Kerstin Eckstein
Ethnologin
Künstlerische Prozesse

Weltenwechsel. Das wache Auge reist mit nach Kyoto und steht nicht still. Wann hört Grün auf und wann fängt Blau an?* In Japan springen Ampeln von Orange auf eine uns unvertraute ins Türkis gehende Zwischenfarbe.
 Im Gepäck befinden sich künstlerische Vorhaben; am heimatlichen Schreibtisch konzipiert und noch ergebnisoffen. Viele lose Fäden – an was werden sie anknüpfen können, auf wen werden sie treffen? Werden sie sich am Ende verweben lassen und welche Muster werden entstehen?

Erste Ortsbegehungen, Erkundungen und Erkundigungen; manchmal auch Einsamkeit, so als würde eine noch leere Seite in einem Buch aufgeschlagen. Bei einem Spaziergang im Nebel tröstet das Licht der Laternen am Kamogawa-Fluss unerwartet beim »Zurückgeworfen-sein« auf sich selbst.

Das Wissen, keinem Produktionszwang unterworfen zu sein, entschleunigt und befreit. Die Lust auf ein künstlerisches Ergebnis bleibt dennoch groß. Das Auge selektiert zunehmend und wählt aus: Ein zufälliger Flohmarktfund, ein nie gekanntes, ausgedientes Instrument verführt zur genaueren Betrachtung und wird zum Mitspieler im künstlerischen Vorhaben – Japan trifft Deutschland.

Noch mehr auf Tuchfühlung gehen mit dem Ort und den Menschen, die hier leben. Ein Paar in Kyoto erworbene, mit schönem Muster verzierte leichte Schuhe erzählt die Geschichte einer sich in immer größeren Kreisen ereignenden Stadterschließung, und löst sich später im Regen auf. Die Installation im öffentlichen Raum gelingt hier nicht, weil der Ort andere Vorgaben macht als in Deutschland. Wer das Austesten kulturell fremder Räume als eine dialogische Annäherung versteht, entdeckt trotzdem weiter und lässt los. Eine Lichtinstallation im halböffentlichen Raum eines Mausoleums wird möglich.

Menschen begegnen sich; auch unerwartet: Eine in Kyoto lebende japanische Musikerin erkennt auf einem Programmplakat der Villa Kamogawa einen ihr vertrauten deutschen Veranstaltungsort wieder und schreibt der Stipendiatin. Das erste gemeinsame Treffen dauert vier Stunden. In der Fremde entsteht Vertrautheit durch das Interesse an gemeinsamen künstlerischen Fragestellungen. In der Strenge der Notation einer Feuerwerkspartitur, die dennoch die Möglichkeit bereit hält, auf sie musikalisch frei zu reagieren, erkennen sich beide Künstlerinnen wieder. Aus einer ersten Zusammenarbeit im Open Studio entstehen weitere Kooperationen und schließlich Netzwerke.

Das eigene künstlerische Schaffen in Japan wird Teil eines großen Webbildes, dessen Textur über die persönliche Karriere hinausgeht, Verbindungen herstellt, Abzweigungen einschließt und Gemeinsamkeiten in vorausgegangenen und zukünftigen Vorhaben deutlich werden lässt. Sie werden weitergesponnen; analog wie digital und dicht im Austausch.

Das wache Auge ist zurück in der Heimat. Das temporäre Verlassen von Sehgewohnheiten schwingt nach: Auf Orange folgt Grün.



*Diese Frage warf die Künstlerin Lea Letzel anlässlich der Gespräche mit Künstler:innen der Villa Kamogawa auf. Im Rahmen der 10-Jahre Villa Kamogawa wurde Frau Eckstein mit einer Evaluation der künstlerischen Prozesse der Stipendiat*innen beauftragt, die in einem gesonderten Format erscheinen wird. Mit Dank an Lea Letzel, Tobias Daemgen und Simon Rummel für ihre Einblicke, auf dessen Grundlage dieser Text entstanden ist. Teil der Gespräche war auch die Einladung an die Künstler*innen, diese Prozesse zu visualisieren.

 


 

Japanische Übersetzung: Kazuko Kurahara

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