Dr. Matthias Müller-Wieferig
Kulturelle Institutionen und urbane Entwicklungs-
projekte

Fussgaenger
© Tanja Kanazir

Das Goethe-Institut hat vor ungefähr 10 Jahren erkannt, dass die Paradigmen der Architektur und Stadtplanung in Deutschland, Europa und der Welt sich verschieben: Vom (investorengetriebenen) Entwickeln und Bauen neuer Städte und Stadtteile findet ein Wandel hin zur Bewahrung und Neunutzung von alten Gebäuden, Industrieanlagen, von traditionsreichen Wohnsiedlungen oder der Wiederentdeckung von öffentlichen Plätzen. „Partizipative Architektur und Design“, die Moderation von Bürger- und Expertengesprächen gehören zum Berufsbild von Architekten und Urbanisten, und auch Künstler haben hier lokal und stadtteilbezogen oft eine neue Rolle gefunden. Bürgerbeteiligung und deren Organisation ist nicht ein „nice to have“ – es ist ein Muss. Großprojekte wie Stuttgart 21 oder auch der geplante Abriss und Neubau eines ganzen Hamburger Hafenstadt-Viertels hatten für Deutschland gezeigt: Ablehnung, Bürgerbegehren und langanhaltender Prozess führen unweigerlich zu kostspieligen Verzögerungen und städtebaulichen Fehlentwicklungen. Viele andere Metropolen haben ähnliche Erfahrungen gemacht.
 

Oftmals treffen in urbanen Prozessen ein gemeinsames, gemeinnützig orientiertes Interesse an der Erhaltung bestehender Strukturen und vorsichtigen Entwicklung von Zukunftspotential zusammen: Stadtpolitik und -verwaltungen sowie die Bürger der Stadt haben ein gemeinsames Interesse, den Verfall von Innenstädten oder stadtnaher Quartiere, die Entvölkerung ganzer Straßen und Stadtteile aufzuhalten oder eine Wiederbelebung in Gang zu setzen.
Allein, es fehlen mitunter die Ideen, die Erfahrungen, das Wissen um und Vertrauen in selbstorganisierte Prozesse „von unten“. Oft braucht es Mut und Geduld, den Wert von kulturellen Projekten zu entdecken, die sowohl sozial wie auch wirtschaftlich einen Neuanfang suchen. Man will ja nicht mit Abriss und tabula rasa beginnen, sondern mit dem Erkunden und Erforschen, Instandsetzen und Erhalten des Vorhandenen, des Vertrauten. Wo sind wir als Kinder entlang gegangen zur Schule, wer hat in den alten, jetzt baufälligen Häusern an der einstmals so belebten Straßenecke gewohnt? Wie war das damals, als die Fabrik am Fluss noch arbeitete und das ganze Leben des Stadtteils, Beruf, Alltag, Familie über Generationen bestimmt hat?
Architekten und Urbanisten, Künstler oder Aktivisten finden oft das Vertrauen, zu diesen wichtigen Fragestellungen  Ideen beizutragen, wie es weitergehen soll. Wenn es um die Wiederbelebung von Industriebrachen, die Entdeckung von Potenzialen städtebaulicher Erneuerungen geht, benötigt man mitunter einen anderen, einen kulturellen Blick. Frischer Wind entsteht durch ungewöhnliche Ideen aus vielen Richtungen, unterstützt von Experten des sozialen, künstlerischen und urbanen Wandels, die zivilgesellschaftliches Engagement und  partizipative Prozesse zwischen Bürgern und Experten moderieren. Diese „bottom up“-Prozesse erfordern oft die Umkehr von gewohnten Prozeduren – von der Politik, der Wirtschaft, den technischen Fachleuten oder Juristen oft „von oben“ verordneten Hierarchien.

Menschen im Raum © ©Tanja Kanazir MO (Mjesni odbor) HARTERA – KVARTERA ©Tanja Kanazir
Was konnte das Goethe-Institut dabei einbringen?


