Lilian Peter an Yui Tanizaki
Berlin, 27. Juni 2020

Lilian Peter an Yui Tanizaki, Berlin, 27. Juni 2020
 


Liebe Yui,
 
ein Blick durch das Fenster vor meinem Schreibtisch, ein leise vom Wind bewegtes Bild: die Pflanzen auf meinem Balkon, ein paar Tomaten, die schon Früchte tragen, noch grün, blühender Oleander, Fenchel, beinah zwei Meter hoch; dann die Äste einer alten Platane, sie muss weit über hundert Jahre alt sein, ihr Gipfel überragt den vierten Stock, in dem ich wohne, noch bei weitem; dann ein Stück Himmel, blau, nur an wenigen Stellen weiß wattiert: Es ist noch hell, aber gleich wird die Dämmerung einsetzen. Von der Straße kommt tagsüber immer Geräusch, zeitweise ist sie auch stark befahren; erst abends wird es stiller, dann kann ich das Rauschen der Bäume hören und das Gezwitscher der Vögel, in der Dämmerung sehe ich manchmal auch Fledermäuse mit ihren schnellen, merkwürdig sturzhaften Flugbewegungen. Es wird dunkler, eine halbe Stunde ist vergangen, seit ich angefangen habe, diesen Brief zu schreiben, die Dämmerung ist für mich oft die beste Zeit, um etwas anzufangen, insbesondere dann, wenn ich nicht genau weiß, was ich schreiben will oder schreiben werde, der Tag hat mich dann nicht mehr so im Griff, oder vielleicht ist es auch umgekehrt, und ich versuche dann nicht mehr so sehr, den Tag im Griff zu haben, griffloser heißt für mich auch unbeobachteter, ich kann überhaupt nicht schreiben, wenn ich mich beobachtet fühle, ich kann eigentlich gar nichts, wenn ich mich beobachtet fühle, dann wird alles fest und kalt und stumm, wie eine Eiszeit, die über mich und die Dinge kommt, über mich und die Wörter: und alles gefriert.  
 
Vor einigen Jahren gab es in Berlin einen extrem heißen und extrem trockenen Sommer, mein Balkon war voll mit Tomatenpflanzen; ich hatte das erste Mal Tomaten gepflanzt und wusste nicht, auf welche Weise, mit welcher Schnelligkeit und in welche Höhe sie wachsen können. Sie wuchsen so schnell und wurden so groß, dass ich Fenster und Tür bald nicht mehr richtig schließen konnte, sie wucherten ins Zimmer hinein, und jeden Tag war ich eine, manchmal auch zwei Stunden lang damit beschäftigt, sie zu gießen, zu pflegen, an ihre Stöcke zu binden, und irgendwann auch damit, zu ernten und zu essen, die Früchte wurden teilweise sehr groß und schmeckten sehr gut, aber es waren so viele, dass ich ständig Tomaten essen musste, morgens, mittags, abends. Jetzt habe ich nicht so viele Tomatenpflanzen, nur wenige, und ich bilde mir ein, dass sie besser wachsen können, wenn sie nicht direkt unter Beobachtung stehen, das heißt: wenn ihre Früchte nicht direkt dem Sonnen- und Tageslicht ausgesetzt sind, manche der Pflanzen wachsen einzeln in ihrem eigenen Topf, sie sind noch klein und karg, haben nur wenige Blätter und höchstens zwei Früchte; drei Pflanzen habe ich aber in einen größeren Topf zusammengepflanzt, sie bilden einen üppigen Busch, unter dessen zahlreichen Blättern sie zahlreiche Früchte verstecken, nur einmal habe ich die Blätter ein wenig beiseite geschoben und kurz nachgeguckt, was sich darunter verbirgt, jetzt werde ich sie vorerst nicht mehr belästigen, bis zur Ernte lasse ich sie jetzt allein.
 
Liebe Yui, nachdem wir uns in Kyoto getroffen haben vor mehr als einem Jahr, bin ich noch drei Wochen durch Japan gereist, kreuz und quer, bis ganz in den Süden nach Kagoshima, und beim Schreiben dieses Briefes fällt mir auf: In den Japan-Bildern in meinem Kopf kommen immer Pflanzen vor, was einerseits vielleicht damit zu tun hat, dass die Pflanzen in Japan so anders aussehen als in Europa, aber andererseits sind ja Erinnerungsbilder selbst auch wie Pflanzen, sie wollen gegossen und genährt werden, können aber nicht leben, wenn man sie zu sehr festzuhalten und zu beobachten versucht, und das ist eine Frage, die mich umtreibt: Wie schreibt sich Erinnerung, inwiefern ist Schreiben Erinnerung, und ist Erinnerung so etwas wie eine Landschaft, in der Pflanzen wachsen, aber unter welchen Bedingungen? Kann man diese Landschaft bereisen oder bereist sie einen, und wenn letzteres, wird man dann selbst zur Landschaft, zur Pflanze...? Welcher Art ist die Verwandtschaft zwischen Erinnerung und Körper, Schreiben und Körper, Körper und Landschaft – Körper, insbesondere gedacht als weiblicher Körper? Heute morgen war ich an der Spree, die ganz in der Nähe meiner Wohnung ist; jetzt gerade bin ich am Kamogawa-Fluss in Kyoto und laufe hinein in das Bergpanorama am Rande der Stadt, ich stelle mir vor, dass Du vielleicht auch gerade dort entlangläufst, aber ja, denke ich, jetzt, wo ich diesen Satz schreibe, jetzt, wo Du diesen Satz liest, Du bist sicher auch dort, kurz zumindest,
für einen Moment
            zumindest,
                        es winkt also und grüßt
       Dich in Vorfreude, von Dir zu hören:
 
 
Deine Lilian


 

Japanische Übersetzung: Miho Matsunaga