Dr. Michael Hirschbichler
Kurator der Ausstellung, Künstler und Architekt
Einführung in die „Verbindungsstücke”

Künstlerresidenzen ermöglichen Erfahrungen jenseits des vertrauten eigenen Umfelds. Dabei erweisen sich diese Erfahrungen als etwas, das man sich im wörtlichen Sinn er-fahren (bzw. er-laufen, er-fliegen oder sonst wie er-reisen) muss. Sie erfordern, dass wir uns aufmachen und uns noch unbekannten Situationen und Einflüssen aussetzen und in der Auseinandersetzung mit dem Anderen selbst andere werden. In dieser Hinsicht prägen sie unsere Biografien – und dies nicht nur auf dem Papier –, indem sie sich auf unser Wahrnehmen, Empfinden, Denken und Handeln auswirken.

Unsere Biografien sind eng verflochten mit den Dingen, in denen bzw. anhand derer sich bestimmte Erfahrungen verdichten. In der Materiellen Kultur ist häufig von »Objektbiografien« die Rede, so als ob auch Gegenstände ein Leben führten, das untrennbar mit unserem eigenen verbunden ist. Insbesondere als Künstler und Künstlerinnen schaffen wir Werke, die im Gegenzug auch uns erschaffen. Doch neben Kunstwerken können auch verschiedene der zahllosen Dinge, mit denen wir alltäglich zu tun haben, aus dem ein oder anderen Grund bedeutungsvoll werden – als Fundstücke oder Erinnerungsstücke, als Gegenstände, die einen bestimmten Eindruck bewahren oder hervorrufen, ein Gefühl, eine Stimmung, ein Verhältnis etc.

Im Zentrum der Ausstellung Verbindungsstücke – つなぐモノ語り, die anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Residenzprogramms der Villa Kamogawa in Kyoto, in Berlin sowie im digitalen Raum stattfindet, stehen solche Dinge. Sie begründen oder vermitteln Sinn und Beziehungen und verknüpfen kulturelle Erfahrungen und Zugänge, persönliches Erleben und künstlerische Arbeit, Personen und Institutionen, Situationen und Begebenheiten miteinander.

Diese Verbindungsstücke lassen sich in einem Zwischenbereich verorten. Wie vor allem der japanische Ausstellungstitel つなぐモノ語り Tsunagu Mono Gatari zum Ausdruck bringt, existieren sie zum einen zwischen dem Materiellen, Dinghaften und dem Erzählten. Wenn man den Titel in seine Bestandteile zerlegt, bedeutet つなぐ »verbinden«, モノ »Ding« oder »Stück« und 語り »Narration« bzw. »Erzählung«. Uns interessiert also der Zusammenhang von physischen und inhaltlichen Verbindungen, jedweder Stoff, aus dem sich die Erzählungen der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Villa Kamogawa begreifen lassen.

Zum anderen entspringen die gezeigten Stücke dem Raum zwischen Alltag und Kunst. »Kunst lebt, wo Künstler*innen leben« – so lautet das Motto des Residenzprogramms der Villa Kamogawa. Hierdurch wird der vielbeschworene Zusammenhang von Kunst und Leben auf den Punkt gebracht und den Einflüssen der Orte Rechnung getragen, an denen dieses Leben stattfindet. Kunst ist nichts, was vom Himmel fällt – oder was aus einem luftleeren Raum heraus plötzlich auftaucht –, sondern das (mitunter vorläufige) Resultat von Prozessen, in denen alltägliche und außeralltägliche Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen, Ängste und Freuden sich verwickeln und sich in verdichteter Form niederschlagen. Indem sie sich zahllosen Einflüssen ausgesetzt sieht und diese in sich vereinigen will, ist Kunst immer ein relationales Konstrukt.

Diese Relationalität wird im Fall von Künstlerresidenzen besonders deutlich, da diese Raum bieten, um unterschiedliche kulturelle Umgebungen miteinander zu verhandeln und zu verknüpfen – solche verschiedener geografischer Räume, Lebens- und Arbeitsumfelder, sozialer Milieus, hohe und populäre etc.

Die »Verbindungsstücke« verdienen somit einen ethnologischen Blick, der sich auf die zahlreichen persönlichen und kulturellen Verwicklungen richtet, in die sie eingebunden sind. Auch wenn Dinge strenggenommen weder sprechen noch handeln, können sie zum Sprechen und Handeln Anlass geben. Einen solchen Anlass möchte die Ausstellung bieten und dazu anregen, anhand der gezeigten Stücke diesen Zwischenraum zwischen Material und Erzählung, zwischen Alltag und Kunst sowie zwischen kulturellen Positionen zu erkunden. Die Objekte laden dabei dazu ein, sich selbst ein Bild zu machen und verstreute Erzählungsfäden in eigenen Geschichten weiterzuführen.


 

Japanische Übersetzung: Kazuko Kurahara