Rijeka 2020 hat ein neues Bürgerinteresse an Kultur und Austausch mobilisiert. Gerade die junge Generation hat das Kulturhauptstadtjahr als ihre Gelegenheit erkannt. Was für eine Chance für junge Leute, die eigene Stadt besser kennenzulernen und eigene Wünsche zu artikulieren, eine  lebenswerte Umwelt und zukunftsorientierte Stadtentwicklung zu fordern. Sie haben erkannt: Akteure des Wandels in Rijeka sind wir selbst, es gibt Raum für eigene Initiativen und Ideen, wir machen unsere Stadt selbst. Dazu brauchen wir Allianzen mit anderen Bürgern, den Nachbarn und Bewohnern, wir brauchen den Austausch vor Ort und zusätzlich weit über lokale Grenzen hinaus.
Internationale Impulse und Ideen, neue Ansätze und Netzwerke sollte das Kulturhauptstadtjahr nach Rijeka bringen. Gleichzeitig wollte die lebendige, offene Hafenstadt die Aufmerksamkeit der europäischen und globalen Öffentlichkeit auf sich lenken. Das Goethe-Institut konnte eigene Projekterfahrungen einbringen, um diese Zielsetzung zu unterstützen. Das weltumspannende Schwerpunktprojekt WELTSTADT – WHO CREATES THE CITY“ von 2012 bis 2015  zum Beispiel war eine solche lokale und gleichzeitig globale Lernerfahrung für das Goethe-Institut. Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit von deutschen, internationalen und lokalen Partnern in 16 Städten war die Idee, die Vielfalt der lokalen „Stadtwelten" genauso ins Auge zu fassen wie die globalen Fragen der „Weltstädte“. Beteiligt waren 16 Metropolen von Bangalore bis Belgrad, von Madrid, New York und Sao Paolo bis Seoul, Toulouse und Ulan Bator.
 

Wie kam es zur Zusammenarbeit in Rijeka?

Das Goethe-Institut Kroatien wurde bereits im Vorfeld der Kulturhauptstadt 2020 sowohl von der Stadt, dem Kulturhauptstadtbüro, der Universität Rijeka wie auch von Kulturpartnern der Stadt eingeladen, sich an der Entwicklung von kulturellen Programmen zu beteiligen und eigene Ideen einzubringen. So sollten internationale Beiträge, vor allem auch repräsentative Konzerte, Gastspiele oder künstlerische Prominenz aus Europa und der Welt nach Rijeka gebracht werden.
Das Goethe-Institut entwickelte einen ganz anderen Projektvorschlag. In vielen Gesprächen mit Bürgermeister, Kulturdezernent der Stadt, der Rektorin der Universität, den künstlerischen Verantwortlichen von DELTA LAB, des Museums für Zeitgenössische Kunst, entstand ein gemeinsames Verständnis für ein urbanes Projekt zur Förderung von Bürgerbeteiligung und Partizipation: Das Goethe-Institut steuert aus seinem Netzwerk deutscher Institutionen, Fachleute, „urbanen“ Kuratorinnen und stadtteilbezogenen Initiativen ein eigenes Projekt bei. Es entwickelt Konzepte mit den lokalen Akteuren vor Ort, unterstützt den Zusammenschluss bereits bestehender Initiativen aus Kunst, Kultur, Ökologie und Soziales. Gemeinsam entsteht ein neuer Freiraum in der Stadt für offene Experimente, neue Formen der Zusammenarbeit. Dazu versucht das Goethe-Institut, international und besonders in Deutschland geeignete Partner für die lokalen Akteure zu finden: in vergleichbaren Stadtteil-Projekten entstandene und erprobte Methoden, die auch in Rijeka von stadtteilbezogenen Initiativen als relevant für eigenes Engagement eingeschätzt werden; die sich anpassen, weiterentwickeln und so „lokalisieren“ lassen. Ganz nahe entlang der Zielsetzung von Rijeka 2020 und seinem urbanen Schwerpunkt-Kapitel „Sweet&Salt“ entstanden so die Konturen von MO HARTERA.
Die Goethe-Institut in Südosteuropa und Kroatien (ACTOPOLIS oder FREI_RAUM) verfolgen. auch in den drei weiteren europäischen Kulturhauptstadt-Programmen der Jahre 2019-2022 in Südosteuropa ähnliche Projektansätze:  Plovdiv 2019 (BUL), 2021 Timişoara (Rumänien), Elefsina (Griechenland) und Novi Sad (Serbien, Kandidatenland). Eigenständig, erfahrungsbasiert und deutschlandbezogen sollten  die Beteiligungen sein – und völlig unterschiedlich, je nach den Bedingungen und Bedürfnissen vor Ort.
Es war sicherlich  nicht nur das Ergebnis einer klaren Konzeption und bereits bestehender Erfahrungen, sondern ein besonderer Glücksfall, dass das Goethe-Institut für Rijeka 2020 eine vielleicht perfekte Partner-Konstellation initiieren konnte: DeltaLab und MO HARTERA  als lokale Akteure trafen sich mit dem Zentrum für Kultur und Urbanistik Berlin und einem erfahrenen Projektteam  von CityToolBox. Ein sozio-kulturelles Stadtteil-Zentrum aus Berlin-Moabit arbeitet zusammen mit international erfahrenen  Architekten und Urbanisten aus Maribor/Slovenien. Ihre Recherche in Rijeka, Ideen und Wissen um urbane Prozesse finden auch in Rijeka große Unterstützung, Beteiligung und Aufmerksamkeit.

