Dilek Güngör – Vater und ich (Verbrecher Verlag, 2021)


Wann sie aufgehört haben, miteinander zu sprechen, weiß sie nicht genau. Warum, das weiß sie auch nicht. Ipek ist angesehene Journalistin, mit ihren Interviewpartner*innen redet sie ungezwungen, mit dem Nachbarn, mit der Mutter. Aber ihr Vater und sie bleiben stumm. Als ihre Mutter für ein paar Tage verreist, beschließt Ipek, von ihrer Wahlheimat Berlin zurück ins schwäbische Dorf zu fahren und die Zeit mit ihrem Vater zu verbringen, wohlwissend, dass das Schweigen möglicherweise unüberbrückbar ist, die Stille unangenehm sein könnte. Liegt das Schweigen daran, dass ihr Türkisch nicht so gut ist und sein Deutsch nicht? Liegt es daran, dass die Mutter immer so viel sprach und Worte zwischen Vater und Tochter überflüssig waren? Haben sie eigentlich noch nie viel geredet, aber eine gut funktionierende non-verbale Kommunikation gehabt, als Ipek noch klein genug war, dass kuscheln unter der Decke ging?

Dilek Güngörs „Vater und ich“ ist kein nostalgischer Text, kein sentimentaler – so kehrt Ipek nicht in die Wohnung ihrer Kindheit zurück, sondern in das Haus, das die Eltern nach ihrem Auszug kauften. Der Roman ist ein ruhiges Nachdenken über die Beziehung zum Vater, den Versuch einer Annäherung und die Überwindung der Scham, die Suche nach einer gemeinsamen Sprache und die langsame Akzeptanz, dass manche Brücken nicht geschlagen werden können, die Liebe aber trotzdem bleibt. Das geschieht auf wenigen Seiten, das Buch hat nicht mehr als 100. Aber manchmal reichen wenige Worte, um viel zu sagen.

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Buchcover Streulicht Suhrkamp Verlag Deniz Ohde – Streulicht (Suhrkamp Verlag, 2020)


Woran es lag, will der Rektor der Oberstufenschule wissen, es müsse doch etwas passiert sein. Aber es ist nichts passiert, oder vielleicht ist alles passiert, aber es gab kein singuläres, einschneidendes Erlebnis, das dazu führte, dass die Protagonistin in Deniz Ohdes Debüt „Streulicht“ wegen schlechten Noten von der Schule abgehen musste, und erst jetzt, nachdem sie mehr als ein Jahr lang die Abendschule besuchte, überhaupt die Chance hat, ihr Abitur nachzuholen. Eine Chance, die sie sich ganz allein aus eigener Kraft erarbeitet hat, während niemand in ihrem Umfeld an sie glaubte. Denn genau das ist es, was passiert ist: ein Leben voller Hürden, ein Leben voll antizipiertem Versagen, das von dem Mädchen internalisiert wurde. Und doch ist so viel Streben in ihr, dass es nur den Zuspruch einer einzigen Lehrerin braucht, die ihr Wesen und ihr Potential erkennt, um diesen Funken zu erwecken.

„Streulicht“ ist ein ganz besonderes Buch, weil es die Komplexe Rassismus und Klassismus verknüpft, wie es in deutschsprachiger Literatur bisher selten vorkam. Die Mutter von Ohdes Protagonistin migrierte als junge Frau aus der Türkei nach Deutschland, wo sie sich ein Leben mit mehr Freiheiten erhoffte, der Vater arbeitete jahrzehntelang im Industriepark, der den Alltag aller Menschen im Stadtteil prägt. Das Schöne an „Streulicht“: Deniz Ohde schreibt ohne pädagogischen Zeigefinger, ohne Agenda, es ist vielmehr ein fein strukturierter, unaufgeregt erzählter Roman mit sehr literarischer Sprache. Zurecht stand es auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020.

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