 
Wer macht die Statd? – Who Creates the City?


Das Engagement für den Stadtteil Školjić und die Schlucht nahe dem Stadtzentrum von Rijeka war das Resultat dieser fruchtbaren Begegnungen. Gemeinsam haben die Teams aus Berlin, Maribor und Rijeka nach dem kick-off Ende 2018 Topographie und Geschichte, Bestand und kulturelle Hintergründe, Aktionsformen und Potenzial dieser städtischen Zone erkundet. Logistische, organisatorische und planerische Prozesse wurden durch den internationalen Austausch in Bewegung gesetzt.  Es wurden Absprachen und Vereinbarungen abgeschlossen, damit die Projektakteure genügend Raum hatten zur Entwicklung ihrer eigenen Ideen -  zur neuen, gemeinschaftlichen Nutzung von öffentlichen Räumen und leerstehenden Gebäudekomplexen, Nischen und Ruinen. Und im Mittelpunkt des Interesses: die stillgelegte Papierfabrik HATERA. 
Eine vibrierende Szene von lokalen Initiativen hat sich nach den Zusagen von den lokalen Entscheidungsträgern die Schlucht und ihr industrielles Erbe, ihre Geschichte und ihr Potenzial „zu eigen“ gemacht. Die vielen Interventionen und Aktionen haben eine neue Aufmerksamkeit für diesen stadtnahen, aber vernachlässigten Stadtteil auf immer wieder neue, überraschende Art belebt und genutzt.
 

Was bleibt – wie geht´s weiter?


Ziel eines kulturellen Projektes ist nicht, Planungen für Infrastruktur, Technik oder Verkehr zu übernehmen, gar selbst zu  bauen. Ziel eines kulturellen, immer auch temporären Projektes ist es, „mentale Räume“ zu initiieren, neue Freiräume zu entdecken, die neuen Akteure ihrer eigenen Stadt mit der Politik zusammenzubringen. Ein erhöhtes Bewusstsein für die Bedeutung von Kultur in urbanen Räumen und ein neues Wissen um kulturelle  und urbane Zusammenhänge führen so nicht nur zu Anregungen für die Politik und zukünftige Stadtteilentwicklung, sondern zu einer neuen Basis für Austausch und Verständigung in Europa.
Neue Netzwerke und sozio-kultureller Austausch, die Vermittlung von Akteuren vor Ort mit denen an anderen Orten – in Deutschland, Europa und der Welt – diese Aufgaben gehören zu den Kernaufgaben des Goethe-Instituts und seiner kulturellen wie auch zivilgesellschaftlichen Zielsetzungen. (MO) HARTERA ist ein Laboratorium für ziviles Engagement in Rijeka geworden, für die Aktivierung von Bürgern und die Vermittlung von soft skills der kulturellen, zivilen und politischen Teilhabe. Das Goethe-Institut Kroatien beteiligt sich auch 2021 an der Weiterentwicklung dieser nachhaltigen Strategien und fördert weitere Aktionen sowie den internationalen Wissensaustausch.
 
 
 

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